Aus halbvergessenem Lande: Culturbilder aus Dalmatien. Theodor SchiffЧитать онлайн книгу.
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Theodor Schiff
Aus halbvergessenem Lande: Culturbilder aus Dalmatien
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2021
EAN 4064066113537
Inhaltsverzeichnis
Arme Seelen als Schiffsrheder.
Die Pestgräber von Botticelle.
Jacuve Ciciola und seine Liebe.
Der Frau Mare Kargotic Gesang.
Don Martine von Karakaschitza.
Ein Gerichtstag in der Morlakei.
Der Gouverneur von Scoglio Stipansko.
Einleitung
Ein schmaler Streifen Landes, lang gestreckt und dünn bevölkert, liegt Dalmatien fernab vom emsigen Verkehre der Völker, eingeschlossen zwischen dem massigen Gebirgsgrat der türkischen Grenze und den ruhelosen Wogen des Meeres.
Die Söhne des alten Hellas hatten einst seine Inseln bevölkert – und die heitere Sitte ihres Vaterlandes war mit ihnen eingezogen in die neue Erde. Die stolze Roma hatte ihren wuchtigen Arm ausgestreckt über die lachende Küste – und wie mit einem Zauberschlage wuchsen blühende, reich bevölkerte Städte, wuchsen riesige Paläste hervor, und schöne Tempel in heiterem Säulenschmucke spiegelten sich in den Fluthen der Adria. Barbarenhorden brachen in das Land, Schrecken, Tod und Verderben in ihrem – Gefolge und zugleich mit ihnen hielt das Christenthum seinen stillen Einzug, siegreich in seiner holden Demuth, freiheitkündend in seiner sanften göttlichen Lehre. Das finstere, gewaltthätige Ritterthum entvölkerte mit seinen Kreuzzügen Europa – und Richard Löwenherz fand in Ragusa eine Freistatt. Der erste Napoleon hatte das Land mit seinen Geierkrallen erfasst, und in den kurzen Jahren seines Besitzes hoben sich der Handel und die Industrie des Landes zu nie geahnter Blüthe.
Und heute?
Die erlauchte Krämer-Republik Venedig hat Dalmatiens Forste ausgerodet, – türkische Barbarei in demselben ihre blutigen Zeichen gelassen, – das reichbegabte und dabei so arme Volk verkümmert jetzt in seiner Einsamkeit und das Gespenst des Hungers hält alljährlich seinen Umzug durch die schauerlich nackten Felsengebirge. Heute hat sich die Weltgeschichte abgewendet von dem schönen armen Lande, das in unthätiger Ruhe langsam dahinsiecht, – heute spricht man von Dalmatien wie von einer sagenhaften Erde, und von seinem Volke wie von verklungenen Geschlechtern.
Darum habe ich es versucht, den Schleier zu lüften, der über Dalmatien liegt und über seinen Bewohnern. Ich habe nichts erdichtet und nichts erfunden, sondern einfach erzählt, was ich im Laufe langer Jahre dort gesehen, und die Erinnerungen niedergeschrieben, die mir geblieben sind aus dem Vaterlande meiner Kinder – aus dem halbvergessenen Lande.
Wien im September 1875.
Theodor Schiff.
Aus halbvergessenem Lande.
Die alte Zanetta.
Ein abgeschnittener Kopf.
Die alte Zanetta sass auf ihrem uralten Lehnstuhl und liess sich's wohl geschehen. An einem spiessartigen Stück Holz, das sie durch das Band der breiten grossblumigen Schürze gesteckt hatte, war der Flachs befestigt, den sie mit den knöchernen Fingern ihrer linken Hand langsam herabzupfte, und in der rechten Hand liess sie das länglichrunde Holz »il fuso« kreisen, um das sich das gesponnene Garn wickelte. Auf ihrem Kopfe lagen zwei grosse Krautblätter und über denselben ein viereckig gefaltetes schneeweisses Tuch. Signora Zanetta behauptet seit dreissig Jahren täglich, dass sie heute Kopfschmerzen habe, und dass sie nur frische Krautblätter durch vierundzwanzig Stunden auf den Kopf zu legen brauche, um den Kopfschmerz für immer zu vertreiben. Und darum trägt sie seit dreissig Jahren Krautblätter auf dem Kopf und darüber das viereckig gefaltete weisse Tuch, was zusammen den Eindruck eines bösartigen Turbans exotischer Herkunft hervorbringt. Ein von tausend Runzeln durchfurchtes Gesicht, dessen Mund noch eine untadelhafte Reihe blendend weisser Zähne zeigte, ein verblichenes, aber höchst sauber gehaltenes Kleid, an den zusammengeschrumpften Füssen reine weisse Strümpfe und ein paar türkische Schuhe von dickem rothen Leder, sass die Signora Zanetta auf ihrem Lehnstuhl und um sie schwirrten die Schwärme von Fliegen, wie sie die dreissig Grad Hitze eines Julitages in Spalato zu erzeugen vermögen.
Ein grosses Gemach mit niedriger Decke – an den Wänden rohe Alfresco-Malereien, sämmtlich Theile der Seeküste darstellend, an welcher Herren und Damen in altväterischer Tracht lustwandeln, während in der Ferne der ruhig glänzende Spiegel des Meeres