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Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.

Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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alles, was in Europa in der Frage der Arbeiterorganisation geschehen ist?«

      »Nein, nur mangelhaft.«

      »Die Frage beschäftigt jetzt die besten Köpfe in ganz Europa. Zum Beispiel die Schulze-Delitzsch-Richtung ... Und dann diese gewaltige Literatur über die Arbeiterfrage von der allerfortschrittlichsten Lassalleschen Richtung ... Die Mülhäuser Organisation ist ja schon zur wirklichen Tatsache geworden; Sie wissen gewiß davon.«

      »Ich habe eine Vorstellung davon, indes nur eine sehr unklare.«

      »Ach, das sagen Sie nur so; Sie wissen sicherlich mit allen diesen Dingen nicht weniger Bescheid als ich. Ich bin ja natürlich kein Professor der Sozialwissenschaften; aber die ganze Sache hat mich sehr interessiert, und wirklich, wenn Sie sich dafür interessieren, so werden Sie guttun, sich genauer damit zu beschäftigen.«

      »Aber zu welchem Ergebnis ist man denn gelangt?«

      »Verzeihung ...«

      Die Gutsbesitzer waren aufgestanden, und Swijaschski begleitete seine Gäste hinaus; so hatte er Ljewin wieder nicht zum Ziele kommen lassen, als dieser nach seiner häßlichen Gewohnheit versucht hatte, einen Blick in die Teile seines Geistes zu werfen, die hinter den Empfangszimmern lagen.

      28

      Ljewin empfand an diesem Abend in der Gesellschaft der Damen eine unerträgliche Langeweile. Es regte ihn wie noch nie zuvor der Gedanke auf, daß der jetzige ihn so wenig befriedigende Zustand seiner Wirtschaft nicht etwas nur ihm persönlich Eigenes, sondern ein Teil des allgemeinen Zustandes sei, in dem sich die Sache in ganz Rußland befinde, und daß die Schaffung eines Verhältnisses zu den Arbeitern, bei dem diese so arbeiteten wie bei jenem Bauern auf der Hälfte des Weges, nicht ein Hirngespinst, sondern eine Aufgabe sei, die unbedingt gelöst werden müsse. Und es schien ihm, daß die Lösung dieser Aufgabe möglich und es seine Pflicht sei, einen Versuch dazu zu machen.

      Nachdem Ljewin den Damen gute Nacht gesagt und versprochen hatte, noch den ganzen folgenden Tag dazubleiben, um mit ihnen zusammen auszureiten und in dem staatlichen Walde einen interessanten Erdsturz zu besichtigen, begab er sich vor dem Schlafengehen noch in das Arbeitszimmer des Hausherrn, um sich die Bücher über die Arbeiterfrage, die ihm Swijaschski angeboten hatte, zu holen. Swijaschskis Arbeitszimmer war von gewaltiger Ausdehnung und mit mehreren Bücherschränken sowie mit zwei Tischen ausgestattet, einem massiven Schreibtisch, der mitten im Zimmer stand, und einem runden Tische, auf dem sternförmig um die Lampe herum die neuesten Nummern von allerlei Zeitungen und Zeitschriften in verschiedenen Sprachen ausgebreitet lagen. Neben dem Schreibtische stand ein Ständer mit Schubkasten, an denen goldene Aufschriften den sehr verschiedenartigen Inhalt angaben.

      Swijaschski holte die Bücher hervor und setzte sich dann in einen Schaukelstuhl.

      »Was sehen Sie sich denn da an?« fragte er Ljewin, der bei dem runden Tische stehengeblieben war und in den Zeitschriften blätterte. »Ach ja, da ist ein sehr interessanter Artikel drin«, sagte er mit Bezug auf die Zeitschrift, die Ljewin gerade in der Hand hatte. »Es stellt sich heraus«, fügte er lebhaft und munter hinzu, »daß der Hauptschuldige bei der Teilung Polens gar nicht Friedrich war. Es stellt sich heraus ...«

      Und mit der ihm eigenen Klarheit berichtete er in Kürze über diese neuen, sehr wichtigen und interessanten Enthüllungen. Wiewohl Ljewin jetzt stark mit seinen Gedanken an die Landwirtschaft beschäftigt war, stellte er doch, während er dem Hausherrn zuhörte, die Überlegung an: ›Was hat er eigentlich damit vor? Warum in aller Welt interessiert ihn die Teilung Polens?‹ Als Swijaschski mit seiner Auseinandersetzung zu Ende war, fragte Ljewin unwillkürlich: »Und was soll nun geschehen?« Aber es sollte gar nichts weiter geschehen. Interessant war eben nur, daß sich das »herausgestellt« hatte. Aber warum ihn das interessierte, erklärte Swijaschski nicht und hielt er nicht für nötig zu erklären.

