Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
was ja das einzig Richtige ist. So, wie die Dinge liegen, ist sie in spätestens einem Vierteljahr frei.«
Heinz Gerster streckte jetzt dem Detektiv beide Hände hin. Sein ehrliches Gesicht strahlte förmlich.
»Ich danke Ihnen, Schaper, danke Ihnen aus übervollem Herzen. Doch nun erzählen Sie. Sie können sich denken, wie ich vor Neugier brenne –«
»Nun: 11 Uhr 10 Minuten gestern vormittag nach Karlsbad, halb sechs Ankunft dort, halb sieben im Kaiserhof bei Frau Käti. Zusammen soupiert, alles erledigt, mit Nachtschnellzug wieder in Berlin!«
Gerster hatte schon seine Uhr hervorgeholt.
»Dann benutzte ich denselben Zug,« erklärte er. »Sie müssen mich schon entschuldigen, lieber Schaper.«
Er griff nach Hut und Stock.
»Einen Moment noch,« meinte der Detektiv. »Es dürfte Sie interessieren, daß ich mit meiner Vermutung, hinsichtlich der Reise Charlotte Wendels nach Berlin, recht hatte. Das junge Mädchen ist durch einen Brief aus München fortgelockt worden, der von Anfang bis Ende nichts als Schwindel war. Zum Glück besann sich Frau Deprouval auf die Adresse des Absenders, eines angeblichen Konsulatssekretärs Morrisson, hier, Bellevuestraße 8. Am besten, ich komme sofort mit. Denn diese Fährte muß verfolgt werden, so lange sie warm ist. Es handelt sich hier nämlich fraglos um eine Schurkerei des Herrn Charles Deprouval.«
»So ist wirklich Deprouval dieser Fremde, der in Danzig –?«
»Er ist’s. Frau Käti bestätigte die mir bekannten Personalien bis ins einzelne.« –
Ein Auto brachte die Herren dann nach der Bellevuestraße, wo Schaper ausstieg, während der Schriftsteller nach seiner in Charlottenburg gelegenen Wohnung weiterfuhr, um noch schnell seinen Koffer zu packen. –
In Nr. 8 befand sich in der zweiten Etage eine vornehme Fremdenpension. Dort läutete der Detektiv. Die Besitzerin des Pensionats, der er seine Legitimation vorzeigte, erklärte sich nach einigem Zögern zur Auskunft bereit.
So erfuhr Schaper denn, daß ein Engländer, der sich Tarpy Morrisson nannte und Konsulatssekretär war, eine Woche in der Pension gewohnt habe, bereits aber wieder abgereist sei und zwar in Begleitung einer Dame, die er für seine Schwester ausgegeben und die in einem zweiten Zimmer nur eine Nacht logiert hatte.
Schaper hatte eine ähnliche Antwort erwartet.
»Könnte ich das Zimmer Morrissons mir einmal ansehen?« fragte er nach kurzem Nachdenken.
»Bitte, es ist noch frei.«
Die Räumlichkeit war elegant eingerichtet, besaß zwei Fenster und machte einen recht behaglichen Eindruck. Der Detektiv unterzog es einer sehr gründlichen Musterung, entdeckte jedoch nicht die kleinste Kleinigkeit, die für ihn wertvoll gewesen wäre. Schließlich gab er das Suchen auf.
»Und das Zimmer der Schwester Morrissons?« fragte er unverfroren.
»Das ist leider schon wieder vergeben,« meinte die Pensionsinhaberin kühl.
»Vielleicht könnte ich es trotzdem sehen. – Wer wohnt denn dort?«
»Ein Offizier. – Aber ich möchte doch bitten, daß Sie meine Gäste nicht stören. Ihr Verlangen geht wirklich zu weit,« sagte die Dame etwas ungeduldig.
Schaper war so leicht nicht abzuschütteln. »Sie wissen nicht, gnädige Frau, was bei der Untersuchung, die ich führe, alles auf dem Spiel steht,« erklärte er ernst. »Mit dem Offizier werde ich mich schon auseinandersetzen.« –
Der Oberleutnant, ein Feldartillerist, der zu der Hochzeit eines Freundes von Stettin herübergekommen war, saß gerade beim Morgenkaffee. Schaper stellte sich vor und brachte dann seine Bitte an.
