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Hexenhammer 1 - Die Inquisitorin. Uwe VoehlЧитать онлайн книгу.

Hexenhammer 1 - Die Inquisitorin - Uwe  Voehl


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      Die Schwester Oberin inspizierte die Mädchen sorgfältig. Ein jedes hielt den Kopf gesenkt, bis es die Erlaubnis bekam, ihn zu heben.

      »Agnes, du bist zu dürr. Du bestehst nur noch aus Knochen«, sagte sie mit strenger Stimme, während sie das scheue, dürre Mädchen begutachtete. »Du wirst heute Morgen zwei Scheiben Brot bekommen.«

      Agnes’ Augen, die in tiefen Schatten lagen, leuchteten gierig auf.

      Die Schwester Oberin wandte sich Melisende zu: »Und du bist zu fett. Du frisst uns wohl die Haare vom Kopf, was?«

      »Aber nein, ich …«

      Schwester Adelheid hob bereits drohend die Gerte, und Melisende duckte sich schuldbewusst. »Jawohl«, sagte sie schnell. »Ich bin zu fett!«

      »Es sind deine Gedanken«, erkannte die Schwester Oberin.

      »Ja, ich gebe es zu: Ich träume die ganzen Nächte von üppigem Essen. Von Fleisch und …«

      »Genug!«, befahl die Schwester Oberin. »Ich weiß, was mit dir los ist. Du wirst deine Gedanken zügeln, sonst setze ich einen Nachtalben auf dich an. Außerdem wirst du heute kein Brot erhalten.«

      »Aber ich …«

      Diesmal war Schwester Adelheid schneller. Die Gerte fuhr wie eine Peitsche über Melisendes Lippen, die sofort aufsprangen und bluteten. Melisende verbiss sich den Schmerzensschrei, denn sie wusste, dass dann eine weitere Strafe folgen würde.

      »Deine Scheibe Brot bekommt …« Die Schwester Oberin schaute auf die anderen Mädchen. Jedes von ihnen hoffte, die Auserwählte zu sein. Bis auf Lotte. Die hoffte nur, dass die Ratten sie nicht verraten hatten.

      »… niemand. Ihr seid es alle nicht wert!«

      Wie jeden Morgen ergoss sich eine wahre Schimpfkanonade über die Köpfe der Mädchen. Die eine war zu schmutzig, die andere hatte nicht ehrfürchtig genug zu Asmodi gebetet, eine andere hatte zu schlechte Gedanken, eine weitere war zu faul. Sie alle bekamen ihr Fett weg.

      Nur vor Kundula blieb sie zufrieden lächelnd stehen.

      »Schau mich an, Kundula.«

      Kundula gehorchte.

      »Du bist schön, das wird dem Herrn gefallen. Nur deine Haare sind zu stumpf, und deine Haut ist zu teigig. Auch musst du lernen, fröhlicher zu schauen, wenn der Herr dich erwählt.«

      Kundula nickte ergeben, doch in ihren Augen lag nach wie vor die Trauer wie ein Flor.

      Die Schwester Oberin wandte sich an Schwester Gertrud. »Du wirst dich um sie kümmern, damit sie rechtzeitig erblüht und bereit ist für den großen Sabbat. Und etwas mehr Speck auf den Rippen täte ihrer Schönheit keinen Abbruch.«

      »Ich werde mein Bestes tun, Herrin«, versprach Schwester Gertrud, und es klang wie eine finstere Drohung.

      Die Schwester Oberin nickte, als sei dieser Punkt abgehakt. Sie ging zum nächsten Mädchen, und das war Lotte.

      »Sieh mich an!«

      Lotte hob schüchtern den Kopf.

       Wir töten dich!

      »In deinem Kopf ist Chaos«, erkannte die Schwester. »So wie meistens. Ich schreibe es deinem jungen Alter zu, doch …«

      Sie horchte, als könnte sie Lottes Gedanken hören.

      Lotte verschloss sich. Das beherrschte sie gut. Es war wie ein Reflex, sobald sie die Schwester Oberin in ihrem Kopf spürte.

      Jene lächelte grausam. »Sollte ich herauskriegen, dass du dich bewusst vor mir verschließt, wirst du es bereuen, Lotte.«

      Lotte sah sie mit ihrem unschuldigsten Blick an. »Das tue ich ganz bestimmt nicht, Schwester Oberin«, schwindelte sie.

      »Soll ich …?« Schwester Adelheid hob die Rute, doch die Schwester Oberin schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist bestraft genug. Mit ihrer Hässlichkeit wird sie niemand jemals erwählen.«

       Mit ihrer Hässlichkeit …

      Morgen für Morgen erinnerte die Schwester sie daran. Es war wie eine Wunde, in der sie wieder und wieder wühlten. Nur die anderen Kinder hatten sich längst an sie gewöhnt und zuckten nur noch manchmal zusammen, wenn sie Lotte unverhofft auf den dunklen Gängen trafen.

