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Mein Leben und Streben. Karl MayЧитать онлайн книгу.

Mein Leben und Streben - Karl May


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eine geistig höhere Lebensstellung. Denn das muß ich ihm nachrühmen, daß ihm zwar der Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nächsten stand, daß er aber den höheren Wert auf die kräftige Entwickelung der geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudrücken vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womöglich ein hochgebildeter Mann werden, der für das allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in andern Worten äußerte. Man sieht, er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er wünschte, und war vollständig überzeugt, es erreichen zu können. Leider aber war er sich über die Wege, auf denen, und über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war, nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen Hindernisse, die seinem Plane entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum größten Opfer bereit, aber er bedachte nicht, daß selbst das allergrößte Opfer eines armen Teufels dem Widerstande der Verhältnisse gegenüber kein Gramm, kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er dazu gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern. Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen so viel wie möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe, und hiernach wurde mit größter Energie gehandelt.

      Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen, aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre ältere Schwester ein. Dann wurden die Schulbücher älterer Knaben gekauft. Ich mußte daheim die Aufgaben lösen, die ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald klassenfremd, für so ein kleines, weiches Menschenkind ein großes, psychologisches Uebel, von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich glaube, daß sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was für ein großer Fehler da begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erwägung aus, daß ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die nächst höhere Klasse zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so drückte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darüber zu, daß ich als acht- oder neunjähriger Knabe schon bei den elf- und zwölfjährigen saß. In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule freilich nicht viel gehörte, war dies allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen großen, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, daß ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte, für meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht über dieses nur scheinbar winzige, höchst unwichtige Knabenschicksal zu lächeln. Der Erzieher, der sich im Reiche der Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen Augenblick zögern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will festen Boden unter den Füßen haben, den es ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das, was man als »Jugend« bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist, daß ich selbst noch heut, im hohen Alter, in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen, daß um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich ganz unmöglich zu unterschreiben vermag.

      Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf die Schularbeiten. Er holte allen möglichen sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl befähigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu können. Er brachte Alles, was er fand, herbei. Ich mußte es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, daß ich es dadurch besser behalten könne. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, mußte ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprägen. Die stimmten natürlich längst nicht mehr! Ich saß ganze Tage und halbe Nächte lang, um mir dieses wüste, unnötige Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Verfütterung und Ueberfütterung sondergleichen. Ich wäre hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich mein Körper nicht trotz der äußerst schmalen Kost so überaus kräftig entwickelt hätte, daß er selbst solche Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte nämlich keinen Spaziergang und keinen Weg über Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich die, daß kein Augenblick der Schulzeit dabei versäumt wurde. Die Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen seiner reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber es wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und bestimmte Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr Kämmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann Lippold und andere, um Kegel zu schieben oder einen Skat zu spielen. Vater war stets dabei und ich mit, denn ich mußte. Er meinte, ich gehöre zu ihm. Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen, weil ich da ohne Aufsicht sei. Daß ich bei ihm, in der Gesellschaft erwachsener Männer, gewiß auch nicht besser aufgehoben war, dafür hatte er kein Verständnis. Ich konnte da Dinge hören, und Beobachtungen machen, welche der Jugend am besten vorenthalten blieben. Uebrigens war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft außerordentlich mäßig. Ich habe ihn niemals betrunken gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein regelmäßiges Quantum ein Glas einfaches Bier für sieben Pfennige und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder für sechs Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen für sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der sich auch zuweilen einstellte. Diese Herren wenigstens mußten doch wissen, daß ich da selbst auf erlaubten und vollständig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber sehr aufmerksamer Zuhörer in Dinge und Verhältnisse eingeweiht wurde, die mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen hatten. Ich wurde nicht frühreif, denn dieses Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen, und davon bekam ich nichts zu hören, sondern etwas noch viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt, auf dem meine Füße das Gefühl haben mußten, als ob sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich mich dann fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei ihr mich in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten konnte! Freilich war ich viel zu jung, um einzusehen, daß dieses Reich sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. Für mich hatte es keine Füße; es schwebte; es konnte mir erst später, wenn ich mich zum Verständnis emporgearbeitet hatte, die Stütze bieten, die mir so nötig war.

      Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater, aber doch Theater. Das war im Webermeisterhause. Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die Hälfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit Großmutter hinzugehen. Das kostete fünfzehn Pfennige für uns beide. Es wurde gegeben: »Das Müllerröschen oder die Schlacht bei Jena.« Meine Augen brannten; ich glühte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten für mich. Sie sprachen; sie liebten und haßten; sie duldeten; sie faßten große, kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf König und für Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren, mußte Großmutter mir beschreiben, wie die Puppen bewegt werden.

      »An einem Holzkreuze,« erklärte sie mir. »Von diesem Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das Kreuz bewegt.«

      »Aber sie sprechen doch!« sagte ich.

      »Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den Händen hält, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen Leben.«

      »Wie meinst du das?«

      »Das verstehst


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