Tarabas. Йозеф РотЧитать онлайн книгу.
auf Pferden, Eseln und Kamelen, auf einem Kahn fuhr er durch Grotten voll mechanischer Gespenster und düster gurgelnder Gewässer, auf einer Berg- und Talbahn genoß er die Ängste jäher Auf- und Abwärtsbewegung, und in den Schreckenskammern betrachtete er grausame Anomalien der Natur, Geschlechtskrankheiten und berühmte Mörder. Er blieb schließlich vor der Bude einer Zigeunerin stehn, die das Schicksal der Menschen aus den Händen zu weissagen versprach. Er war abergläubisch. Er hatte bis jetzt viele Gelegenheiten wahrgenommen, einen Blick in die Zukunft zu tun, Kartenleger und Sterndeuter befragt und sich selbst mit allerhand Broschüren über Astrologie, Hypnose, Suggestion beschäftigt. Schimmel und Schornsteinfeger, Nonnen, Mönche und Geistliche, denen er begegnete, bestimmten seine Wege, die Richtung seiner Spaziergänge und seine geringfügigsten Entschlüsse. Alten Frauen wich er am Morgen sorgfältig aus, ebenso rothaarigen Menschen. Und Juden, die er zufällig am Sonntag traf, hielt er für sichere Unheilsbringer. Mit diesen Dingen füllte er einen großen Teil seiner Tage aus.
Auch vor dem Zelt der Zigeunerin blieb er stehn. Auf dem umgestülpten Faß, vor dem sie auf einem Schemel hockte, lagen allerhand Gegenstände, deren sie zu ihrer Zauberei bedurfte, eine gläserne Kugel, gefüllt mit einer grünen Flüssigkeit, eine gelbe Wachskerze, Spielkarten und ein Häufchen Silbermünzen, ein Stäbchen aus rostbraunem Holz und Sterne verschiedener Größe aus blinkendem Goldlack. Viele Menschen drängten sich vor der Bude der Wahrsagerin, aber keiner getraute sich, vor sie hinzutreten. Sie war jung, schön und gleichgültig. Sie schien nicht einmal die Menschen zu sehen. Sie hielt die braunen, beringten Hände gefaltet im Schoß und ihre Augen auf die Hände gesenkt. Unter ihrer grellroten, seidenen Bluse sah man den lebendigen Atem ihrer vollen Brust. Es zitterten sachte die großen, goldenen Taler ihrer schweren, dreimal um den Hals gelegten Kette. An den Ohren trug sie die gleichen Taler. Und es war, als ginge ein Klirren von all dem Metall aus, obwohl man in Wirklichkeit keinen Klang vernahm. Es war, als sei die Zigeunerin gar nicht darauf bedacht, bezahlte Mittlerin zwischen unheimlichen Gewalten und irdischen Wesen zu sein, sondern vielmehr eine der Mächte, die das Geschick der Menschen nicht deuten, sondern selbst bestimmen.
Tarabas zwängte sich durch die Menge, trat vor das Faß und streckte ohne ein Wort die Hand aus. Langsam hob die Zigeunerin die Augen. Sie sah Tarabas ins Gesicht, bis er, unsicher geworden, eine Bewegung machte, als wollte er die Hand zurückziehn. Nun erst griff die Zigeunerin nach ihr. Tarabas fühlte die Wärme der braunen Finger und die Kühle der silbernen Ringe auf seiner flachen Hand. Allmählich, sehr sanft, zog ihn die Frau zu sich herüber, über das Faß, so daß sein Ellenbogen die gläserne Kugel streifte, sein Gesicht ganz nahe vor dem ihren stand. Die Leute hinter ihm drängten näher, im Rücken fühlte er ihre Neugier. Es war, als stieße ihn diese ihre Neugier zur Wahrsagerin hinüber – und er wäre gerne über das Faß gestiegen, um endlich getrennt von den Menschen zu sein und allein mit der Zigeunerin. Er hatte Angst, sie könnte laut über ihn sprechen, was die anderen vernehmen würden – und schon wollte er sein Vorhaben aufgeben. »Haben Sie keine Angst«, sagte sie in der Sprache seiner Heimat, »keiner wird mich verstehen. Aber geben Sie mir zuerst zwei Dollar, und so, daß es die andern sehn! Viele werden dann weggehn.«
Er erschrak, weil sie seine Muttersprache erraten hatte. Sie nahm mit der Linken das Geld, hielt es eine Weile hoch, damit die Menschen es sähen, und legte es dann auf das Faß. Hierauf sagte sie in Tarabas' Muttersprache: »Sie sind sehr unglücklich, Herr! Ich lese in Ihrer Hand, daß Sie ein Mörder sind und ein Heiliger! Ein unglücklicheres Schicksal gibt es nicht auf dieser Welt. Sie werden sündigen und büßen – alles noch auf Erden.«
Dann ließ die Zigeunerin Tarabas' Hand frei. Sie senkte die Augen, verschränkte die Hände im Schoß und blieb unbeweglich. Tarabas wandte sich, um zu gehen. Die Leute machten ihm Platz, voller Hochschätzung vor einem Mann, der einer Zigeunerin zwei Dollar gegeben hatte. Die einzelnen Worte der Wahrsagerin steckten in seinem Gedächtnis, ohne Zusammenhang, er konnte sie wiederholen, so, wie sie ihm gesagt worden waren. Gleichgültig ging er zwischen Schieß- und Zauberbuden einher, kehrte um, beschloß, das Fest zu verlassen, dachte an Katharina, die er bald, wie gewohnt, abholen sollte, glaubte zu fühlen, daß sie ihm fremd geworden war, und wehrte sich gegen dieses Gefühl. Es war Ende August ... Der Himmel war bleiern und grau, ein schmaler Himmel aus Stein in schmalen Straßen, zwischen hohen, steinernen Häusern. Gewitter versprach man sich seit Tagen. Es kam nicht. Andere Gesetze herrschten in diesem Land, die Natur ließ sich von den praktischen Menschen dieses Landes bestimmen. Sie brauchten augenblicklich kein Gewitter. Tarabas sehnte sich nach einem Blitz, einem zackigen Blitz aus schweren Wolken, aus einem trächtigen, tief über weiten, goldenen Feldern hängenden Himmel. Es kam kein Gewitter. Tarabas verließ den Rummelplatz. Er ging zur Bar, zu Katharina. Er war also ein Mörder und ein Heiliger. Zu großen Dingen war er ausersehen.
