Reisen in Westafrika. Mary Henrietta KingsleyЧитать онлайн книгу.
Lager aus abgebrochenen Zweigen.
Die Westküste und deren Bewohner besser kennen zu lernen, mehr über deren Opferriten, Fetischverehrung und Geistergläubigkeit zu erfahren, von ihrem Umgang mit der Natur und den Tieren zu profitieren, war Kingsley entschieden wichtiger, als den afrikanischen Kontinent einmal quer zu durchreisen und ein Land nach dem anderen abzuhaken. Es ging ihr nicht um das »Schneller, Weiter, Höher«, wie es bis heute für so manche Entdecker typisch ist, sondern vielmehr um das sinnliche Erleben, um die Menschen und ihr soziales Miteinander. Schon hundert Jahre früher, 1792, hatte dies die englische Schriftstellerin Mary Wollstonecraft unterstrichen: »Wenn ein Mann auf Reisen geht, hat er in der Regel das Ziel vor Augen, eine Frau denkt mehr an unvorhergesehene Ereignisse, seltsame Dinge, die ihr unterwegs begegnen können.«
Sehr kritisch stand die Reisende den zahlreichen Missionaren gegenüber, die alles daransetzten, die »Ungläubigen« von ihrem Gottesbegriff zu überzeugen. Afrika solle stattdessen Missionare nach England schicken, damit man dort von deren Humor und Freude profitiere, provozierte Kingsley. Den Weißen, die sich über betrunkene Wilde aufregten, las sie die Leviten: »Sie werden in Westafrika in einer Woche nicht so viele Betrunkene treffen wie in ein paar Stunden in der Vauxhall Road«.
Als Mary Kingsley nach fünf Monaten in Sierra Leone, Ghana, Kongo und Gabun Anfang 1894 von Libreville wieder zurück nach England fährt, ist für sie von höchster Priorität, so schnell wie möglich erneut aufzubrechen. »Ich hab mir schon Methoden überlegt, wie ich in London mit dem Geld haushalte. Kein Theater, keine extra Omnibusfahrt oder Kleidung, bis ich wieder den schweren scharfen Geruch des Landes rieche, sehe, wie der blaue Ozean sich in einer scharfen Linie kakaofarben färbt und ich die Musik des Donners an den Sandbänken des Bonny höre.«
Das Leben der britischen Oberschicht stößt sie regelrecht ab. »Ein Leben in der Tretmühle, wie es eine ordentliche Gesellschaftsdame in London führt, würde mich umbringen«. Kaum hat sie das Geld zusammen und ihre Ausstattung verbessert, sitzt sie gänzlich unsentimental an Weihnachten 1894 erneut auf einem Frachter Richtung »Westküste« und nutzt die Wochen auf dem Wasser, um von ihrem geschätzten Bekannten, Kapitän Murray, weitere Überlebenstipps für Afrika zu erhalten.
Das Britische Museum war mit der Ausbeute der ersten Reise sehr zufrieden gewesen und unterstützte sie nun mit einem annehmbaren Betrag und besserer technischer Ausrüstung. Die Utensilien zum Sammeln – unter anderem 15 Gallonen Spiritus – sollten sich lohnen. Kingsley hatte sich im Selbststudium inzwischen sehr viel über Ichthyologie, die Fischkunde, beigebracht und genaue Vorstellungen, an welchen Stellen des noch unerforschten Flusses Ogowé und seiner Nebenarme in Gabun interessante Beute zu vermuten war. Am Ende wird sie 65 Fischarten und 18 Reptilien im Gepäck haben. Gleich drei Fische waren der Fachwelt noch gänzlich unbekannt und wurden nach ihr benannt (etwa Ctenopoma kingsleyae). Rund hundert Jahre später sollte ein internationales Team von Biologen im Auftrag der National Geographic Society auf den Spuren Mary Kingsleys den immer noch weitgehend unbekannten Ogowé abfahren, um die damals entdeckte Fischwelt erneut abzugleichen und vor Ort ein Fischmuseum zu gründen.
Über diese zweite, annähernd zwölf Monate lange Reise durch die heutigen Länder Nigeria, Kamerun und Gabun berichtet Mary Kingsley in dem vorliegenden Buch. Es ist der faszinierende Reisebericht einer Frau, die offiziell über »Fish & Fetish« forschte, sich aber für alles interessierte, was ihr unterwegs begegnete. In ihren lebendigen Beschreibungen macht sie uns mit den religiösen Bräuchen der einzelnen Stämme bekannt, geht auf Besonderheiten in Geographie, Botanik und Hausbau ein. Anschaulich beschreibt sie die Art, wie Bananen und Süßkartoffeln gekocht werden, sowie das Material und die Haltbarkeit der handgearbeiteten Tontöpfe, Körbe und Fangnetze. Statt Theorien zu verbreiten, zitiert sie ihre Gesprächspartner und nimmt sich am liebsten selbst auf den Arm. Selbstironie war ihr Markenzeichen!
Das Schreiben aber scheint ihr schwergefallen zu sein. »Ich will lieber ein 200-Tonnen Schiff durch einen Bach schleusen als irgendein Buch zu schreiben«, bekannte sie nach ihrer Rückkehr gegenüber ihrem Verleger in London und nannte ihre Aufzeichnungen einen »Sumpf von Wörtern«. Eine Kritikerin aber bezeichnete das Buch später als »eine der wunderbarsten Aufzeichnungen weiblichen Schneids … auf 730 Seiten kein einziger trockener Absatz«.
