Am Rio de la Plata. Karl MayЧитать онлайн книгу.
hervor.
»Mein Hut, mein Hut!« jammerte sie noch immer, als ob es sich um den Verlust eines geliebten Familiengliedes handle, so herzbrechend war ihre Stimme. Sie blutete im Gesicht; auch ihre Kleidung hatte unter den erhaltenen Stößen, Tritten und Verletzungen gelitten.
»Steigen Sie nur erst aus, Sennora!« sagte ich. »Ihr Hut wird dann auch gewiß gerettet werden.«
»O, Sennor, er ist ganz neu, die allerneuste Pariser Façon! Ich habe ihn erst gestern in Montevideo gekauft.«
»Bitte, retten Sie sich nur selbst erst! Ich werde Ihnen helfen, wenn Sie es mir erlauben.«
Ich stieg auf den alten Kasten, faßte sie um die Taille und hob sie heraus und herab. Sie war noch länger als ich selbst. Kaum hatte sie den Boden berührt, so beugte sie sich über die Oeffnung des Kutschenschlages und langte in dieselbe hinein. Sie brachte einen formlosen Gegenstand heraus, den sie einen Augenblick lang vor sich hinhielt, um ihn zu betrachten, dann aber vor Entsetzen fallen ließ.
»O, welch ein Schmerz, welch ein Unglück!« rief sie aus, indem sie die Hände zusammenschlug. »Die Hutschachtel ist ganz zusammengetreten; wie mag da erst der Hut aussehen!«
Sie befand sich in der größten Aufregung. Die Sorge um den kostbaren Schmuck ihres Hauptes war noch größer, als diejenige um sich selbst. Aber ihre Klagen waren nicht die einzigen, welche man hörte. Wer einen Mund hatte, ließ seine Stimme vernehmen. Die einen untersuchten fluchend ihre Gliedmaßen; die andern schimpften aus Leibeskräften auf den Mayoral und die Peons ein; die letzteren wieder zankten untereinander, da ein jeder dem andern die Schuld des Unglückes beimaß. Die Passagiere drohten mit Beschwerde und Klage auf Schadenersatz und Erstattung der Kurkosten. Die Lenker des Wagens und der Rosse verteidigten sich mit der Behauptung, die Passagiere hätten die Pferde durch ihr grundloses und unnützes Geschrei erschreckt und wild gemacht. So wurden die Vorwürfe hin- und zurückgeworfen, und es wäre wohl gar eine tüchtige Prügelei entstanden, wenn die Yerbateros sich nicht Mühe gegeben hätten, die streitenden Parteien zu trennen.
Sich zunächst um die Hauptsache, nämlich den Wagen zu bekümmern, war noch keinem eingefallen. ich untersuchte ihn und fand, daß die beiden rechtseitigen Räder, auf denen die Kutsche jetzt lag, zerbrochen waren, das eine geradezu in Stücke.
Als ich das mitteilte, erhob sich der eben erst gestillte Lärm von neuem, denn der Mayoral erklärte, daß zunächst an eine Fortsetzung der Fahrt nicht zu denken sei. Er wolle versuchen, die Räderstücke durch Lassos zusammen zu binden. Das werde, selbst wenn es gelinge, lange Zeit in Anspruch nehmen, und dann könne man nur im Schritte weiter fahren.
Als die Dame, welche noch immer neben ihrem an der Erde liegenden Hutfutterale stand, dies vernahm, schrie sie:
»Welch ein Unglück! Welch ein Elend! Stundenlang warten! Und dann im Schritt fahren! Das darf ich nicht zugeben!«
Sie trat zum Mayoral, nahm eine sehr kampfesmutige Haltung an und schrie ihm in das vor Verlegenheit hochrote Gesicht:
»Sennor, behaupten Sie wirklich, daß wir nicht sofort aufbrechen können?«
»Das ist leider hier nicht zu ändern. Wir müssen versuchen, uns so leidlich wie möglich bis nach San Lucia zu schleppen. Vielleicht finden wir dort ein Fahrzeug.«
»Vielleicht finden wir, vielleicht! Sennor, auf Ihr Vielleicht kann ich mich nicht einlassen! Ich befehle Ihnen strengstens, ganz gewiß eine Kutsche zu finden, und jetzt sofort aufzubrechen!«
»Das ist unmöglich. Sie werden das einsehen!«
»Nichts sehe ich ein, ganz und gar nichts! Ich erkenne keine Unmöglichkeit an! Was ich verlange und wir alle verlangen, muß möglich gemacht werden. Wissen Sie, wer ich bin, Sennor?«
»Ich schmeichle mir, Sie allerdings oft gesehen zu haben, kann aber Ihre Frage nicht genau beantworten.«
»Ich bin die Schwester des Bürgermeisters von San José, heiße Sennora Rixio und bin die Gattin des Kauf- und Handelsmannes gleichen Namens. Wissen Sie es nun?«
Er bejahte durch eine stumme Verneigung.
