Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
wandte dem Tische die eine Seite seines Körpers zu; den einen Ellbogen hatte er auf den Tisch gelegt und drehte mit der Hand dieses Armes seine Tasse immer herum; mit der andern Hand faßte er seinen Bart zusammen, hob ihn zur Nase in die Höhe und ließ ihn wieder los, gerade wie wenn er daran röche. Mit seinen blitzenden, schwarzen Augen sah er dem sprechenden und sich dabei ereifernden Gutsbesitzer, einem Manne mit grauem Schnurrbarte, gerade ins Gesicht und ergötzte sich augenscheinlich an dessen Reden. Der Gutsbesitzer schalt über das Landvolk. Ljewin sah deutlich, daß Swijaschski auf die Klagen des Gutsbesitzers eine Antwort bereit hatte, die dessen Darlegungen mit einem Schlage zunichte gemacht hätte, daß er aber mit Rücksicht auf seine Stellung als Wirt und Adelsmarschall diese Antwort unterdrückte und mit innerer Heiterkeit die komischen Auslassungen des Gutsbesitzers mit anhörte.
Der Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart war offenbar ein hartnäckiger Verteidiger der Leibeigenschaft, ein eingefleischter Landbewohner und leidenschaftlicher Landwirt. Kennzeichen dafür erblickte Ljewin sowohl in seiner Kleidung, einem altmodischen, abgescheuerten Oberrock, der seinem Träger sichtlich etwas Ungewohntes war, wie auch in seinen klugen, streng blickenden Augen und in seiner bündigen, rein russischen Ausdrucksweise und in dem befehlenden Tone, den er offenbar durch lange Gewohnheit angenommen hatte, und an den entschiedenen Bewegungen der großen, schönen, von der Sonne verbrannten Hände mit einem alten Trauringe am Goldfinger.
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»Wenn es mir nur nicht leid täte, alles, was ich mir eingerichtet habe, aufzugeben – es steckt eine gehörige Menge Arbeit darin –, so würde ich die ganze Geschichte hinwerfen, alles verkaufen und ins Ausland reisen, wie unser Nikolai Iwanowitsch hier ... um ›Die schöne Helena‹ zu hören«, sagte der Gutsbesitzer mit einem angenehmen Lächeln, das seinem klugen, alten Gesichte einen hellen Schein verlieh.
»Aber Sie geben es doch nicht auf«, erwiderte Nikolai Iwanowitsch Swijaschski, »folglich muß doch ein Vorteil dabei sein.«
»Der einzige Vorteil besteht darin, daß ich in einem altererbten Hause wohne, das ich mir weder gekauft noch gemietet habe. Und dann hofft man doch immer noch, daß das Volk endlich einmal zur Vernunft kommt. Aber so, wie es jetzt ist – es ist kaum zu glauben, diese Trunksucht, diese Liederlichkeit! ... Alle sind sie infolge der Wirtschaftsteilungen auf den Hund gekommen; da ist kein Pferd, keine Kuh zu finden. So ein Bauer krepiert beinah vor Hunger; aber nun nehmen Sie den Menschen einmal als Arbeiter an: zuerst verdirbt er Ihnen alles mögliche, und dann verklagt er Sie noch beim Friedensrichter.«
»Sie können ihn ja Ihrerseits auch beim Friedensrichter verklagen«, bemerkte Swijaschski.
»Ich soll ihn verklagen? Um keinen Preis! Das gibt ein Gerede, so daß man von der Klage keine Freude hat! Sehen Sie nur den Fall neulich in der Fabrik: die Leute haben das Handgeld genommen und sind einfach davongegangen. Und was hat der Friedensrichter getan? Freigesprochen hat er sie. Alles wird nur noch durch das Gemeindegericht und den Dorfschulzen in Ordnung gehalten. Der läßt so einen Kerl einfach nach altem Brauch durchpeitschen. Wenn das nicht noch wäre, dann könnte man nur gleich einpacken und sich davonmachen!«
Es war offenbar, daß der Gutsbesitzer Swijaschski reizen wollte; aber dieser ärgerte sich nicht, sondern belustigte sich vielmehr nur über diese Reden.
»Na, aber wir führen doch unsere Wirtschaft ohne derartige Maßregeln«, versetzte er lächelnd. »Ich meine mich und Ljewin und unsern Nachbar hier.«
Er wies auf den andern Gutsbesitzer.
»Ja, bei Michail Petrowitsch geht es ja noch so einigermaßen; aber fragen Sie ihn nur, wie. Ist das etwa eine rationelle Wirtschaft?« sagte der Gutsbesitzer; er prunkte augenscheinlich mit dem Worte »rationell«.
