Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard KiplingЧитать онлайн книгу.
behutsam in eine der vielen Felsengrotten, in denen das Wasser ganz seicht war; die Wellen brachen sich an den Klippen und kamen zischend mit ihrem schneeweißen Schaum herbei, als ob sie etwas Großes ausrichten wollten, sie hatten aber nur noch soviel Kraft, Kotick für einen Augenblick hochzuheben. Es war eine Lust, in ihnen umherzuplanschen, und bei all dem Vergnügen vergaß Kotick nicht, scharfen Auslug auf das Meer zu halten, damit nicht plötzlich eine mächtige Welle ihn überraschte und hinwegschwemmte. Hatte er sich müde geplanscht, so kroch er auf den gelben Sand, machte ein Schläfchen und sprang wieder in die Wellen.
Endlich fühlte er sich im Wasser ganz und gar heimisch, und nun erst begann ein wahrhaft herrliches Leben. Jetzt fürchtete er die brausenden Wogen nicht mehr; er sprang mit seinen Kameraden mitten in den Gischt hinein und lachte, wenn die Wellen brüllten, als kämen sie, ihn und seine Genossen zu verschlingen. Und wie herrlich war es, oben, ganz oben auf dem weißen Kamm einer Welle pfeilschnell herbeizuschießen und dann mitten in all dem Schaum und Getöse hoch auf dem glitzernden Strande zu landen. Manchmal spielte er mit seinen Freunden »Ich bin der König im Schloß« – da ging's denn wie im Sturme über die schlüpfrigen, algenbewachsenen Felsen, durch die Luft ins Meer und wieder heraus auf die Klippen. Manchmal sah er dicht an der Küste eine lange Finnflosse aus dem Wasser hervorragen – das war Seemörder, der Haifisch, der gern junge Robben zu Mittag verspeist... das heißt, wenn er sie fangen kann. Dann flüchtete Kotick mit seinen Genossen schnell wie der Blitz in das seichte Wasser, und Seemörder ruderte langsam davon, als hätte er sich's niemals träumen lassen, an die jungen Robben zu denken!
Spät im Oktober begannen die Robben, St. Paul zu verlassen und familienweise oder in zahlreichen Herden in die weite See hinauszuwandern. Das Kämpfen und Zanken um die Heimplätze hatte aufgehört, und die Holluschickie spielten jetzt überall umher, wo es ihnen beliebte. »Nächstes Jahr«, sagte Matka zu Kotick, »wirst du ein Holluschickie sein, aber vorläufig mußt du lernen, wie man auf Fischfang geht.«
Und dann machte sich auch Scharfzahn mit Weib und Sohn auf die weite, weite Reise quer über den Stillen Ozean. Matka zeigte ihrem Jungen, wie er auf dem Rücken schlafen konnte, die Füße sachte an den Bauch gelegt und mit der kleinen Nase gerade aus dem Wasser. Es gibt keine Wiege, in der es sich so urgemütlich träumen läßt wie auf dem Kamme einer mächtigen Woge im Ozean. – Als Kotick zum erstenmal über der ganzen Haut ein sonderbares Kribbeln fühlte, sagte ihm seine Mutter, daß er nun eine »Sturmhaut« bekomme und daß das prickelnde Gefühl unter dem Felle böses Wetter bedeute. »In solchem Falle mußt du machen, daß du so schnell wie möglich davonkommst. Übrigens«, setzte sie hinzu, »du kannst vorläufig nichts Besseres tun, als blindlings dem alten Seeschwein zu folgen, denn es ist sehr weise und kennt sich aus wie kein anderer. Bald wirst du klug genug sein, deinen eigenen Weg zu finden.« Bald darauf jagte eine Schar von Schweinsfischen springend und tauchend durch das Wasser. »Hallo!« keuchte Kotick, ihnen nacheilend. »Woher wißt ihr die Richtung, in der ihr gehen müßt?«
Der Leiter der Herde tauchte unter. Als er wieder hervorkam, war er weit entfernt, aber Kotick war im Augenblick an seiner Seite. »Wohl getan, Kleiner!« rief er, die weißen Augen rollend. »Ich fühle ein Kribbeln in der Schwanzflosse, das bedeutet, daß Sturm hinter uns kommt. Bist du aber südlich vom heißen Wasser (er meinte den Äquator), dann bedeutet das Kitzeln in der Flosse einen Sturm von Norden. Komm mit uns! Es steht hier schlimm mit dem Wasser.«
Dies war eines von den vielen Dingen, die Kotick lernen mußte, und immerzu lernte er Neues. Matka lehrte ihn, dem Dorsch nachzustellen und dem Heilbutt unter die Klippen zu folgen und allerlei Einsiedler aus ihren Schlupfwinkeln in dichtverschlungenen Seegewächsen hervorzuholen; sie zeigte ihm, wie man geräuschlos an den versunkenen Schiffen hundert Fuß unter dem Meeresspiegel entlang gleitet, um dann plötzlich wie eine Kanonenkugel durch die eine Luke hineinzuschießen, mitten unter die ahnungslosen Fische, und aus der anderen wieder hinaus.
