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Geschlecht und Charakter. Отто ВейнингерЧитать онлайн книгу.

Geschlecht und Charakter - Отто Вейнингер


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zwischen zwei Individuen sich entwickelt, denken und etwa gar A nach t zu differenzieren versuchen. Doch soll die Eitelkeit auf das »mathematische Gepränge« (Kant) niemand verleiten, an so komplizierte und schwierige Verhältnisse, an Funktionen, deren Stetigkeit eben sehr fraglich ist, schon mit einem Differentialquotienten heranzurücken. Was gemeint ist, leuchtet wohl auch so ein: sinnliches Verlangen kann zwischen zwei Individuen, die längere Zeit beisammen, besser noch: miteinander eingesperrt sind, sich auch entwickeln, wo vorher keines oder gar Abstoßung vorlag, ähnlich einem chemischen Prozesse, der sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, ehe merklich wird, daß er vor sich geht. Zum Teil hierauf beruht ja wohl auch der Trost, den man ohne Liebe Heiratenden mitzugeben pflegt: Das stelle sich »schon später« ein; es komme »mit der Zeit«.

      Man sieht: viel Wert ist auf die Analogie mit der Affinität im toten Chemismus nicht zu legen. Es schien mir aber aufklärend, derartige Betrachtungen anzustellen. Selbst ob die sexuelle Anziehung unter die Tropismen zu subsumieren ist, bleibt noch unentschieden, und keineswegs ist, auch wenn es für die Sexualität feststände, damit auch schon implicite etwas über die Erotik ausgemacht. Das Phänomen der Liebe bedarf noch einer anderen Behandlung, die ihm der zweite Teil zu geben versuchen soll. Dennoch bestehen zwischen den Formen, in denen leidenschaftlichste Anziehung selbst unter Menschen auftritt, und jenen Chemotropismen noch unleugbare Analogien; ich verweise auf die Schilderung des Verhältnisses zwischen Eduard und Ottilie eben in den »Wahlverwandtschaften«.

      Mit der Nennung dieses Romanes war bereits einmal ein kurzes Eingehen auf das Problem der Ehe gegeben, und einige Nutzanwendungen, welche aus dem Theoretischen dieses Kapitels für die Praxis folgen, sollen ebenfalls zunächst an das Problem der Ehe geknüpft werden. Das für die sexuelle Anziehung aufgestellte eine Gesetz, dem die anderen sehr ähnlich gebaut zu sein scheinen, lehrt nämlich, daß, weil unzählige sexuelle Zwischenstufen existieren, es auch immer zwei Wesen geben wird, die am besten zueinander passen. Insofern ist also die Ehe gerechtfertigt und »freie Liebe«, von diesem biologischen Standpunkte aus zu verwerfen. Freilich wird die Frage der Monogamie durch andere Verhältnisse, z. B. durch später zu erwähnende Periodizitäten wie auch durch die besprochene Veränderung des Geschmackes mit zunehmendem Alter, wieder bedeutend kompliziert und die Leichtigkeit einer Lösung vermindert.

      Eine zweite Folgerung ergibt sich, wenn wir uns der Heterostylie erinnern, insbesondere der Tatsache, daß aus der »illegitimen Befruchtung« fast lauter entwicklungsunfähige Keime hervorgehen. Dies legt bereits den Gedanken nahe, daß auch bei den anderen Lebewesen die stärkste und gesündeste Nachkommenschaft aus Verbindungen hervorgehen werde, in denen wechselseitige geschlechtliche Anziehung in hohem Ausmaße besteht. So spricht auch das Volk längst von den »Kindern der Liebe« in ganz besonderer Weise, und glaubt, daß diese schönere, bessere, prächtigere Menschen werden. Aus diesem Grunde wird, selbst wer keinen speziellen Beruf zum Menschenzüchter in sich fühlt, schon um der Hygiene willen die bloße Geldheirat, die sich von Verstandesehe noch erheblich unterscheiden kann, mißbilligen.

      Ferner dürfte auf die Tierzucht, wie ich nebenbei bemerken will, die Beachtung der Gesetze sexueller Anziehung vielleicht einen ziemlichen Einfluß gewinnen. Man wird zunächst den sekundären Geschlechtscharakteren, und dem Grade ihrer Ausbildung in den beiden zu kopulierenden Individuen mehr Aufmerksamkeit als bisher schenken. Die künstlichen Prozeduren, die man vornimmt, um Weibchen durch männliche Zuchttiere auch dann belegen zu lassen, wenn diese an jenen wenig Gefallen gefunden haben, verfehlen gewiß im einzelnen ihren Zweck keineswegs, sie sind aber im allgemeinen stets von irgend welchen üblen Folgen begleitet; die ungeheuere Nervosität beispielsweise der durch Unterschiebung falscher Stuten gezeugten Hengste, die man, trotz jedem modernen jungen Mann, mit Brom und anderen Medikamenten füttern muß, geht sicherlich in letzter Linie hierauf zurück, ähnlich wie an der körperlichen Degeneration des modernen Judentums nicht zum wenigsten der Umstand beteiligt sein mag, daß bei den Juden viel häufiger als irgend sonstwo auf der Welt die Ehen der Heiratsvermittler und nicht die Liebe zustande bringt.

