Geschlecht und Charakter. Отто ВейнингерЧитать онлайн книгу.
muß, um sich zu verlieben. Aber wer das konträre Geschlechtsgefühl acquiriert sein läßt, gleicht gar einem Manne, der hierauf ausschließlich reflektierte und die ganze Anlage des Individuums, in Bezug auf die allein doch ein bestimmter Anlaß seine bestimmte Wirkung entfalten kann, ausschaltete, um ein an sich nebensächliches Ereignis des äußeren Lebens, eine letzte »Komplementärbedingung« oder »Teilursache« zum alleinigen Faktor des ganzen Resultates zu machen.
Ebensowenig als die konträre Sexualempfindung erworben ist, ebensowenig ist sie von den Eltern oder Großeltern ererbt. Dies hat man wohl auch kaum behauptet – denn dem widerspräche alle Erfahrung auf den ersten Blick —, sondern nur eine durchaus neuropathische Konstitution als ihre Bedingung hinstellen wollen, eine allgemeine hereditäre Belastung, die sich im Nachkommen eben auch durch Verkehrung der geschlechtlichen Instinkte äußere. Man rechnete die ganze Erscheinung zum Gebiete der Psychopathologie, betrachtete sie als ein Symptom der Degeneration, die von ihr Betroffenen als Kranke. Obwohl diese Auffassung nun viel weniger Anhänger zählt als noch vor etlichen Jahren, seitdem ihr früherer Hauptvertreter v. Krafft-Ebing in den späteren Auflagen seiner »Psychopathia sexualis« sie selbst stillschweigend hat fallen lassen, so ist doch noch immer die Bemerkung nicht unangebracht, daß die Menschen mit sexueller Inversion in allem übrigen ganz gesund sein können und sich, accessorische soziale Momente abgerechnet, nicht weniger wohl fühlen wie alle anderen gesunden Menschen. Fragt man sie, ob sie sich überhaupt wünschen, in dieser Beziehung anders zu sein, als sie sind, so erhält man gar oft eine verneinende Antwort.
Daß man die Homosexualität gänzlich isolierte und nicht in Verbindung mit anderen Tatsachen zu bringen suchte, ist schuld an all diesen verfehlten Erklärungsversuchen. Wer die »sexuellen Inversionen« als etwas Pathologisches oder als eine scheußlich-monströse geistige Bildungsanomalie betrachtet (die letztere ist die vom Philister sanktionierte Anschauungsweise) oder sie gar als ein angewöhntes Laster, als das Resultat einer fluchwürdigen Verführung auffaßt, der bedenke doch, daß unendlich viele Übergänge führen vom männlichsten Masculinum über den weiblichen Mann und schließlich über den Konträrsexuellen hinweg zum Hermaphroditismus spurius und genuinus und von da über die Tribade, weiter über die Virago hinweg zur weiblichen Virgo. Die Konträrsexuellen (»beiderlei Geschlechtes«) sind im Sinne der hier vertretenen Anschauung als Individuen zu definieren, bei denen der Bruch α um 0·5 herum schwankt, also sich von α' (vgl. S. 10) nicht weit unterscheidet, die also ungefähr ebensoviel vom Manne als vom Weibe haben, ja öfters mehr vom Weibe, obwohl sie als Männer, und vielleicht auch mehr vom Manne, obwohl sie als Weiber gelten. Entsprechend der nicht immer gleichmäßigen Verteilung der sexuellen Charakteristik über den ganzen Körper ist es nämlich sicher, daß häufig genug Individuen bloß auf Grund eines primären männlichen Geschlechtscharakters, auch wenn der Descensus testiculorum erst später erfolgt, oder Epi- oder Hypospadie da ist, oder später Azoospermie sich einstellt, oder auch wenn (beim weiblichen Geschlechte) Atresia vaginae bemerkt wird, unbedenklich in das eine Geschlecht eingereiht werden, welches jener Charakter angibt, z. B. eine männliche Erziehung genießen, zum Militärdienst u. s. w. herangezogen werden, obwohl bei ihnen α < 0·5, α' > 0·5 ist. Das sexuelle Komplement solcher Individuen wird demgemäß scheinbar auf der diesseitigen Hälfte sich befinden, auf der nämlichen, auf der sie selbst sich jedoch nur aufzuhalten scheinen, indes sie tatsächlich bereits auf der jenseitigen stehen. Übrigens – dies kommt meiner Auffassung zu Hilfe und wird anderseits erst durch sie erklärt – es gibt keinen Invertierten, der bloß konträrsexuell wäre. Alle sind von Anfang an nur bisexuell, d. h. es ist ihnen sowohl der Geschlechtsverkehr mit Männern als mit Frauen möglich. Es kann aber sein, daß sie selbst später aktiv ihre einseitige Ausbildung zu einem Geschlechte begünstigen, einen Einfluß auf sich in der Richtung der Unisexualität nehmen, und so schließlich die Hetero- oder die Homosexualität in sich zum Überwiegen bringen oder durch äußere Einwirkungen in einem solchen Sinne sich beeinflussen lassen; obwohl die Bisexualität hiedurch nie erlischt, vielmehr immer wieder ihr nur zeitweilig zurückgedrängtes Dasein zu erkennen gibt.