»Meine Wirtschaft ist sehr einfach«, versetzte Michail Petrowitsch. »Dafür danke ich meinem Gotte. Meine Wirtschaft zielt nur darauf hin, daß das Geld für die Steuern im Herbst bereit daliegt. Aber die Bauern, die kein Geld für die Steuern haben, kommen dann und bitten: ›Väterchen, liebes Väterchen, hilf uns aus der Not!‹ Na, die Leute sind ja sämtlich meine Nachbarn; da tun sie einem denn leid, und da gibt man ihnen das Geld für das erste Jahresdrittel, sagt ihnen aber dabei: ›Vergeßt nicht, Kinder, daß ich euch geholfen habe; nun müßt ihr mir aber auch helfen, wenn's nötig ist, beim Hafersäen oder beim Heuen oder bei der Getreideernte.‹ Na, und da setzt man gleich fest, wieviel Mann aus jeder Familie zur Arbeit kommen sollen. Gewissenlose Menschen gibt es dann allerdings auch unter diesen, das ist richtig.«
Ljewin, dem diese patriarchalischen Gebräuche längst bekannt waren, wechselte einen Blick mit Swijaschski und unterbrach Michail Petrowitsch, indem er sich wieder an den Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart wandte.
»Also wie denken Sie nun darüber?« fragte er. »Wie muß man jetzt seine Wirtschaft führen?«
»So wie Michail Petrowitsch! Man kann ja auch die Bauern die Arbeit für die Hälfte des Ertrages verrichten lassen oder auch ihnen das Land in Pacht geben; gewiß, das geht auch; nur wird gerade dadurch der allgemeine Wohlstand des Staates vernichtet. Während mein Land früher bei Bearbeitung durch Leibeigene und bei guter Bewirtschaftung das Neunfache brachte, bringt es jetzt bei Bearbeitung auf Halbpart nur das Dreifache. Die Gleichberechtigung der Bauern hat Rußland zugrunde gerichtet!«
Swijaschski blickte Ljewin mit lächelnden Augen an und machte ihm sogar ein ganz leises, spöttisches Zeichen; aber Ljewin fand die Worte des Gutsbesitzers gar nicht lächerlich; er hatte für sie ein besseres Verständnis als für Swijaschskis Standpunkt. Vieles von dem, was der Gutsbesitzer noch weiter sagte, um zu beweisen, daß die Gleichberechtigung der Bauern Rußlands Verderb sei, war ihm neu und erschien ihm durchaus richtig und unwiderlegbar. Der Gutsbesitzer sprach offenbar, was so selten vorkommt, Gedanken aus, die in seinem eigenen Kopfe entstanden waren, und zu diesen Gedanken war er nicht etwa durch den Wunsch geleitet worden, den müßigen Geist mit irgend etwas zu beschäftigen, sondern sie waren aus den Erfahrungen des Lebens erwachsen, das er in seiner ländlichen Einsamkeit verbracht und nach allen Richtungen durchdacht hatte.
»Sehen Sie«, sagte er, sichtlich bestrebt, zu zeigen, daß er eine gute Bildung besitze, »die Sache ist die, daß jeder Fortschritt nur von der autoritativen Macht bewerkstelligt wird. Nehmen Sie die Reformen Peters, Katharinas, Alexanders! Nehmen Sie die Geschichte Europas! Und ganz besonders gilt das für die Fortschritte auf dem Gebiete der Landwirtschaft. Zum Beispiel die Kartoffeln – auch die sind bei uns nur mit Gewalt eingeführt worden. Auch mit dem Hakenpflug hat man ja nicht immer gepflügt; auch der ist erst eingeführt worden, vielleicht zur Zeit der Teilfürsten, aber sicherlich nur mit Gewalt. Jetzt zu unserer Zeit haben wir Gutsbesitzer, als noch die Leibeigenschaft bestand, unsere Wirtschaft mit den modernen Vervollkommnungen geführt; die Trockenböden und die Worfelmaschinen und das Düngerfahren und alle landwirtschaftlichen Geräte, alles haben wir kraft unserer höheren Stellung eingeführt, und die Bauern haben sich anfangs widersetzt, nachher aber es uns nachgemacht. Jetzt nun ist uns bei der Aufhebung der Leibeigenschaft diese Macht genommen worden, und so muß nun auch unser Wirtschaftsbetrieb überall, wo er eine hohe Stufe erreicht hatte, wieder zu dem ursprünglichen Zustande schlimmster Unkultur hinabsinken. So fasse ich das auf.«
»Aber weshalb denn nur?« entgegnete Swijaschski. »Wenn Ihr Wirtschaftsbetrieb rationell ist, so können Sie ihn auch unter Anwendung des Mietsystems durchführen.«
»Dazu fehlt mir die Macht. Gestatten Sie die Frage: Mit was für Leuten soll ich meine Wirtschaft führen?«
›Da haben wir's!‹ dachte Ljewin. ›Die Arbeitskraft, das ist der Angelpunkt der Landwirtschaft‹.
»Mit Arbeitern.«
»Die Arbeiter wollen nicht gut arbeiten und nicht mit guten Geräten. Unsere Arbeiter verstehen nur eins: sich viehisch zu betrinken und alles, was man ihnen in die Hände gibt, zugrunde zu richten. Die Pferde richten sie zugrunde, indem sie sie in erhitztem Zustande tränken; das gute Pferdegeschirr zerreißen sie; die frisch beschienten Räder vertauschen sie gegen andere und vertrinken den Ertrag; in die Dreschmaschine lassen sie einen Deichselnagel hineinfallen, um sie entzweizumachen. Alles, was nicht nach ihrem Geschmacke ist,