      »Ja, aber mich hat dieser verbitterte Gutsbesitzer sehr interessiert«, sagte Ljewin mit einem Seufzer. »Er ist ein kluger Mann, und was er sagte, war zum großen Teil richtig.«

      »Ach, gehen Sie doch! Er ist ein eingefleischter, heimlicher Anhänger der Leibeigenschaft, wie sie es alle sind!« erwiderte Swijaschski.

      »Und Sie als Adelsmarschall sind ihr Leiter ...«

      »Ja, nur daß ich sie als solcher nach der anderen Seite hin zu leiten suche«, versetzte Swijaschski lachend.

      »Da ist ein Punkt, der mich sehr beschäftigt«, sagte Ljewin. »Er hat recht: unsere Tätigkeit, das heißt eine rationelle Landwirtschaft, hat keinen Erfolg; es gedeiht nur eine Wucherwirtschaft wie bei jenem stillen, ruhigen Herrn, oder eine vom allereinfachsten Zuschnitt ... Wer ist daran schuld?«

      »Natürlich wir selbst. Aber es ist auch nicht richtig, daß eine rationelle Wirtschaft nicht vorwärtskäme. Bei Wasiltschikow geht es ganz gut.«

      »Der hat auch eine Fabrik ...«

      »Aber ich weiß überhaupt nicht, worüber Sie sich eigentlich wundern. Unser Landvolk steht in materieller und geistiger Hinsicht auf einer so niedrigen Entwicklungsstufe, daß es naturgemäß allem widerstreben muß, was ihm fremd ist. In Europa geht ein rationeller Wirtschaftsbetrieb gut vonstatten, weil das Volk gebildet ist; folglich müssen auch wir unserem Volke Bildung geben; das ist die ganze Sache.«

      »Aber wie sollen wir das anfangen?«

      »Um dem Volke Bildung zu geben, dazu sind drei Dinge erforderlich: Schulen, Schulen und nochmals Schulen.«

      »Aber Sie haben doch selbst gesagt, daß das Volk in materieller Hinsicht auf einer niedrigen Entwicklungsstufe steht; inwiefern können da die Schulen helfen?«

      »Wissen Sie, Sie erinnern mich an die Anekdote von den Ratschlägen, die man einem Kranken gab: ›Sie sollten es mit einem Abführmittel versuchen.‹ – ›Ich habe eins genommen; aber es ist davon nur noch schlimmer geworden.‹ – ›Versuchen Sie es doch einmal mit Blutegeln.‹ – ›Das habe ich versucht; es ist noch schlimmer geworden.‹ – ›Nun, dann sollten Sie einfach den lieben Gott bitten, Ihnen zu helfen.‹ – ›Das habe ich auch getan; aber es ist nur noch schlimmer geworden.‹ So machen auch wir beide es jetzt. Ich rede von Nationalökonomie; Sie sagen: ›Es wird nur schlimmer.‹ Ich rede von Sozialismus; Sie sagen: ›Es wird nur schlimmer.‹ Ich rede von Bildung; wieder: ›Es wird nur schlimmer.‹«

      »Ja, inwiefern können denn da die Schulen helfen?«

      »Sie erwecken bei dem Volke andere Bedürfnisse.«

      »Da haben wir's. Gerade das ist es, was ich nie habe begreifen können!« erwiderte Ljewin hitzig. »Auf welche Weise können die Schulen dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein? Sie sagen: die Schulen und die Bildung erwecken beim Volke neue Bedürfnisse. Um so schlimmer; denn das Volk wird nicht imstande sein, diese neuen Bedürfnisse zu befriedigen. Und auf welche Weise die Kenntnis des Addierens und Subtrahierens und des Katechismus dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein soll, das habe ich nie begreifen können. Vorgestern abend traf ich eine Bauersfrau mit einem Säugling und fragte sie, wohin sie ginge. Sie antwortete: ›Ich bin bei der Hebamme gewesen; das Jungchen hatte den Schreikrampf bekommen; da habe ich es hingetragen, damit sie es heilen sollte.‹ Ich fragte: ›Wie heilt denn die Hebamme den Schreikrampf?‹ ›Sie setzt das Kindchen zu den Hühnern auf die Sitzstange und sagt etwas dazu.‹«

      »Na, sehen Sie wohl, da sagen Sie es ja selbst! Damit so eine Frau nicht ihr Kind hinträgt, um es auf der Hühnerstange vom Schreikrampfe heilen zu lassen, dazu sind die Schulen nötig ...« sagte Swijaschski mit vergnügtem Lächeln.

      »Aber nein doch!« erwiderte Ljewin ärgerlich. »Diese Heilmethode benutzte ich ja nur zum Vergleiche mit der Heilung des Volkes durch Schulen. Das Volk ist arm und ungebildet; das sehen wir ebenso deutlich, wie die Bauersfrau den Schreikrampf daran erkennt, daß das Kind so schreit. Aber auf welche Weise gegen diesen schlimmen Zustand, die Armut und den Mangel an Bildung, dem Volke die Schulen helfen sollen, das ist ebenso unbegreiflich, wie es unbegreiflich ist, auf


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