Gesammelte Werke. Джек ЛондонЧитать онлайн книгу.
erwartungsvoll an, als dächte sie, daß er anderen Sinnes würde. »Sie wissen doch, daß Fußballspieler für den Wettkampf trainieren müssen. Und das bedeutet Latein für den denkenden Menschen. Es trainiert ihn.«
»Unsinn! Das hat man uns erzählt, als wir Kinder waren. Aber etwas hat man uns damals nicht erzählt. Das mußten wir später herausfinden.« Olney machte, um seine Worte wirkungsvoller zu machen, eine Pause und fügte dann hinzu: »Was man uns nicht erzählte, war, daß jeder Gebildete Latein hätte lernen sollen, daß aber kein Gebildeter Latein kann.«
»Nein, das ist kein ehrliches Spiel!« rief Ruth. »Ich wußte, daß Sie das Gespräch auf eine andere Bahn bringen würden, um Gelegenheit zu haben, eines ihrer Paradoxe anzubringen.«
»Es ist zwar ein Paradox,« antwortete er, »aber dabei doch ein vollkommen ehrliches Spiel. Die einzigen Menschen, die Latein können, sind Apotheker, Juristen und die Lateinlehrer. Und ich würde mich sehr wundern, wenn Martin zu einem dieser Berufe Lust hätte. Aber was hat das übrigens mit Herbert Spencer zu tun? Martin hat soeben Spencer entdeckt und ist ganz wild auf ihn. Warum? Weil Spencer ihn zu einem Ziele führt. Wir haben kein Ziel, auf das wir losgehen. Sie verheiraten sich natürlich eines Tages, und ich brauche nur die Anwälte und Agenten, die das mir von meinem Vater hinterlassene Geld verwalten, an den Ohren zu halten.«
Olney erhob sich, um zu gehen. Aber in der Tür wandte er sich noch einmal um und schoß den letzten Pfeil auf Ruth ab.
»Lassen Sie Martin nun in Frieden, Ruth! Er weiß selbst, was ihm not tut. Sehen Sie, was er schon erreicht hat! Er macht mich manchmal ganz elend und schamvoll – elend und schamvoll über mich selbst. Er weiß tatsächlich von der Welt und dem Leben, dem Platz der Männer im Leben und alledem weit mehr als Arthur und ich, ja, auch als Sie, und das trotz all unserm Latein, Französisch, Angelsächsisch und unserer allgemeinen Bildung.«
»Aber Ruth ist meine Lehrerin«, antwortete Martin ritterlich. »Das wenige, das ich weiß, habe ich ihr zu verdanken.«
»Unsinn!« Olney sah Ruth boshaft an. »Schließlich wollen Sie mir noch erzählen, daß Sie Spencer auf Ruths Empfehlung gelesen haben – aber das ist nicht wahr. Denn sie weiß von Darwin und der Entwicklungslehre nicht mehr als ich von König Salomons Minen. Was war das für eine halsbrecherische Definition von irgend etwas bei Spencer, mit der Sie uns neulich erheiterten? – Diese unbestimmte, unzusammenhängende Bemerkung von der Gleichartigkeit der Dinge? Fragen Sie sie, und Sie werden sehen, daß sie nicht ein Wort davon versteht! Das ist nicht allgemeine Bildung, verstehen Sie. Na ja! Und wenn Sie mit Latein anfangen, Martin, dann habe ich keine Achtung mehr vor Ihnen.«
War Martin einerseits dem Gespräch mit großem Interesse gefolgt, so ärgerte er sich anderseits irgendwie darüber. Es hatte von Studium und Unterricht gehandelt, Gegenständen, die mit den elementarsten Kenntnissen zu tun hatten, und der schulknabenhafte Ton stand in scharfem Gegensatz zu den großen Gefühlen, die sich in ihm regten – zu dem Griff ins Leben, der seine Finger sich wie Adlerkrallen krümmen ließ, zu dem kosmischen Gefühl, das ihn durchschauerte, und zu dem dämmernden Bewußtsein, daß er alles beherrschen konnte. Er verglich sich selbst mit einem Dichter, der an fremden Küsten Schiffbruch erlitten hat und stammelnd den vergeblichen Versuch macht, in der plumpen barbarischen Sprache seiner neuen Landsleute zu singen. So ging es ihm. Er war sich der großen, universellen Dinge bewußt, peinlich bewußt, und doch war er genötigt, unter Gegenständen herumzutasten und zu suchen, die für Schulknaben geeignet waren, und sich darüber zu streiten, ob er Latein lernen sollte oder nicht.
»Zum Donnerwetter, was hat Latein damit zu tun?« fragte er, als er abends vor seinem Spiegel stand. »Ich wünsche, daß Tote tot blieben. Warum soll ich und all die Schönheit, die in mir wohnt, von Toten beherrscht werden? Schönheit ist lebendig und ewig. Sprachen kommen und gehen. Sie sind der Staub des Todes.«
Gleich darauf fiel ihm ein, daß er seine Gedanken ausgezeichnet formuliert hätte, und als er im Bett lag, dachte er darüber nach, warum er sich nicht so ausdrücken konnte, wenn er mit Ruth zusammen war. In ihrer Gegenwart war er nur ein Schulknabe, mit der Sprache eines Schulknaben.