Über den Handel mit Elfenbein und Gummi hatte sie schon auf der ersten Reise viel erfahren. Sie wusste, dass sie oft ein wenig lächerlich wirkte, wenn sie den Händlern zurief: »It’s only me« – Ich bin’s bloß. Die amüsierten Händler nannten sie wegen ihres altmodischen Aufzugs oft »unsere Tante«, die Schwarzen »only me«, aber sie ließen nichts auf diese ebenso witzige wie bescheidene Engländerin kommen, die ihr schrulliges Image wohl auch bewusst pflegte. Außerdem war sie inzwischen Expertin für Handelsenglisch, ein krudes Gemisch aus Englisch und den Sprachen der Stämme, und liebte es, zu feilschen und zu handeln. Angelhaken gegen Unterkunft, Tabak gegen Essen, Blusen gegen Transport. »Sie beschwindeln ja die armen Menschen«, scherzten manche Händler ob ihrer Geschäftstüchtigkeit.
An einer seichten Stelle des Ogowé bringt sie sich heimlich das Paddeln bei und beschreibt herrlich, wie schnell das fünf Meter lange Kanu in die Strömung gerät und auf die Felsen zusteuert. Doch sie gibt nicht auf, kniet sich hin, wechselt vom Bug ins Heck, dreht sich im Kreis, bekommt das Boot unter Kontrolle, pitschnass klettert sie vor den lachenden Schwarzen ans Ufer und wird ihre Fertigkeit, »ein Kanu zu lenken«, später zu ihren größten Errungenschaften zählen.
Ihr Lieblingsstamm sind die Fang, die zu den Bantu-Völkern gehören und als Kannibalen gelten. Sie hält sie für die intelligentesten Menschen der Westküste und durchquert mit einer ausgewählten Truppe von ihnen den strapaziösen Urwald zwischen Ogowé und Rembwé. Wann immer sie einen der Sümpfe durchwaten, muss sie ertragen, dass die Männer ihre Hüfttücher »auf skandalöse Weise schürzen«. Das übersteht sie genauso wie den tiefen Sturz auf die angespitzten Pfähle einer Großwildfalle, denn – dank ihres »guten festen Rocks« – wird sie nicht verletzt. Mehrmals versinkt sie wie alle anderen in den Mangrovensümpfen, gegenseitig zieht man sich heraus und hat erst einmal damit zu tun, die bis zum Hals klebenden Blutegel loszuwerden. »Es sah sehr lustig aus, wie wir uns gegenseitig salzten.«
Ganz lakonisch berichtet Kingsley auch über die Übernachtung in einer Häuptlingshütte der Fang. Schlaflos, da sie einen »strengen Geruch, eindeutig organischen Ursprungs« aus einem Beutel vernimmt, schüttet sie sich dessen Inhalt vorsichtig in den Hut: »Es handelte sich um eine menschliche Hand, drei große Zehen, vier Augen und andere Teile des menschlichen Körpers. Die Hand war frisch, die anderen Dinge schrumpften bereits.«
Etliche Male gerät sie in echte Gefahr, als sie etwa plötzlich einer Elefantenherde so nah gegenübersteht, dass ihr die ausgeprusteten Schlammbrocken um die Ohren fliegen. Da hilft nur eine Stunde regungsloses Verharren. Ein Flusspferd, das ihr auf einer Sandbank entgegentrabt, attackiert sie mit ihrem Regenschirm, ein Krokodil am Bootsrand schlägt sie mit dem Paddel in die Flucht. Bei solchen Gelegenheiten, gibt sie zu, »stellten sich mir die Nackenhaare auf« und wann immer es richtig brenzlig wurde, »hatte ich einen strengen Salzgeschmack im Mund.« Während die Begegnungen mit Gorillas eher Abscheu in ihr hervorriefen, war sie von den eleganten Leoparden begeistert – »die schönsten Tiere, die ich jemals gesehen habe.« Und das, obwohl sie einem dieser »dreisten« Tiere einen Wasserkrug an den Kopf werfen musste und wegen eines anderen »gefühlte zwölf Monate« hinter einem Felsen ausharrte.
Krönung der in diesem Buch beschriebenen Reise war ihre Besteigung des »Mungo«, auch »Thron des Donners« genannt, mit 4000 Metern die höchste Erhebung Westafrikas. Der heutige Kamerunberg ist ein aktiver Vulkan, der zuletzt im Jahr 2000 ausbrach. Der Gipfel war erst 24 Jahre vor Mary Kingsley erstmals von einem Briten und einem Deutschen bestiegen worden, sie aber war die erste Frau, der das jemals gelang. Es war eine zähe und riskante Eroberung, die sie an ihre Grenzen brachte. Ihre einheimischen Begleiter waren nichts als »Hasenfüße«, die sich beim ersten Tornado aus dem Staub machten, sie selbst stürzt mehrmals ab, wird vom Regen vollkommen durchnässt und holt sich einen schweren Sonnenbrand. Endlich wieder im Tal, kann sie sich die Haut in Fetzen vom Gesicht ziehen. Sie wäscht sich im Fluss, klopft ihren Rock aus und seufzt: »Was ist das Leben ohne ein Handtuch.«
Als die Reisende im Dezember 1895 in Southampton