Je näher er der Bar Katharinas kam, desto klarer wurde ihm auch, so glaubte er, der Sinn der Weissagung. Die Worte der Zigeunerin begannen, sich zu einer sinnvollen Kette aneinanderzureihen. Ich werde also – dachte Tarabas – zuerst ein Mörder werden und dann ein Heiliger. (Es war nicht möglich, dem Schicksal, das gewiß ohne Rücksicht auf Tarabas seine Fäden spann, gewissermaßen auf halbem Wege entgegenzukommen und also das Leben vom nächsten Augenblick an freiwillig zu verändern.)
Als Tarabas die Bar betrat, auf den ersten Blick unter den bedienenden Mädchen Katharina nicht traf und auf die Frage, wo sie sei, die Antwort erhielt, sie habe heute um einen freien Tag angesucht, auch die Erlaubnis hierzu erhalten und solle gegen neun Uhr abends zurückkommen, war er betroffen; und er sah bereits in diesem Vorfall den Anfang des Schicksals, das man ihm prophezeit hatte. Er setzte sich an einen Tisch und bestellte einen Gin bei der Kellnerin, der er als ein Freund Katharinas wohlbekannt war; und er verbarg seine Unrast hinter einer der üblichen witzigen Wendungen, die alte Stammgäste Kellnern gegenüber anzuwenden belieben. Da ihm aber die Zeit zu lang wurde, bestellte er nach dem ersten auch noch ein zweites und ein drittes Glas. Und da er von Natur ein schwacher Trinker war, verlor er bald den sichern Sinn für die Dinge dieser Welt und für die Umstände, in denen er sich befand, und begann, in überflüssiger Weise Lärm zu schlagen.
Hierauf trat der Wirt, ein kräftiger und wohlgefütterter Bursche, der Tarabas seit langem nicht mehr wohlgesinnt war, auf ihn zu und forderte ihn auf, die Bar zu verlassen. Tarabas fluchte, zahlte, verließ die Bar, blieb aber, zum Kummer des Wirtes, vor der Tür stehn, um Katharina zu erwarten. Ein paar Minuten später kam sie, das Angesicht gerötet, die Haare zerzaust, offenbar in höchster Eile, Angst in den Augen, und, wie es Tarabas schien, schöner als je zuvor. »Wo warst du?«, fragte er. »Bei der Post«, sagte Katharina. »Es ist ein Brief gekommen, rekommandiert, ich mußte ihn holen, ich war nicht zu Haus, als der Briefträger kam. Der Vater ist krank. Er wird vielleicht sterben. Ich muß nach Hause! So schnell wie möglich! Kannst du mir helfen! Hast du Geld?«
Eifersüchtig und mißtrauisch versuchte Tarabas, im Auge, in der Stimme und im Angesicht seiner Geliebten eine Lüge und einen Betrug zu erkennen. Er sah sie mit forschender, vorwurfsvoller Wehmut lange an, und da sie, nunmehr völlig verwirrt, den Kopf senkte, sagte er – und schon kochte in ihm der Zorn –: »Du lügst also! Wo warst du wirklich?« Im gleichen Augenblick fiel ihm ein, daß heute Mittwoch war, ein Tag, an dem der Koch frei war – und sein Verdacht ergriff nun etwas Wirkliches, eine lebendige Gestalt. Schreckliche Bilder rollten blitzschnell durch Tarabas' Gehirn. Schon ballte er die Faust und stieß sie Katharina in die Rippen. Sie taumelte, verlor den Hut und ließ das Handtäschchen fallen. Dieses hob Tarabas hastig auf, durchwühlte es, fortwährend die Frage wiederholend, wo denn der Brief vom Vater sei. Der Brief fand sich nicht. »Ich muß ihn verloren haben! Ich war so aufgeregt!«, lallte Katharina, und in ihren Augen standen große Tränen. »So, verloren!«, brüllte Tarabas.
Schon wurden einige Passanten aufmerksam und blieben stehen. Jetzt trat der Wirt aus der Bar. Er legte den linken Arm zum Schutz um Katharina und schob sie hinter sich; den rechten streckte er gegen Tarabas und rief: »Machen Sie vor meinem Geschäft keinen Skandal! Scheren Sie sich weg! Ich verbiete Ihnen hier den Aufenthalt!« Tarabas erhob die Faust und ließ sie mitten in das Angesicht des Wirtes sausen. Ein winziger Blutstropfen zeigte sich an der breiten Nasenwurzel des Wirtes, floß die Wange hinunter, wurde ein schmaler, roter Streifen. Ein schöner Schlag, dachte Tarabas, sein Herz freute sich und füllte sich mit noch heißerem Grimm. Das Blut, das er vergossen hatte, entzündete seine Lust, noch