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Mein Leben und Streben. Karl MayЧитать онлайн книгу.

Mein Leben und Streben - Karl May


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vorüber, dem wir damals unsere Frösche anvertrauten, nach Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach der Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehöriger marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das Weichbild des Städtchens das Geleit zu geben. Ich aber stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haustür, dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie hatten keine Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich glühend; sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten Aepfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem Manne nicht, monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu rauchen, das Stück zu zwei Pfennige. Die mußte ich ihm vom Krämer holen, weil er sich schämte, so billige selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hofe, weil die Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte. Auch er war heut von dem Anblicke unserer Truppen aufrichtig begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte er:

      »Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche Begeisterung für Gott, für König und Vaterland!«

      »Aber was bringt sie ein?« fragte die Frau Kantorin.

      »Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre Glück!«

      Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte es nicht, zu streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre Glück; das wollte und mußte ich mir merken! Später hat dann das Leben an diesen drei Worten herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen sich die Formen verändert haben, das innere Wesen ist geblieben.

      Von allen, die heut ausgezogen waren, um große Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe, das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit seinen Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche aus triftigen Gründen entlassen worden waren und die die Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg [sic] geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die überraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde, daß man aus Freiburg [sic] die Weisung erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar nicht gebraucht, denn die Preußen seien in Dresden eingerückt und so stehe für den König und die Regierung nicht das Geringste mehr zu befürchten. Man kann sich wohl denken, daß es heut nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich empörte mich gegen das Handschuhflicken. Ich riß einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und Mädels zu, welche elf Kompagnieen bilden und ihren heimkehrenden Vätern entgegen ziehen sollten. Dieser Plan wurde ausgeführt. Wir kampierten bei den Wüstenbränder Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag den Schießhausberg hinab, wo unsere verwaisten Frauen und Mütter standen, um uns alle, Groß und Klein, teils gerührt, teils lachend in Empfang zu nehmen.

      Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals zusammengeflossen sind. Daß ich trotz allem, was später geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der frühen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu Geist und Seele geworden sind.

      Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen, früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule genügte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltönenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenüber mutig. So kam es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte für teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr Kantor mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht angängig war, da komponierte er selbst. Und er war Komponist! Und zwar was für einer! Aber er stammt aus dem kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach, von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium förmlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer resp. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhosen kleiden können und sah einen Taler für ein Vermögen an, von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher Orgel-, Klavier- und Violinspieler, konnte er auch die komponistische Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und hätte es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können, wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen wäre. Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennenzulernen und einmal spielen zu können. Das war die einzige Freude, die er sich gönnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu fehlte ihm außer der Beherztheit besonders auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der Ehe als zweiunddreißigfüßiger »Prinzipal« ertönte, während dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften »Vox humana« zugebilligt wurde. Sie besaß mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgärten, deren Erträgnisse mit der äußersten Genauigkeit verwertet wurden, und daß ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und Birnen bekam, das habe ich bereits erwähnt. Sie wußte das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Königreich verschenke. Für den unendlich hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als Künstler, hatte sie nicht das geringste Verständnis. Sie war an ihre Gärten und er infolgedessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen Bedürfnisse bekümmerte sie sich nicht. Sie öffnete keines seiner Bücher, und seine vielen Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen. Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur an die Papiermühle verkauft, ohne daß ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, für das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine Gutmütigkeit, die niemals vergessen konnte, daß er ein armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Mädchen und außerdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war.

      Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: »Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike hält es nicht aus; sie hat Migräne«. Manchmal hieß es auch »sie hat Vapeurs«. Was das war, wußte ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung von dem, was ich auch nicht wußte, nämlich von der Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte, wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus, daß er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das in der späteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt noch nicht.

      Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, so auch in dem, was er meine »Erziehung« nannte. Notabene mich »erzog« er; um die Schwestern bekümmerte


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