»Aber gewiß gestatte ich das,« meinte der Oberleutnant liebenswürdig. »Bitte – das Zimmer steht Ihnen zur Verfügung.«
Wieder begann dieses peinlich genaue Absuchen. Der kaminartige Ofen, die Fächer des Schreibtisches, des Waschtisches, die Schreibunterlage, der Papierkorb – nichts blieb verschont. Wieder vergeblich. Schon wollte Schaper sich verabschieden, als der Offizier, der den Detektiv mit leicht begreiflichem Interesse beobachtet hatte, etwas von oben herab sagte:
»Als Sie vorhin den leeren Papierkorb aufhoben und hineinschauten, flatterte ein Papierschnitzel unter den Sessel da –«
Schon hatte Schaper das weiße Stückchen in der Hand. Es war der obere Teil eines Briefumschlages mit der halben, entwerteten Marke. Und auf dieser, mitten durchgerissenen Marke war noch deutlich der Absendeort des Stempels zu lesen.
Dem Detektiv gab es einen förmlichen Ruck durch den Körper.
Nein, das war keine Sinnestäuschung – da stand klar und deutlich – »Gauben« .
Zehn Minuten später saß Fritz Schaper wieder in seinem Arbeitszimmer vor dem Schreibtisch. Auf dem roten Tuchbezug lagen all die Papiere ausgebreitet, die den Fall des »grauen Gespenstes« betrafen: das erste Schreiben des Privatgelehrten, die eigenen Aufzeichnungen des Detektivs über seinen Besuch in dem Städtchen und bei Wernicke, und schließlich die zwei Briefe, in denen die beiden Männer sich gegenseitig verdächtigten.
Der Detektiv hatte sich eine Zigarre angezündet und blies langsam die blauen Rauchwölkchen von sich. Seine Gedanken umspielten dieses Rätsel: Wie kam das Papierstückchen, dieser Überrest eines aus Gauben stammenden Briefes, in den Papierkorb jenes Zimmers? Die Pensionsinhaberin hatte ihm versichert, daß bei ihr noch nie jemand aus Gauben gewohnt habe. Sie kenne das Nest gar nicht. Weiter hatte er sich dann gefragt, wer vor dem angeblichen Fräulein Morrisson das Zimmer innegehabt habe. Eine Argentinierin einen Monat lang, deren Gatte zur preußischen Armee abkommandiert war. Die Dame habe stets nur Briefe aus der Heimat erhalten. –
Mithin: Wie war der Schnitzel in den Papierkorb geraten, wie – wie? – Eigentlich gab es nur eine Lösung, die ihm aber so weithergeholt schien, daß er sie immer wieder verwarf. Und diese Lösung war, daß zwischen dem Fall »Albert Wendel« und dem des »grauen Gespenstes« irgendwelche Beziehungen bestanden! – Nahm man z. B. an, daß der Privatgelehrte Müller mit Deprouval bekannt sei, so ließ sich das Auftauchen des Brieffragmentes in der Pension in der Bellevuestraße unschwer erklären. Deprouval und Morrisson waren ja ein und dieselbe Person. Und konnte der angebliche Konsulatssekretär nicht den Brief aus Gauben im Zimmer »seiner Schwester« vernichtet, dabei aber gerade das eine Stückchen übersehen haben?
Wohl eine Stunde verging über diesem nutzlosen Grübeln, mit dem Fritz Schaper sein Hirn zermarterte. Er fand eine ihm zusagende Erklärung nicht. Überhaupt – hier gab es noch so manche Fragen zu lösen. Wie war z. B. Deprouval in den Besitz des mit dem Aufdruck des englischen Generalkonsuls versehenen Briefbogens gelangt? Und die Hauptsache: Was hatte dieser hartgesottene Schurke mit Charlotte Wendel vor? Gedachte er wirklich die Erbschaft an sich zu reißen? Und wenn, auf welche Weise?
In dieser unangenehmen Lage rief er sich seinen Bürovorsteher herbei und beriet mit diesem, was man nun zunächst tun solle. Lemke, ein alter Praktiker in dem vielseitigen Detektivberuf, horchte hoch auf, als Schaper ihm die Geschichte von dem Brieffragment erzählte. Dann rückte er mit seinem Vorschlag heraus.
»Wie wär’s, Herr Schaper, wenn Sie jetzt sofort nach Gauben fahren und sich dort so ein wenig um die Mönchsabtei und ihre Bewohner kümmern würden? Indessen könnten wir hier mit all unseren verfügbaren Kräften nach dem Verbleib Deprouvals und der jungen Dame forschen lassen. So verlieren wir keine Zeit und sind auf beiden Schauplätzen tätig.«
»Genau denselben Gedanken hatte auch ich,« meinte Schaper. »Gut. Dann geht also die Jagd auf der Eisenbahn wieder los. Doch – was hilft’s?! Ich reise also mit dem Mittagszuge. Abends sieben Uhr geben Sie eine Depesche an Müller nach Gauben auf, daß ich morgens mit dem letzten Zuge dort eintreffe. Auf diese Weise habe ich die kommende Nacht und den Tag ganz für mich. Natürlich fahre ich nicht als Fritz Schaper, sondern in irgend einer Verkleidung.«
10. Kapitel