Hotel Amerika. Maria LeitnerЧитать онлайн книгу.
große Reisen ersparen, wenn Sie sie nur genau studieren. Ungarn und China, Schweden und Japan, bitte, hier sitzt alles zusammen. Die Ausgestoßenen aus allen Teilen der Welt haben sich in dieser Stadt ein Rendezvous gegeben. Sie können hier im Hotel Amerika glänzende Studien machen. Wie?«
»Nun, man tut seine Arbeit, da hat man keine Zeit zu Studien, mein Herr, und dann hat man auch seine eigenen Sorgen und kümmert sich nicht soviel um die der anderen.«
Aber der ›schöne Alex‹ beginnt doch aufzumerken. Ob er hier Studien macht? Das klingt gut. Aber es scheint, dass dieser merkwürdige Gast etwas Bestimmtes von ihm will. Man wird ja sehen.
»Sie haben hier im Hotel allein ein Dutzend Restaurants, nicht wahr?«
Der ›schöne Alex‹ winkt zum Zeichen der Bejahung mit seiner Serviette.
»Sie bedienen wohl auch abends gelegentlich im großen Ballsaal?«
Der ›schöne Alex‹ beginnt aufzuhorchen. Jetzt kommt's doch, man wird ja hören, was der gesprächige Mann will.
»Na ja, es kommt schon vor.«
»Heute abend?«
»Mag schon sein, müsste mal nachsehen.« Der ›schöne Alex‹ langt nach seinem Notizbuch und überlegt. Man muss schlau sein. Dem jungen Mann da, der gar soviel spricht, geht es wahrscheinlich nicht so gut, wie er den Anschein geben möchte. Menschen, denen es gut geht, reden nicht soviel mit einem Kellner, man hat schon so seine Erfahrungen. Aber mit Menschen, denen es schlecht geht, kann man wiederum gute Geschäfte machen. Er blättert in seinem Notizbuch. »Ja, heute abend ist große Hochzeit.«
»Die Hochzeit Marjorie Strongs mit Edgar Sedwick?«
»Mich interessieren die Namen nicht, aber es wird schon stimmen.«
»So etwas aus der Nähe zu sehen, das würde mich interessieren – ich meine als dienstbarer Geist, nicht als Gast.« Der ›schöne Alex‹ ist jetzt ganz Ohr. »Hm, hm, so was lässt sich aber nur schwer durchführen … Und warum gehen Sie nicht als Gast, mein Herr? Lassen Sie sich doch eine Einladung geben. Ich muss schon sagen, ich möchte mir so ein Fest lieber als Gast ansehen, das würde mir mehr Spaß machen.«
»Nun, erstens, sehen Sie, ist das auch mit einer Einladung nicht so einfach, und dann, wie ich Ihnen schon gesagt habe, möchte ich einmal ein solches gesellschaftliches Ereignis aus einer anderen Perspektive, von der anderen Seite ansehen.«
»Was Sie sich wohl denken, Herr? Dabei gibt es doch gar nichts zu sehen. Wenn man arbeitet, hat man keine Zeit zum Sehen und auch kein Interesse dafür. Haben Sie eine Ahnung, mein Herr, wie es bei uns zugeht, wie man rennen, wie man aufpassen muss!«
»Na, sehen Sie, deshalb will ich doch eine Ahnung von der ganzen Sache bekommen.«
»Aber warum wenden Sie sich gerade an mich? Wie sollte ich Ihnen denn helfen?«
»Man hat mich zu Ihnen gewiesen, Sie sind als fixer Kerl bekannt, mein Lieber; man hat mir erzählt, dass Sie nicht abgeneigt sind, kleine Nebeneinnahmen zu erzielen, ohne Risiko, versteht sich.«
»Ich möchte wohl wissen, wer Ihnen das von mir erzählt hat; da hat man Sie schön angeführt, Herr.«
»Also, ich könnte auf Sie nicht rechnen, meinen Sie?Ich habe natürlich auch Adressen von anderen Kellnern.«
»Habe ich Ihnen vielleicht ›nein‹ gesagt? Kann man überhaupt ›ja‹ oder ›nein‹ sagen, wenn man nicht weiß, um was es sich handelt?«
»Sie sind zu klug, als dass Sie nicht erraten hätten, was ich will. Leihen Sie mir Ihre Arbeitskarte und Nummer für heute abend, das ist alles, verstehen Sie jetzt?«
»Verstehen kann ich nicht, wie jemand zu so etwas Lust haben kann. Eine Hochzeit ist kein Spaß, für niemanden, mein Herr, aber für die Kellner schon ganz gewiss nicht. Sie wollen also Kellner spielen, darauf läuft wohl Ihr Vorschlag hinaus?«
»Passen Sie auf, Sie können heute einen freien Abend haben und mich zur Aushilfe schicken, – und der Verdienst gehört doch Ihnen.«
»Dass ich nicht lach', mein Herr, meine Stellung soll ich aufs Spiel setzen und nicht mehr haben, als das, was Sie verdienen können? Glauben Sie denn, es ist so leicht, Kellner zu werden, dass es nicht auch eine Kunst ist, die gelernt werden muss.«
»Beruhigen Sie sich, ich werde schon meine Sache gut machen, ich war schon Kellner, ich war schon alles. Sie würden schwer einen Beruf ausfindig machen, den ich nicht schon ausgeübt hätte.«
»So, Sie waren früher Kellner? Vorhin erzählten Sie etwas von einer Perspektive, die Sie studieren möchten. Wenn Sie schon Kellner waren, warum wollen Sie jetzt wieder einer sein? Wenn man den Dreh kennt und nicht unbedingt Geld zum Leben braucht, hat man keine Sehnsucht, noch einmal anzufangen.«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich will dieses bestimmte gesellschaftliche Ereignis von der Hintertreppe aus sehen.«
Alex überlegt schnell. Was will eigentlich der Bursche? Juwelen stehlen? Armer Mensch, der würde seine Enttäuschungen erleben. Auf jeden Gast kommt ein Detektiv und auf jeden Kellner kommen zwei. Da könnte er schon leichter Juwelen auf der Fifth Avenue klauen. Andererseits: Unannehmlichkeiten könnte ich ja doch nicht haben, wenn ich ihn auch wirklich einschmuggelte; ich wüsste schon, wie ich mich ausreden würde. Und es würde ihm schon Hören und Sehen vergehen, wenn ihn unsere »Kapitäne« hin und her kommandieren.