»Und,« fuhr sie fort, »ich muß unbedingt auf das schnellste nach Hause. Ich habe heute abend eine Gesellschaft, eine großartige Tertullia, zu welcher die Vornehmsten der Stadt geladen sind. Ich kann meinen Pflichten nicht entsagen und die Gäste auf mich warten lassen. Ich bin die Leiterin, die Königin des gesellschaftlichen Lebens und darf mir nicht die Blöße geben, bei einer Tertullia zu fehlen, zu welcher ich selbst die Einladung erlassen habe. Sie haben alle Rücksicht auf diese meine Stellung zu nehmen und augenblicklich aufzubrechen!«
Die „Königin des gesellschaftlichen Lebens“ sagte das in einem Tone, welcher unter andern Verhältnissen geeignet gewesen wäre, jeden Versuch eines Widerspruches abzuschneiden. Die andern Passagiere, von denen glücklicherweise keiner eine wirkliche Verletzung davongetragen hatte, standen still umher. Sie sahen ein, daß es für sie am allerbesten sei, zu schweigen, da die energische Dame ihre Angelegenheit nach besten Kräften führen werde. Der Mayoral aber deutete kopfschüttelnd auf den Wagen und blieb bei seiner Behauptung:
»Es ist wirklich ganz unmöglich, Ihrem Wunsche nachzukommen. Sie müssen sich ebenso wie wir alle in die Notwendigkeit fügen!«
»Das fällt mir nicht im Schlafe ein! Ich bin wegen meiner Tertullia nach Montevideo gefahren, um mir einen Hut nach dem neuesten Pariser Muster zu holen. Den Hut habe ich und nun muß ich unbedingt heim, um ihn – — O Himmel!« unterbrach sie sich. »Dort liegt er an der Erde! Wie wird er aussehen! In welchem Zustande mag er sich befinden! Ihre Diligence geht mich nichts an; sie möchte immerhin zerschellt und zerbrochen sein; aber mein Hut, mein Hut! Welch ein schweres Geld habe ich zahlen müssen; nun ist er verschimpfiert, und ich soll außerdem zu spät zur Tertullia kommen! Ich glaube, ich falle in Ohnmacht, wenn ich die Schachtel öffne!«
Sie eilte zu der Stelle zurück, an welcher der Hut lag, und ich hob denselben auf, um ihn ihr hinzureichen. Kein Maler hätte es vermocht, das Gesicht wiederzugeben, welches sie machte, als sie die zusammengequetschte Form nun näher betrachtete, als es vorhin der Fall gewesen war. Nie wieder habe ich bei einer Dame ein so deutlich ausgesprochenes Herzeleid gesehen, auf einen erhofften Vorzug verzichten zu müssen. Die Klagen, welche sie ausstieß, hätten eigentlich Lachen erregen müssen, erweckten aber meine Teilnahme. Sie bemühte sich vergeblich, die verbogene Schachtel zu öffnen. Endlich warf sie dieselbe zur Erde und rief im höchsten Zorne:
»Ich kann nicht einmal zu dem Hute! Man hat mir auf denselben getreten. Das herrliche Frühjahrsmodell ist mir verdorben. Wer kann es mir ersetzen, und wer wird mich überhaupt entschädigen, wenn ich meine Tertullia versäume! Ich werde es meinem Bruder sagen, die ganze Gesellschaft einzusperren!«
Ich hob die weggeworfene Schachtel wieder auf, betrachtete sie und sagte in tröstendem Tone:
»Vielleicht läßt sich der Schaden wieder heilen, Sennora!«
»Das ist unmöglich! Sie sehen ja, wie zusammengedrückt das Dings ist! Man kann es ja nicht einmal öffnen!«
»Darf ich es versuchen?«
»Bitte, bitte, haben Sie die Güte! Vielleicht gelingt es Ihnen besser als mir.«
Es gelang mir allerdings besser, aber erst nach längerem Bemühen. Ich bog zunächst die Knillen der Schachtel aus und zog sodann das „Frühjahrsmodell“ aus derselben. O weh! Wie sah der Hut aus! Er war von sehr hoher Façon gewesen, jetzt aber ganz und gar zusammengedrückt. Die Sennora schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und schrie:
»Entsetzlich! Dieses Meisterstück ist mir für alle Zeit verdorben! Sieht es nicht wie die reinen Eierkuchen aus? Ich zittere vor Entsetzen! Der Schreck kann mich töten! So ein Unglück wurde noch niemals erlebt, von keinem Menschen!«
Ich untersuchte den Hut. Er bestand aus einer Façon aus dünnstem Drahte, welcher mit einem spinnwebfeinen Zeuge überzogen war. Der daraufliegende Grund war von schwarzem, dünnem Schleierstoffe, und der Ausputz bestand in einer seidenen Bandschleife, zwei aufgepufft gewesenen Rosetten und einer weißen Straußenfeder. Diese Teile befanden sich freilich in einem sehr tristen Zustande. Das Gesicht der Dame aber sah noch weit trauriger aus.
»Beruhigen