Daß ein Zusammenhang der homosexuellen Erscheinungen mit der bisexuellen Anlage jedes tierischen und pflanzlichen Embryo besteht, hat man mehrfach, und in jüngster Zeit mit steigender Häufigkeit eingesehen. Das Neue in dieser Darstellung ist, daß für sie die Homosexualität nicht einen Rückschlag oder eine unvollendete Entwicklung, eine mangelhafte Differenzierung des Geschlechtes bedeutet wie für jene Untersuchungen, daß ihr die Homosexualität überhaupt keine Anomalie mehr ist, die nur vereinzelt dastünde und als Rest einer früheren Undifferenziertheit in die sonst völlig vollzogene Sonderung der Geschlechter hereinragte. Sie reiht vielmehr die Homosexualität als die Geschlechtlichkeit der sexuellen Mittelstufen ein in den kontinuierlichen Zusammenhang der sexuellen Zwischenformen, die ihr als einzig real gelten, indes die Extreme ihr nur Idealfälle sind. Ebenso wie nach ihr alle Wesen auch heterosexuell sind, so sind ihr darum alle auch homosexuell.
Daß in jedem menschlichen Wesen, entsprechend dem mehr oder minder rudimentär gewordenen anderen Geschlecht, auch die Anlage zur Homosexualität, wenn auch noch schwach, vorhanden ist, wird besonders klar erwiesen durch die Tatsache, daß im Alter vor der Pubertät, wo noch eine verhältnismäßige Undifferenziertheit herrscht, wo noch nicht die innere Sekretion der Keimdrüsen vollends über den Grad der einseitigen sexuellen Ausprägung entschieden hat, jene schwärmerischen »Jugendfreundschaften« die Regel sind, die nie eines sinnlichen Charakters ganz entbehren, und zwar sowohl beim männlichen wie beim weiblichen Geschlecht.
Wer freilich über jenes Alter hinaus noch sehr von »Freundschaft« mit dem eigenen Geschlecht übermäßig schwärmt, hat schon einen starken Einschlag vom anderen in sich; eine noch weit vorgerücktere Zwischenstufe markieren aber jene, die von Kollegialität zwischen den »beiden Geschlechtern« begeistert sind, mit dem anderen Geschlecht, das ja doch nur das ihrige ist, ohne über die eigenen Gefühle wachen zu müssen, kameradschaftlich verkehren können, von ihm zu Vertrauten gemacht werden, und ein derartiges »ideales«, »reines« Verhältnis auch anderen aufdrängen wollen, die es weniger leicht haben, rein zu bleiben.
Es gibt auch keine Freundschaft zwischen Männern, die ganz eines Elementes von Sexualität entbehrte, so wenig damit das Wesen der Freundschaft bezeichnet, so peinlich sie vielmehr gerade dem Gedanken an die Freundschaft, so entgegensetzt sie der Idee der Freundschaft ist. Schon daß keine Freundschaft zwischen Männern werden kann, wenn die äußere Erscheinung gar keine Sympathie zwischen beiden geweckt hat, weil sie dann eben einander nie näher treten werden, ist Beweis genug für die Richtigkeit des Gesagten. Sehr viel »Beliebtheit«, Protektion, Nepotismus zwischen Männern geht auf solche oft unbewußt geschlechtliche Verhältnisse zurück.
Der sexuellen Jugendfreundschaft entspricht vielleicht ein analoges Phänomen bei älteren Männern: dann nämlich, wenn mit einer greisenhaften Rückbildung der im Mannesalter einseitig entwickelten Geschlechtscharaktere die latente Amphisexualität wieder zu Tage tritt. Daß so viele Männer von 50 Jahren aufwärts wegen verübter »Unsittlichkeitsdelikte« gerichtlich belangt werden, hat möglicherweise dies zur Ursache.
Endlich sind homosexuelle Akte in nicht geringer Zahl auch bei Tieren beobachtet worden. Die Fälle (nicht alle) hat aus der Literatur in verdienstvoller Weise F. Karsch zusammengestellt. Leider geben die Beobachter kaum je etwas über die Grade der »Maskulität« und »Muliebrität« bei diesen Tieren an. Dennoch kann kein Zweifel sein, daß wir es hier mit einem Beweise der Gültigkeit unseres Gesetzes auch für die Tierwelt zu tun haben. Wenn man Stiere längere Zeit in einem Raume eingesperrt hält, ohne sie zu einer Kuh zuzulassen, so kann man mit der Zeit konträrsexuelle Akte zwischen ihnen wahrnehmen; die einen, die weiblicheren, verfallen früher, die anderen später darauf, manche vielleicht auch nie. (Gerade beim Rinde ist die große Zahl sexueller Zwischenstufen bereits festgestellt.) Dies beweist, daß eben die Anlage in ihnen vorhanden ist, sie nur vorher ihr Bedürfnis besser befriedigen konnten. Die gefangen gehaltenen Stiere benehmen sich eben nicht anders, als es so oft in den Gefängnissen der Menschen, in Internaten und Konvikten, hergeht. Daß die Tiere ebenfalls nicht nur die Onanie (die bei ihnen so wie beim Menschen vorkommt), sondern auch die Homosexualität kennen, darin erblicke ich, nachdem es auch unter ihnen sexuelle Zwischenformen gibt, eine der stärksten Bestätigungen des aufgestellten Gesetzes der sexuellen Anziehung.
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