Er lässt seine Augen über Herrn Fish auf- und abwandern. »Mein Herr, Sie glauben, es ist so leicht, im Hotel Amerika als Kellner eingestellt zu werden. Ich bin nicht eingebildet, aber sehen Sie sich mal meine Figur an, sehen Sie sich mein Profil an. Wer Kellner im Hotel Amerika werden will, noch dazu Aushilfskellner bei einer erstklassigen Hochzeit, der muss über ein tadelloses Äußeres verfügen, mein Herr. Ein Tenor kann einen Bauch haben, ein Liebhaber auf der Bühne krumme Beine, aber ein Kellner im Hotel Amerika muss aussehen, dass die Leute Appetit bekommen, wenn sie ihn erblicken. Wenn Sie nur eine Pustel haben, schickt Sie der Ober nach Hause.«
Der Kerl ist unverschämt, denkt Herr Fish. Aber er lässt sich auf keine weitere Diskussion mehr ein. »Also hören Sie, Sie leihen mir heute abend Ihren Frack, Ihre Nummer und Ihre Arbeitskarte. Ich wette, keiner wird merken, dass ein anderer Kellner zur Arbeit angetreten ist, trotz Ihres vollkommenen Profils. Machen Sie sich also keine Sorgen.«
»Mein Herr, Sie denken, Sie können nur so ohne weiteres über mich verfügen, das Ganze muss noch genau überlegt werden. Wie soll es sich mit meinem entgangenen Verdienst verhalten?«
»Wie viel pflegen Sie an solchem Abend einzunehmen?«
»Na ja, 25 Dollar ist das wenigste«, – der ›schöne Alex‹ ist der Meinung, dass es nichts schaden kann, wenn er seine Verdienstmöglichkeiten vergrößert – »multiplizieren wir diesen Betrag mit sechs, und dann will ich noch über die Angelegenheit nachdenken.«
»Sie wollen mich ganz ausplündern?«
»Wir brauchen über die Sache ja nicht weiter zu reden.«
»Also mit vier.«
»Mit fünf, oder ich spreche kein Wort mehr.« Der ›schöne Alex‹ sieht Zahlen vor seinen Augen. Eintausenddreihundertfünfundsiebzig Dollar hat er auf der Sparkasse, kämen heute abend noch die hundertfünfundzwanzig Dollar dazu, so hätte er rund eintausendfünfhundert. Die Hälfte der Summe, die er unbedingt haben will. Mit dreitausend Dollar könnte er in der 81. Straße schon etwas anfangen, aber wann wird er so weit sein? Auf der Sparkasse hat er erst eintausenddreihundertfünfundsiebzig, das sind sechs Jahre Bücklinge, das sind Geschirrwaschen in einem schmutzigen Lokal in Cherry Street, Nachtarbeit in einer Matrosenkneipe in Hoboken, vierzehn Stunden Arbeit bei vierzig Grad Wärme in einem Seebad. Das ist Schöntun bei der Witwe Lohengreen, das sind Entsagungen an freien Tagen, das sind schmutzige kleine Dienste, die schlecht bezahlt werden. Ein Sparkassenbuch über eintausenddreihundertfünfundsiebzig Dollar, das sind sechs Jahre Robot, Qual und Dreck, und er braucht dreitausend. Zum Teufel auch, es wäre Zeit, dass auch er einmal Glück hätte! »Mit vier«, sagt Herr Fish, der schon viel auf eine Karte gesetzt hat. »Sie bekommen Ihr Geld, wenn Sie mir die Arbeitskarte und die Uniform übergeben. Was tragen