      Darwin hat in seinen auch hierfür grundlegenden Arbeiten durch sehr ausgedehnte Experimente und Beobachtungen festgestellt, was seither allgemein bestätigt worden ist: daß sowohl ganz nahe verwandte Individuen als auch anderseits solche von allzu ungleichem Artcharakter einander sexuell weniger anziehen als gewisse »unbedeutend verschiedene«, und daß, wenn es trotzdem dort zur Befruchtung kommt, der Keim entweder in den Vorstadien der Entwicklung abstirbt oder ein schwächliches, selbst meist nicht mehr reproduktionsfähiges Produkt entsteht, wie eben auch bei den heterostylen Pflanzen »legitime Befruchtung« mehr und besseren Samen liefert als alle anderen Kombinationen.

      Es gedeihen also stets am besten diejenigen Keime, deren Eltern die größte sexuelle Affinität gezeigt haben.

      Aus dieser Regel, die wohl als allgemein gültig zu betrachten ist, folgt die Richtigkeit des bereits aus dem Früheren gezogenen Schlusses: Wenn schon geheiratet wird und Kinder gezeugt werden, dann sollen diese wenigstens nicht aus der Überwindung einer sexuellen Abstoßung hervorgegangen sein, die nicht ohne eine Versündigung an der körperlichen und geistigen Konstitution des Kindes geschehen könnte. Sicherlich bilden einen großen Teil der unfruchtbaren Ehen die Ehen ohne Liebe. Die alte Erfahrung, nach der beiderseitige sexuelle Erregung beim Geschlechtsakte die Aussichten der Konzeption erhöhen soll, gehört wohl auch teilweise in diese Sphäre und wird aus der von Anfang an größeren Intensität des Sexualtriebes zwischen zwei einander wohl ergänzenden Individuen leichter verständlich.

      IV. Kapitel.Homosexualität und Päderastie

      In dem besprochenen Gesetze der sexuellen Anziehung ist zugleich die – langgesuchte – Theorie der konträren Sexualempfindung, d. i. der sexuellen Hinneigung zum eigenen (nicht oder nicht nur zum anderen) Geschlechte enthalten. Von einer Distinktion abgesehen, die später zu treffen sein wird, läßt sich kühnlich behaupten, daß jeder Konträrsexuelle auch anatomisch die Charaktere des anderen Geschlechtes aufweist. Einen rein »psychosexuellen Hermaphroditismus« gibt es nicht; Männer, die sich sexuell von Männern angezogen fühlen, sind auch ihrem äußeren Habitus nach weibliche Männer, und ebenso zeigen jene Frauen körperlich männliche Charaktere, die andere Frauen sinnlich begehren. Diese Anschauung ist vom Standpunkte eines strengen Parallelismus zwischen Physischem und Psychischem selbstverständlich; ihre Durchführung fordert jedoch Beachtung der im zweiten Kapitel erwähnten Tatsache, daß nicht alle Teile desselben Organismus die gleiche Stellung zwischen M und W einnehmen, sondern verschiedene Organe verschieden männlich oder verschieden stark weiblich sein können. Es fehlt also beim sexuell Invertierten nie eine anatomische Annäherung an das andere Geschlecht.

      Schon dies würde genügen, um die Meinung derer zu widerlegen, welche den konträren Sexualtrieb als eine Eigenschaft betrachten, die von den betreffenden Individuen im Laufe des Lebens erworben wird und das normale Geschlechtsgefühl überdeckt. An eine solche Erwerbung durch äußere Anlässe im Laufe des individuellen Lebens glauben angesehene Forscher, Schrenck-Notzing, Kraepelin, Féré; als solche Anlässe betrachten sie Abstinenz vom »normalen« Verkehr und besonders »Verführung«. Was ist es aber dann mit dem ersten Verführer? Wurde dieser vom Gotte Hermaphroditos unterwiesen? Mir ist diese ganze Meinung nie anders vorgekommen, als wenn jemand die »normale« sexuelle Hinneigung des typischen Mannes zur typischen Frau als künstlich erworben ansehen wollte, und sich zur Behauptung verstiege, diese gehe stets auf Belehrung älterer Genossen zurück, die zufällig einmal die Annehmlichkeit des Geschlechtsverkehres entdeckt hätten. So wie der »Normale« ganz von selbst darauf kommt, »was ein Weib ist«, so stellt sich wohl auch beim »Konträren« die sexuelle Anziehung, welche Personen des eigenen Geschlechtes auf ihn ausüben, im Laufe seiner individuellen Entwicklung durch Vermittlung jener ontogenetischen Prozesse, die über die Geburt hinaus das ganze Leben hindurch fortdauern, von selbst ein. Natürlich wird eine Gelegenheit hinzukommen müssen, welche die Begierde nach der Ausübung homosexueller Akte hervortreten läßt, aber diese kann nur aktuell machen, was in den Individuen in größerem oder geringerem Grade bereits längst vorhanden ist und nur der Auslösung harrt. Daß bei sexueller Abstinenz (um den zweiten angeblichen Grund konträrer Sexualempfindung nicht zu übergehen) eben noch zu etwas anderem gegriffen werden kann als zur Masturbation, das ist es, was die Erwerbungstheoretiker erklären müßten; aber daß homosexuelle Akte angestrebt und ausgeführt werden, muß in der Naturanlage bereits begründet sein. Auch


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