Die Schlangentrommel. Ole R. BörgdahlЧитать онлайн книгу.
Fond in ein mannshohes Gebüsch, verschwand dort fast vollständig. Der letzte Ruck schleuderte Rin Muras Brust gegen das Lenkrad. Sein linkes Handgelenk wurde eingeklemmt und überdehnt. Der Schmerz zog sich bis zum Ellenbogen hoch. Er konnte die Hand nicht bewegen, drückte sich mit der Rechten ab. Mit der Schulter stützte er sich auf dem Lenkrad. Er musste raus aus dem Wagen. Mit der unverletzten Hand tastete er nach dem Türgriff. Mit zwei Fingern zog er den Hebel und ließ sich gleichzeitig gegen die Fahrertür fallen. Er atmete noch einmal durch, wuchtete seinen Körper nach oben und schaffte es mit einem Fuß auszusteigen.
Mit der rechten Hand zog er sich ganz aus dem Wagen. Das Gebüsch war dicht. Er kämpfte sich vorwärts, drückte das Blattwerk auseinander. Der Boden war immer noch abschüssig. Rin Mura folgte dem Gefälle, schob die rechte Schulter heftig voran, bis das Dickicht nachgab. Er befreite sich schließlich und taumelte auf die Ebene, die sich hinter der Barriere aus Bäumen und Sträuchern ausbreitete. Er verlor das Gleichgewicht, fiel auf die Knie und spürte sofort die Feuchte des Bodens. Seine Hosen wurden durchnässt. Er rappelte sich wieder auf, sah sich um.
Er wusste sofort, wo er war. Die Grasebene und der umgebende Sumpf waren vor einigen Jahren Kampfgebiet. Die Grenze nach Thailand wurde während des Rückzugs zur Todeszone. Rin Mura ging vorsichtig weiter. Nach gut hundert Metern hatte er den Rand erreicht. Er fand sofort, wo nach er suchte. Er hatte recht. Er sah auf, überblickte das Gelände. Das Muster hatte er noch im Kopf. Es war immer das Gleiche, variierte nur leicht und war für jeden, der es nicht kannte, tödlich. Mit den Augen suchte Rin Mura einen Weg. Seine ersten Schritte waren noch vorsichtig, dann hatte er Sicherheit, denn er sah sie und sein Wissen wurde bestätigt. Jetzt beeilte er sich die Grasebene zu überqueren. Er blieb noch einmal stehen, blickte sich nach seinen Verfolgern um. Durch die Bäume hindurch konnte er oben auf der Böschung eine Bewegung wahrnehmen. Es wurde Zeit zu verschwinden.
*
Arun und Nhean hatten ihre Leute zusammengezogen. Eine Wache blieb bei den Gefangenen am Pritschenwagen. Mit den übrigen sechs Männern waren sie bis zur Kante der Böschung gerannt. Die aufgerissene Erde verriet, welchen Weg der Toyota Hilux in den Abgrund genommen hatte. Das Fahrzeug selbst war unten in der Senke nicht mehr zu sehen. Arun gab Befehle. Sie begannen den Abstieg. Nhean hatte den Baumwollsack geschultert, der sich auf seinem Rücken wölbte. Sie gingen neben der Schleifspur. Einige der Männer rutschten aus, schlitterten ein paar Meter, bis sie an Bäumen und Sträuchern Halt fanden.
Weiter unten wurde der Boden noch schlammiger. Sie mussten sich einen anderen Weg suchen, bewegten sich seitlich auf die Stelle zu, an der sie den Geländewagen vermuteten. Und dann sahen sie ihn. Der weiße Lack schimmerte durch das Grün der Blätter. Arun gab Zeichen, die Gruppe teilte sich. Drei Mann stiegen noch ein Stück weiter nach unten, mühten sich durch das Dickicht. Sie sollten das Gelände unten sichern. Arun selbst kämpfte sich zum Heck vor. Er drückte einige Zweige zur Seite.
Nhean war ihm gefolgt und stemmte sich in die Bresche, damit Arun dichter an den Wagen herankam. Arun versuchte durch die zerschossene Heckscheibe etwas im Inneren des Wagens zu erkennen. In diesem Moment riefen die Männer, die weiter nach unten gestiegen waren. Arun hatte es selbst schon gesehen. Die Fahrertür war geöffnet, der Toyota leer. Arun schob sich seitlich bis zur Tür, zwängte sich an einem Baumstamm vorbei. Am Waldboden konnte er Schuhabdrücke erkennen. Die Spur schlängelte sich durch das Gestrüpp. Arun ging ihr hinterher, gefolgt von Nhean, der den Rest des Trupps mit sich zog.
Sie kamen durch die Bäume auf die grasbewachsene Ebene. Sie wurden schon erwartet. Einer der Männer zeigte auf die Schneise durch das Schilf. Auf den ersten Metern eines schmalen Pfades waren Halme heruntergetreten. Die Spur verlor sich, das Gelände war nicht zu überblicken. Vereinzelt standen Bäume auf der Ebene und überall gab es Sträucher.
»Weiter!«, rief Arun.
