Gesammelte Werke. Джек ЛондонЧитать онлайн книгу.
wuchs! Zum erstenmal in meinem Leben verspürte ich die Lust zu morden. Mochte Leben im allgemeinen etwas Heiliges sein - für Thomas Mugridge galt mir dies nicht mehr. Ich war entsetzt, als ich mir darüber klar wurde, und durch mein Hirn fuhr der Gedanke: War ich auch von der Roheit meiner Umgebung angesteckt? Ich, der ich selbst für die abscheulichsten Verbrechen die Berechtigung der Todesstrafe geleugnet hatte? Wohl eine halbe Stunde verging.
Da sah ich Johnson in einem Wortwechsel mit Louis. Er endete damit, daß Johnson den Arm des andern, der ihn halten wollte, beiseite schob und nach vorn ging. Er überquerte das Deck, sprang in die Takelung und begann zu klettern. Aber das schnelle Auge Wolf Larsens hatte ihn erfaßt. „Hallo, Mann, wohin?" rief er.
Johnson hielt im Klettern inne. Er blickte seinem Kapitän in die Augen und sagte langsam: „Ich will den Jungen herunterholen."
„Du wirst herunterkommen, und das ein bißchen plötzlich. Verstanden? Runter!" Johnson zögerte, aber der langjährige unbedingte Gehorsam gegen den Herrn des Schiffes übermannte ihn, er glitt aufs Deck herab und ging nach vorn.
Um halb sechs ging ich hinunter, um den Kajütentisch zu decken, aber ich wußte kaum, was ich tat, denn immer sah ich den totenbleichen, zitternden Menschen vor mir, der sich wie ein Käfer an die Gaffel klammerte. Als ich um sechs Uhr an Deck kam, um das Abendbrot aufzutragen, sah ich Harrison immer noch in derselben Lage. Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich um andere Dinge.
Kein einziger schien sich für das so grundlos gefährdete Leben zu interessieren. Als ich aber noch einmal in die Kombüse mußte, sah ich zu meiner Freude Harrison nach der Back wanken. Er hatte endlich den Mut zum Herunterklettern gefunden.
Ehe ich diesen Gegenstand verlasse, muß ich eine Unterhaltung berichten, die ich mit Wolf Larsen hatte.
„Sie sahen sehr schlecht aus heute nachmittag", begann er. „Was fehlte Ihnen?"
Er wußte natürlich gut, was mich beinahe so elend wie Harrison gemacht hatte, er wollte mich nur reizen.
Ich antwortete knapp: „Es war die rohe Behandlung des Jungen."
Er lachte: „Wohl eher Seekrankheit. Der eine kriegt sie, der andere nicht."
„Nein, das war es nicht", antwortete ich.
„Doch gewiß", fuhr er fort. „Die Erde ist so voller Roheit wie das Meer voller Bewegung. Manchen macht dies krank, manchen jenes. Das ist alles."
„Aber Sie, der Sie Spott mit Menschenleben treiben, messen Sie dem Leben gar keinen Wert bei?" fragte ich.
„Wert? Was für Wert?" Er sah mich an, und obwohl seine Augen ruhig und unbeweglich waren, erschien doch ein zynisches Lächeln in ihnen. „Was für einen Wert? Wie ermessen Sie es? Wer schätzt es?"
„Ich selbst", gab ich zur Antwort.
„Wieviel ist es Ihnen denn wert? Das Leben eines anderen, meine ich. Nun, heraus damit! Was ist es wert?"
Der Wert des Lebens? Wie konnte ich dem Leben einen greifbaren Wert beilegen? Merkwürdig: Irgendwie fehlte mir, der ich sonst nie um Worte verlegen war, der Ausdruck, wenn ich mit Wolf Larsen verhandelte. Ich bin später zu der Erkenntnis gelangt, daß teilweise die Persönlichkeit des Mannes, zum größten Teil aber seine völlig andere Einstellung schuld daran waren.
Im Gegensatz zu andern Materialisten, die ich getroffen habe und mit denen ich doch denselben Ausgangspunkt teilen konnte, hatte ich mit ihm nichts gemein. Vielleicht war es auch die elementare Einfachheit seines Denkens, die mich verwirrte. So direkt ging er stets auf den Kern einer Sache los, entblößte eine Frage von allem überflüssigen Beiwerk, und das mit solcher Entschiedenheit, daß ich mir vorkam, als kämpfte ich in tiefem Wasser ohne Grund unter den Füßen. Der Wert des Lebens? Wie sollte ich eine solche Frage stehenden Fußes beantworten?
Die Heiligkeit des Lebens war für mich immer etwas Gegebenes gewesen. Daß es einen Wert besaß, war eine Wahrheit, die ich nie bezweifelt hatte. Und als er diese offenbare Wahrheit jetzt anfocht, war ich ratlos.