      Es war hauptsächlich Lotte selbst, die sich vor ihrem Anblick fürchtete. Sie vermied es, in eine Pfütze zu blicken oder sich im Glanz eines polierten Kessels zu betrachten. Selbst sich zu waschen, bereitete ihr Pein, denn allein wenn sie das Gesicht berührte, wurde ihr bewusst, wie hässlich sie war.

      Doch vor dem Anblick ihres Leibes konnte sie die Augen nicht verschließen. Wenn sie an sich hinabblickte, sah sie die Narben und Wülste, die kreuz und quer über die Haut liefen. Als hätte jemand ihren Körper aus verschiedenen Stücken zusammengesetzt. Wie ein Schöpfer, der mitten in der Arbeit verschwunden war und sie unvollendet zurückgelassen hatte. Ihre Arme waren unterschiedlich lang, genau wie ihre Beine, sodass sie leicht humpelte.

      »Geht und zieht euch etwas über!«, befahl die Schwester Oberin nun und schreckte damit Lotte aus ihren Gedanken. »Nicht, dass ihr euch noch den Tod holt.«

      Plötzlich stutzte sie. »Ihr seid nur zu zwölft! Wer fehlt?«

      »Angela, Schwester Oberin«, sagte Kundula, der es als Einziger erlaubt war zu antworten. »Sie hat wieder Fieber.«

      »Haben die Ratten ihr denn nicht Beine machen können?«

      Lotte senkte den Kopf noch tiefer und betete inständig, dass nicht ans Licht kam, welche Dreistigkeit sie sich erlaubt hatte. Noch mehr versteckte sie ihre Gedanken vor der Schwester Oberin, aber diese dachte zum Glück nicht daran, nachzuhaken oder eines der anderen Mädchen zu befragen. Keines von ihnen hätte es gewagt, ihr die Unwahrheit zu sagen, und anders als bei Lotte vermochte die Schwester Oberin in ihren Gedanken zu lesen wie in einem Buch.

      Stattdessen drehte sie sich nur zu den beiden Schwestern um und befahl: »Schwester Gertrud. Sieh zu, dass unser kleiner Engel wieder auf die Beine kommt. Und du, Schwester Adelheid, bestrafe sie für ihre Schwäche, die sie sich zu zeigen erdreistet.«

      Die beiden Schwestern nickten.

      »Und jetzt trödelt nicht länger herum!«, rief die Schwester Oberin mit scharfer Stimme. »Es liegt viel Arbeit an.«

      Arbeit lag immer an. Selbst im Winter mussten sie auf blanken Knien den Steinboden schrubben, mit steifgefrorenen Fingern Näharbeiten verrichten und die Ställe ausmisten.

      Die Vormittage waren den Lehrstunden vorbehalten. Ansonsten wurden die Arbeiten nur von den Andachtsgebeten unterbrochen.

      Während sich Lotte ihr sackähnliches, grobes Gewand überstülpte, schaute sie noch einmal nach Angela. Das Mädchen murmelte im Fiebertraum. Lotte bückte sich zu ihr hinab und flüsterte ihr ins Ohr: »Schwester Gertrud wird dich gesundmachen, ganz bestimmt.«

      Sie hoffte, dass ihre tröstenden Worte bis in Angelas Bewusstsein drangen. Absichtlich verschwieg sie, was die Fiebernde erwartete, wenn Schwester Adelheid sich ihrer annahm …

      Nachdem die Mädchen sich angekleidet hatten, marschierten sie in einer Reihe hintereinander aus dem Dormitorium durch die verwinkelten Klostergänge hinab ins Refektorium, in dem die Jungen bereits an ihrem langen Tisch Platz genommen hatten. Stumm, den Kopf gesenkt, wirkten sie wie eingefrorene Statuen, die erst dann zum Leben erwachten, wenn eine der Schwestern Brot und Wasser verteilte.

      Nur einer von ihnen hob den Kopf ein wenig, als die Mädchen das Refektorium betraten. Lotte wusste nicht, wie er hieß, aber er war ihr von Anfang an aufgefallen. Seit einem Jahr war er im Kloster. Seitdem war er kaum gewachsen. Er wirkte noch schwächlicher und kümmerlicher als die anderen Jungen. Manchmal bildete sich Lotte ein, durch ihn hindurchsehen zu können, so blass war seine Haut, die sich wie Pergament über die Knochen spannte.

      Aber nicht deswegen fühlte sie sich ihm wesensverwandt.


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