»Laßt mir Zeit«, sagte er laut. »Laßt mir nur Zeit.«
Zeit! Zeit! Zeit! war seine ewige Klage.
Vierzehntes Kapitel
Zwar nicht Olneys wegen, aber trotz Ruth und seiner Liebe zu ihr entschloß Martin sich, nicht Latein zu lernen. Für ihn bedeutete Zeit Geld. Es gab so vieles, das wichtiger war als Latein, so vieles, das er lernen mußte. Und er mußte schreiben. Er mußte Geld verdienen. Es war noch nichts angenommen worden. Vier Dutzend Manuskripte reisten von einer Zeitschrift zur andern. Wie machten es die andern nur? Er verbrachte viele Stunden in den Lesehallen, las, was andere geschrieben hatten, studierte ihre Arbeiten eifrig und kritisch, verglich sie mit seinen eigenen und dachte immer wieder darüber nach, welche heimlichen Tricks sie angewandt hatten; um ihre Arbeiten zu verkaufen.
Er war erstaunt über den ungeheuren Haufen bedruckten, toten Papiers. Kein Licht, kein Leben, keine Farbe war darin zu entdecken. Nicht der geringste Hauch von Leben war darin, und doch wurde es für zwei Cent das Wort, zwanzig Dollar für tausend Wörter verkauft – das hatte ja in den Zeitungsausschnitten gestanden. Er wunderte sich über eine Unzahl von Kurzgeschichten, die, wie er zugeben mußte, leicht und flüssig geschrieben waren, denen aber jede Lebenskraft und jeder Wirklichkeitssinn fehlten. Das Leben war so unerklärlich und wunderbar, voll von einer Unendlichkeit von Problemen, Träumen und heroischen Bemühungen, und dennoch handelten diese Erzählungen nur von den alltäglichsten Dingen. Er fühlte, wie das Leben an ihm riß und zerrte, das Leben mit seinen Fieberphantasien, seinem Kampf und seinem wilden Aufruhrsdrang, ja, und diese Dinge sollten es doch sein, über die man schreiben mußte. Was er verherrlichen wollte, waren die Träger verlorener Hoffnungen, die tollen Liebhaber, die Giganten, die unter tausend Mühen, inmitten von Schrecken und Tragödien mit einer Heftigkeit kämpften, daß das Leben in seinen Fugen krachte. Und doch schienen diese Erzählungen in den Zeitschriften kein anderes Ziel zu haben, als Männer wie Charles Butler, schmutzige Goldjäger und einfache kleine Liebesgeschichten einfacher kleiner Menschen zu verherrlichen. Kam das daher, daß die Redakteure selbst kleine einfache Menschen waren? Oder fürchteten sie sich vor dem Leben – diese Autoren, Redakteure und Leser?
Das Schlimmste aber war, daß er nicht einen einzigen Redakteur oder Schriftsteller kannte. Und nicht nur das, er kannte nicht einen Menschen, der je zu schreiben versucht hatte. Keiner konnte ihm Bescheid sagen und ihm auch nur den armseligsten Rat erteilen. Er begann zu zweifeln, daß die Redakteure wirklich lebten. Sie waren wie Räder in einer Maschine. Das war es, es war – eine Maschine. Er erschöpfte seine ganze Seele in Erzählungen, Aufsätzen und Gedichten, die er dann der Maschine überließ. Er faltete sie zusammen, legte die nötigen Briefmarken bei, schloß den Umschlag, klebte noch einige Marken darauf und warf den Brief in den Briefkasten. Dann reiste das Manuskript durchs ganze Land, und nach einer Weile brachte der Briefträger es ihm in einem neuen Umschlag wieder, auf den die Briefmarken geklebt waren, die er dem ersten beigelegt hatte. Es gab keine menschlichen Redakteure am andern Ende, nur eine sehr sinnreiche Anordnung von Rädern, die das Manuskript aus dem einen Umschlag in den andern tat und die Briefmarken darauf klebte. Es war wie bei Automaten, in die man einen Groschen warf, und die dafür Kaugummi oder eine Tafel Schokolade lieferten. Ob es Schokolade oder Kaugummi wurde, hing davon ab, in welchen Einwurf man den Groschen tat. Ebenso ging es mit der Redaktionsmaschine. Die eine lieferte Schecks, die andere gedruckte Absagen. Bis jetzt hatte er nur den zweiten Einwurf gefunden. Diese gedruckten Absagen waren es, die die unheimliche Ähnlichkeit mit der Maschine vollkommen machten. Sie waren stets in derselben Form gehalten, und er hatte Hunderte von ihnen empfangen – ein Dutzend oder mehr für jedes seiner früheren Manuskripte. Hätte er in einer einzigen dieser Absagen auch nur eine einzige, von einem Redakteur persönlich geschriebene Zeile erhalten, so würde ihn das getröstet haben. Aber nicht ein einziger Redakteur hatte einen solchen Beweis seiner Existenz geliefert, und so konnte er nur zu dem Schlusse kommen, daß es am andern Ende keine Menschen, wirkliche