Er deutete nach links und rechts. Die Männer verteilten sich auf einer Linie, hielten ein paar Meter Abstand zueinander. Arun ging in der Mitte, Nhean blieb ganz außen auf der rechten Flanke. Die Männer suchten wieder nach der Spur. Der Boden wurde sumpfiger. Sie traten in den Schlamm. Arun sah sich um, gab erneut Zeichen. Die Männer sollten sich noch weiter auseinanderziehen.
Sie arbeiteten sich gut hundert Meter durchs Gelände. Auf der linken Seite sackte einer der Männer bis zur Hüfte in ein Schlammloch. Zu dritt mussten sie ihm heraushelfen. Auf der rechten Seite sondierte Nhean den Boden. Der Sumpf engte auch hier den Landstreifen ein, auf dem sie sich vorwärtsbewegten. Die Linie musste sich weiter zusammenziehen. Arun schlug mit dem Gewehrkolben die Halme des hohen Grases nieder, drückte Sträucher zur Seite. Dann blieb er stehen. Alle sahen ihn an. Er schulterte sein Sturmgewehr, legte wieder die Hände trichterförmig vor den Mund.
»Aang-kaa, du hast keine Chance. Stell dich der Gerechtigkeit.«
Er hob sein Sturmgewehr und schoss in die Luft. Sofort flogen Vögel auf. Die Bewegung vor ihnen ließ die Männer kurz zusammenzucken. Arun senkte den Lauf etwas und schoss ein zweites Mal. Der Knall verhallte. Nhean hatte verstanden. Er wartete ein paar Sekunden, dann gab auch er einen Schuss aus seinem Gewehr ab. Anschließend zeigte er auf den Mann am anderen Ende der Linie, dessen Hosen noch vor Schlamm und Nässe glänzten. Er hatte sein Sturmgewehr trocken halten können, legte an und feuerte flach über dem Boden.
Arun schüttelte heftig den Kopf. Die Leute sollten höher halten, nur in die Luft schießen. Die Linie ging wieder ein paar Meter voran. Arun wandte sich nach links und nickte zu seinem direkten Nebenmann, der gleich eine ganze Salve abgab. Dann setzte es sich auf Aruns rechter Seite fort. Die Männer gingen ein paar Meter, schossen abwechselnd und beobachteten dann das vor ihnen liegende Terrain. Nach dem die Vögel aufgeflogen waren, gab es keine Bewegung mehr im Gras, keine plötzliche Flucht, keine erschreckte Reaktion. Sie gingen weiter. Arun voran, die Männer folgten ihm. Nhean blieb stehen, blickte noch einmal zurück.
Im ersten Moment glaubte er das Schlagen einer Peitsche zuhören, doch das Geräusch schwoll im Bruchteil einer Sekunde zu einer pfeifenden Explosion an. Nhean riss den Kopf herum. In einem Feuerstrahl, keine zwanzig Meter von ihm entfernt, sah er Matschklumpen aus der Erde schießen. Ein Mann schien vor der Explosion davon zu laufen. Nhean sah, wie er mit den Armen ruderte, doch dann entfernten sich die Arme vom Körper. Erde und Steine prasselten nieder. Nhean wich einen Schritt zurück, wollte die vorausgehenden Männer warnen, als drei oder vier weitere Explosionen folgten. Es war wie der Beschuss aus einer Kanone. Das Gras der Ebene hatte trotz der Feuchte des Bodens zu brennen begonnen. Nhean suchte nach Arun. Er sah nur noch zwei Männer des Trupps aufrecht stehen. Sie verharrten einen Moment und versuchten dann auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurückzugehen. Nhean konnte Arun noch immer nicht finden.
*
Bruckner atmete tief aus. »Was war das denn, so kenne ich Sie ja gar nicht, ziemlich blutig!«
»Kambodschas Erde ist eben mit Blut getränkt«, sagte ich.
»Was ist denn da explodiert?«
»Landminen! An Kambodschas Grenze zu Thailand gab es zahlreiche Minengürtel. Bis heute wurden nicht alle gefunden.«
Bruckner nickte. »In Geschichte habe ich nicht so aufgepasst. Angka, Rote Khmer, was war da noch?«
»Pol Pot sagt Ihnen aber etwas?«
»Kann schon sein.«
»Ein Kommunist, der eigentlich Saloth Sar hieß. Er war zwischen 1975 und 1978 in Kambodscha an der Macht. Agrarkommunismus. Die Städte wurden geleert, alle mussten als einfache Bauern auf dem Land arbeiten oder beim Straßenbau. Das hat sehr vielen Menschen das Leben gekostet.«
»The Killing Fields«, rief Bruckner. »Ich kann mich an den Film erinnern.«
»Das war genau diese Zeit«, bestätigte ich.
»Aber Ihre Story beginnt doch im Jahre 1990«, stellte Bruckner fest.
»Ja, das war nur die Vorgeschichte. 1990 waren die Roten Khmers bereits im Untergrund. Sie wurden von den Vietnamesen vertrieben. In den achtziger Jahren gab es aber noch einen Guerillakrieg um die Vorherrschaft in Kambodscha. Aus dieser Zeit stammen auch die Landminen an der Grenze zu Thailand.« Ich sah Bruckner an. »Darf ich