Gesammelte Werke. Джек ЛондонЧитать онлайн книгу.
jahrelang die Maschine zu füttern; aber er verblutete, und der Kampf mußte nicht in Jahren, sondern in Wochen entschieden sein. Mit jeder Woche, die er Kost und Logis bezahlte, rückte das Verderben näher, und das Porto für die vier Dutzend Manuskripte war ein fast ebenso schlimmer Aderlaß. Er kaufte sich keine Bücher mehr und versuchte, in Kleinigkeiten zu sparen, um so die unvermeidliche Katastrophe abzuwenden; aber er verstand nicht zu sparen und rückte den Abschluß des Kampfes nur näher, indem er seiner Schwester Marian einmal fünf Dollar für ein Kleid schenkte.
Er kämpfte im Finstern, ohne Rat, ohne Ermunterung. Niemand glaubte an ihn, ja selbst Gertrude begann ihn scheel anzusehen. Anfangs hatte sie sich mit schwesterlicher Liebe in das gefunden, was sie für seine fixe Idee hielt, jetzt aber machte gerade ihre schwesterliche Sorge sie ängstlich. Ihr schien, daß seine fixe Idee zum reinen Wahnsinn würde. Martin wußte das, und es quälte ihn mehr als der offene Spott und die Verachtung Bernard Higginbothams. Martin glaubte an sich, aber er stand allein in seinem Glauben. Nicht einmal Ruth glaubte an ihn. Sie hatte gewollt, daß er sich seinen Studien widmete, und wenn sie seine Schriftstellerei auch nicht direkt mißbilligt hatte, so hatte sie sie doch auch nicht gebilligt.
Er hatte sich nie erboten, ihr seine Arbeiten zu zeigen. Ein gewisses Feingefühl hatte ihn daran gehindert. Außerdem hatte das Studium sie sehr in Anspruch genommen, und er wollte ihre Zeit nicht gern stehlen. Als sie aber ihr Examen bestanden hatte, bat sie ihn selbst, ihr etwas von seiner Arbeit zu zeigen. Martin war begeistert, fürchtete sich aber gleichzeitig nicht wenig. Sie mußte doch eine gute Richterin sein. Sie hatte bei tüchtigen Lehrern Literatur studiert. Vielleicht waren die Redakteure auch gute Richter. Aber bei ihr war es ganz anders. Sie würde ihm keine gedruckte Absage schicken und ihm auch nicht mitteilen, daß seine Arbeit zwar nicht angenommen werden könnte, daß damit aber nicht gesagt sei, daß sie nicht doch vielleicht gute Seiten haben könnte. Sie würde wie ein warmes, lebendiges, menschliches Wesen sprechen, schnell und lebhaft wie immer, und was das allerwichtigste war – sie würde einen Schimmer des richtigen Martin Eden finden. Sie würde durch seine Arbeit sehen, was in seinem Herzen und seiner Seele wohnte, und sie würde etwas – ein klein wenig – von dem verstehen, was seine Träume und seine Fähigkeiten ausmachte.
Martin suchte ein paar Erzählungen heraus, bedachte sich einen Augenblick und legte dann »Seelyrik« dazu. Dann bestiegen sie an einem warmen Juninachmittag ihre Räder und fuhren in die Berge. Es war das zweitemal, daß er allein mit ihr draußen war, und als sie durch die warme balsamische Luft fuhren, die ein schwaches Lüftchen vom Meer angenehm kühlte, fühlte er in tiefster Seele, daß es eine wunderschöne und wohlgeordnete Welt, und daß es herrlich war, zu leben und zu lieben. Sie ließen ihre Räder am Wegrand stehen und kletterten auf einen Erdhügel, dessen sonnenverbranntes braunes Gras einen herben Duft von trockener Süße und Zufriedenheit ausströmte.
»Das hat seine Pflicht getan«, sagte Martin, als sie sich niederließen, sie auf seinen Mantel, während er sich der Länge nach auf den warmen Boden warf. Er sog den süßen Duft ein, der ihm ins Gehirn drang und seine Gedanken sich mit rasender Schnelligkeit vom Besondern zum Allgemeinen bewegen ließ. »Das hat seine Existenzberechtigung erwiesen«, fuhr er fort und strich zärtlich über das trockene Gras. »Es erwachte zu Leben und Ehrgeiz in den traurigen Regengüssen des letzten Winters, es kämpfte gegen die Gewalt des Frühlings, blühte und lockte Insekten und Bienen an, verstreute seine Saat, vervielfältigte sich mit seinen Pflichten und seiner Welt und –«
»Warum sehen Sie die Dinge immer so schrecklich praktisch an?« unterbrach sie ihn.