„Wir sprachen gestern davon", sagte er. „Ich behauptete, das Leben sei ein Gärstoff, ein Ferment, das Leben fräße, um selbst leben zu können, und das Leben sei nichts als erfolgreichste Gemeinheit. Nun, wenn es auf Angebot und Nachfrage ankommt, so ist das Leben das Billigste auf der Welt. Es gibt soundso viel Wasser, soundso viel Erde, soundso viel Luft, aber Leben, das geboren werden möchte, gibt es zur Unendlichkeit. Die Natur ist eine Verschwenderin. Denken Sie an die Fische und ihre Millionen von Eiern. Denken Sie an mich oder sich. In unsern Lenden ruhen Möglichkeiten für Millionen von Leben. Hätten wir nur Zeit und Gelegenheit, um jedes bißchen ungeborenen Lebens in uns auszunutzen, wir würden die Väter von Nationen werden und Kontinente bevölkern. Leben? Pah! Es hat keinen Wert. Von allem, was billig ist, ist Leben das billigste. Überall geht es betteln. Die Natur streut es verschwenderisch aus. Wo Raum für ein Leben ist, sät sie tausend, und Leben frißt Leben, bis nur das stärkste und gemeinste übrigbleibt."
„Sie haben Darwin gelesen", sagte ich, „aber Sie haben ihn mißverstanden, wenn Sie den Schluß ziehen, daß der Kampf ums Dasein Ihr mutwilliges Vernichten von Leben rechtfertigt."
Er zuckte die Achseln. „Sie wissen wohl, daß Sie dabei nur an das menschliche Leben denken, denn auf Fleisch, auf Geflügel und Fische verzichten Sie sowenig wie ich oder sonstjemand. Und menschliches Leben unterscheidet sich in keiner Beziehung von tierischem. Warum sollte ich sparsam sein mit diesem Leben, das so billig und wertlos ist? Es gibt mehr Matrosen als Schiffe für sie auf dem Meer, mehr Arbeiter als Maschinen für sie."
Er schritt nach der Kajütstreppe, drehte aber nochmals den Kopf, um ein letztes Wort zu sagen. „Wissen Sie, welches der einzige Wert des Lebens ist? Den es sich selbst zulegt. Und das ist natürlich eine Überschätzung, eine Bewertung in eigener Sache. Nehmen Sie den Mann, den ich nach oben gehen ließ. Er klammerte sich an, als wäre er etwas überaus Wertvolles, ein Schatz, wertvoller als Diamanten und Rubine. Für Sie? Nein. Für mich? Keineswegs. Für ihn selbst? Ja. Aber ich mache seine Schätzung nicht mit. Er überschätzt sich maßlos. Es gibt unendlich viel Leben, das geboren werden möchte. Wäre er heruntergestürzt und sein Hirn wie Honig aus einer Wabe aufs Deck getropft, die Welt würde keinen Verlust erlitten haben. Der Welt galt er nichts. Das Angebot ist zu groß. Lediglich für sich selbst besaß er einen Wert. Er allein schätzt sich höher ein als Diamanten und Rubine. Die Diamanten und Rubine sind fort, auf Deck verschüttet, um von einem Eimer Seewasser weggespült zu werden - und er weiß nicht einmal, daß Diamanten und Rubine fort sind. Er verliert nichts, denn mit dem Verlust seiner selbst verliert er das
Bewußtsein seines Verlustes. Nicht wahr? Nun, was sagen Sie dazu?"
„Daß Sie jedenfalls folgerichtig handeln" war alles, was ich sagen konnte, und dann machte ich mich wieder ans Abwaschen.
Viertes Kapitel
Nach drei Tagen wechselnden Windes waren wir endlich in den Nordostpassat gekommen. Trotz meines lädierten Knies hatte ich gut geschlafen, und als ich jetzt das Deck betrat, fand ich die Ghost mit vollen Segeln vor einem frischen Winde vorwärts jagend. O dieser wunderbare, mächtige Passat! Den ganzen Tag segelten wir, die ganze Nacht, den nächsten Tag und die nächste Nacht und wieder Tag um Tag, immer vor demselben stetigen, starken Wind. Der Schoner segelte ganz von selbst. Es gab kein Heißen und Holen von Leinen und Schoten, kein Umlegen der Toppsegel, keine andere Arbeit für die Matrosen, als zu steuern. Nachts, wenn die Sonne untergegangen war, wurden die Segel gelockert, wenn morgens dann der Tau verdampfte, wurden sie wieder angezogen - das war alles.
Abwechselnd zehn, zwölf, elf Knoten ist die Geschwindigkeit, mit der wir fahren. Und immer aus Nordost bläst der brave Wind, der uns von Morgengrauen bis Morgengrauen zweihundertundfünfzig Meilen weit auf unserm Kurs treibt. Sie stimmt mich trübe und wieder froh, diese Eile, mit der wir San Franzisko hinter uns lassen und hinab in die Tropen schäumen. Mit jedem Tag wird es fühlbar wärmer. In der zweiten Hundewache kommen