Sie lehrte ihn tanzen auf dem Kamm der Wogen, wenn Blitze über den Himmel zuckten; wie man mit der Flossenhand den stumpfschwänzigen Albatros höflich grüßte und den Kriegsfalken, wenn sie im Winde über das Meer segelten; wie man, gleich dem Delphin, vier bis fünf Fuß hoch über das Wasser springt, Padden fest angelegt und Schwanzflosse hochgestellt; daß man die fliegenden Fische in Ruhe läßt, weil sie nur Haut und Gräten sind; wie man tief unten im Wasser einen großen Fisch pfeilschnell anrennen und ihm ein mächtiges Stück aus der Schulter beißen kann; und daß man vor allem niemals anhält, wenn man ein Boot oder Schiff erblickt, besonders sich aber vor einem Ruderboot hütet. Als sechs Monate vergangen waren, wußte Kotick von der Jagd im Meere alles, was des Wissens wert war, und während dieser ganzen, langen Zeit fühlte er kein festes Land unter den Füßen.
Eines Tages schaukelte er sich schläfrig im warmen Wasser nahe der Insel Juan Fernandez; er fühlte sich matt und unruhig, ganz so, wie es den jungen Menschen geht, wenn der Frühling kommt. Da dachte er an den prächtigen festen Strand in der Bucht von Novastoschna, siebentausend Meilen entfernt; er sehnte sich zurück nach den lustigen Spielen mit seinen Kameraden und nach dem Dufte des Seetangs, nach dem Lärm und all dem Getümmel. Ganz unwillkürlich schlug er die nördliche Richtung ein; er ruderte und ruderte, und plötzlich sah er ganze Scharen seiner alten Spielfreunde, alle mit der Nase nach Norden.
»Hallo! Da bist du ja, Kotick!« riefen sie ihm zu. »Hurra! Dieses Jahr sind wir alle Holluschickie, und wir können den Feuertanz tanzen, in den Brechern von Lukannon und spielen auf dem jungen Gras. Aber, Kotick, wo hast du denn dein sonderbares Kleid her?«
Koticks Pelz war nun beinahe so weiß wie frisch gefallener Schnee, und obwohl er sehr stolz darauf war, sagte er ärgerlich: »Vorwärts! Laßt die dummen Fragen! Der Frühling steckt mir in den Knochen!« Und wieder schwammen sie, schwammen immer nach Norden. So kamen sie nach dem Strand ihrer Geburt und hörten schon von weitem das Kampfgebraus ihrer Väter in dem wallenden, brauenden Nebel.
In der folgenden Nacht tanzte Kotick mit den Jünglingen den Feuertanz. Das Meer auf der ganzen Strecke von Novastoschna bis Lukannon ist nämlich voll von Feuer, das in den Nächten auf den Kämmen der Wellen aufleuchtet und im Mondeslicht seltsam glüht. Und wenn die Robben sich im Wasser umherbalgen oder blitzschnell dahinschießen, lassen sie eine feurige Furche hinter sich, die sich mit glühenden Grenzlinien zitternd schließt und allmählich erlischt, bis plötzlich neue Feuerstreifen sie in anderer Richtung durchkreuzen. Als sich die jungen Robben müde getanzt hatten, zogen sie nach den Dünen des Inlands, wälzten sich behaglich im frischgrünen Seegrase und erzählten sich Geschichten, was sie alles draußen auf dem Meer erlebt und getan hatten. Sie sprachen von dem Stillen Ozean ungefähr in derselben Weise, in der sich Knaben von einem Walde unterhalten, in dem sie Vogelnester ausgenommen und Nüsse von den Bäumen geschüttelt haben. Die einjährigen Jungen glaubten natürlich, daß sie das Meer in- und auswendig kannten, und als sie gar zu weise Mienen machten, sprangen die vierjährigen Holluschickie ärgerlich unter sie und trieben sie auseinander, indem sie höhnend bellten: »Aus dem Wege, ihr milchzähnigen Austernfresser! Das Meer ist tief genug, um euch alle darin zu ersäufen. Was wißt ihr denn davon. Wartet nur, bis ihr erst um das Kap Hoorn herumgekommen seid! Dann könnt ihr reden, ihr Gelbnasen! He, du da, Jährling, wo hast du denn deinen weißen Rock gestohlen?«
»Ich habe ihn nicht gestohlen, er ist mir gewachsen«, antwortete Kotick höchst würdevoll und schickte sich an, über den naseweisen Frager herzufallen. Da sah er plötzlich ein paar schwarzhaarige Gestalten, mit flachen rötlichen Gesichtern hinter einem kleinen Sandhügel auftauchen. Kotick, der noch nie einen Menschen gesehen hatte, begann zu bellen und mit gesenktem Kopfe laut vor sich hin zu blasen. Die anderen Holluschickie krochen ein paar Schritte fort und starrten mit blöden Augen auf die Ankömmlinge. Diese waren niemand anders als Kerick Booterin, der Vormann der Robbenfänger auf der Insel, und Patalamon, sein Sohn. Sie kamen von der kleinen Niederlassung, die kaum eine halbe Meile entfernt war, um zu entscheiden, welche Robben zum Schlachtplatz getrieben werden sollten – denn man treibt die Robben ganz wie Schafe zur Schlächterei.
»Sieh doch nur«, rief Patalamon, »da ist ja eine weiße Robbe!«
Kerick Booterin wurde aschgrau in seinem von Rauch und Öl bedeckten Gesicht, denn er war ein Aleute, und Aleuten sind kein sauberes Volk. Er begann ein kurzes Gebet zu murmeln und sagte dann: »Rühr ihn nicht an, Patalamon.