»Wohl weil ich die Entwicklungslehre studiert habe. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich erst ganz vor kurzem zu sehen begonnen.«
»Aber mir scheint, Sie verlieren die Schönheit aus den Augen, wenn Sie so praktisch sind, vernichten die Schönheit wie Knaben, die Schmetterlinge fangen und den Staub von den schönen Flügeln streifen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Schönheit hat ihre Bedeutung, aber die habe ich bisher nicht gekannt. Ich habe Schönheit nur als etwas Sinnloses betrachtet, als etwas, das nur schön war, ohne Sinn und Verstand. Ich wußte nichts von Schönheit. Jetzt aber weiß ich Bescheid, oder vielmehr, ich fange an, Bescheid zu wissen. Dies Gras ist schöner in meinen Augen, seit ich den geheimen chemischen Prozeß von Sonne, Regen und Erde kenne, der es zu Gras macht. In der Lebensgeschichte jedes Grashalms ist Romantik – ja, und etwas von einem Märchen. Schon der Gedanke daran erweckt mich zu neuem Leben. Wenn ich an die Wechselwirkung zwischen Kraft und Stoff und an den ganzen heftigen Kampf denke, dann habe ich das Gefühl, als könnte ich ein Epos über das Gras schreiben.«
»Wie gut Sie sprechen!« sagte sie geistesabwesend, und er bemerkte, daß sie ihn forschend ansah.
Im selben Augenblick war er ganz in Verwirrung und Verlegenheit, und das Blut stieg ihm in Hals und Stirn.
»Ich hoffe, daß ich sprechen lerne«, stotterte er. »Ich habe das Gefühl, daß ich so vieles in mir habe, das ich sagen möchte. Aber es ist alles so groß. Ich weiß nicht, wie ich das, was wirklich in mir ist, ausdrücken soll. Zuweilen ist mir, als hätte die ganze Welt, das ganze Leben sich in mir niedergelassen und verlange von mir, daß ich seine Sache redete. Ich fühle – ach, ich kann es nicht beschreiben – ich fühle seine Größe, wenn ich aber spreche, wird es wie das Stammeln eines kleinen Kindes. Es ist etwas Großes, Gefühle, schriftlich oder mündlich, in Worte umzusetzen, so daß sie sich beim Leser wieder in dasselbe Gefühl umsetzen. Das ist eine Großtat. Sehen Sie, ich vergrabe mein Gesicht im Grase, und der Hauch, den ich durch meine Nase einatme, läßt mich von tausend Gedanken und Phantasien zittern. Es ist ein Hauch des Universums, den ich einatme; ich kenne Singen und Lachen, Erfolg und Schmerz, Kampf und Tod; und ich sehe Gesichte, die in meinem Gehirn entstehen, zum Beispiel beim Duft des Grases, und ich möchte es so gern Ihnen und der ganzen Welt erzählen. Aber wie soll ich es? Die Zunge ist mir gebunden. Jetzt aber habe ich versucht, Ihnen durch gesprochenes Wort zu erklären, welche Wirkung der Duft des Grases auf mich ausübt, aber es ist mir nicht geglückt. Ich habe es nur gerade in unbeholfenen Wendungen andeuten können. Ich finde selbst, daß meine Rede der reine Unsinn ist. Und dennoch ist es, als wollte die Sehnsucht, zu erzählen, mich ersticken. Ich« – er hob mutlos die Hände – »es ist unmöglich. Es ist nicht zu verstehen. Es läßt sich nicht mitteilen.«
»Aber Sie sprechen gut«, beharrte sie. »Denken Sie nur daran, welche Fortschritte Sie in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft gemacht haben. Charles Butler ist ein angesehener politischer Redner, und doch haben Sie neulich beim Essen ebensogut gesprochen wie er. Er war nur beherrschter, Sie erregen sich so sehr. Aber das geht vorüber, wenn Sie mehr Übung haben. Sie können ein ausgezeichneter politischer Redner werden, Sie können es weit bringen ... wenn Sie wollen. Sie haben etwas von einer Herrschernatur. Sie besitzen sicher Führereigenschaften, und es ist sehr möglich, daß Sie mit allem, was Sie in die Hand nehmen, ebenso große Erfolge erzielen, wie Sie es in der Grammatik getan haben. Sie könnten ein tüchtiger Jurist, ein hervorragender Politiker werden. Nichts hindert Sie, ebensoviel zu erreichen wie Charles Butler. Nur nicht den schlechten Magen!« fügte sie lächelnd hinzu.
So sprachen sie weiter, und immer wieder betonte sie mit ihrer gewohnten Beharrlichkeit, aber stets sanft und freundlich, die Notwendigkeit einer soliden Grundlage für alle Erziehung und den Vorteil von Latein für jede Karriere. Sie beschrieb ihr Ideal des erfolgreichen Mannes, und es war in den Hauptzügen das Bild ihres Vaters, hin und wieder mit einigen unverkennbaren Strichen und einem gewissen Kolorit Charles Butlers. Auf dem Rücken liegend, lauschte er eifrig, sah sie an und freute sich über jede Bewegung ihrer Lippen, wenn sie sprach. Aber sein Gehirn war nicht so empfänglich. Es war nichts Verlockendes an dem Bilde, das sie vor ihm entrollte, und er spürte eine dumpfe Enttäuschung in sich aufsteigen, während seine nagende Sehnsucht nach ihr gleichzeitig quälender als je wurde. Nicht ein einziges Mal erwähnte sie seine Schriftstellerei, und die Manuskripte, die er mitgebracht hatte, um sie ihr vorzulesen, lagen unbeachtet auf der Erde.
Als sie schließlich schwieg, warf er einen Blick auf die Sonne, maß ihre Höhe über dem Horizont und nahm seine Manuskripte in die Hand, wie um ihre Aufmerksamkeit darauf hinzulenken.
»Das hatte ich ganz vergessen«, sagte sie schnell. »Und ich bin