Menschen, die Geschichte schrieben. Christine StroblЧитать онлайн книгу.
Weise werden der Teufelsbekämpfer und der Teufelsbündler damit aneinander, wenn nicht gar ineinander gerückt. Das ist nicht nur deshalb eine folgenreiche Entwicklung, weil sie bis zur wichtigsten Faustus-Version des 20. Jahrhunderts reicht, dem großen Roman Thomas Manns, in dem die titelgebende Faust-Figur in Sprache, Habitus und Herkunft als eine Lutherfigur gezeichnet wird.
Grundsätzlich macht eine solche Assoziierung evident, worin die mythenbildende Funktion von Faustus liegt: in seiner Rolle als kultureller Wiedergänger. Mir scheint, dass die Figur deshalb zu einem Mythos der Renaissance geworden ist, weil in ihr, wie in einem Sammelbecken, die dunklen und dämonisierten Aspekte der Renaissance-Kultur zusammenfließen. Faustus ist ein „magus secundus“, wie wir gesehen haben, d. h. ein Nachkömmling, ein Abkömmling. Meine Vermutung wäre, dass diese Figur in der kulturellen Gestalt, in der wir sie durch die diversen Texte kennenlernen, von genau den Autoritäten herkommt oder sogar abstammt, die sich von ihr abzugrenzen suchen: von Luther, von Melanchthon, von Trithemius und den vielen anderen Geistesgrößen dieser großen Aufbruchszeit.
Doktor Martinus erklärt, er habe lange und erbittert mit dem Teufel gekämpft und allein durch Gottesglauben seinen Sieg davongetragen. Johannes Trithemius erklärt, die mantischen Künste seien zutiefst verdammungswürdig, und doch muss er sich seinerseits mit Vorwürfen auseinandersetzen, er selbst, der Abt von Sponheim, habe sich diesen Künsten hingegeben und damit versündigt. Deshalb nämlich zitiert er die Visitenkarte Faustens, um daran aufzuzeigen, was man tunlichst lassen soll und was er selbst nie unternehmen würde. Die Grenzen zwischen Weißer und Schwarzer Magie, zwischen religiös fundierter und dämonisch instrumentalisierter Beschwörungskunst sind prinzipiell sehr schwer, wenn überhaupt, zu ziehen – genauso schwer, wie man vielleicht den dauernden Kampf mit dem Leibhaftigen von einem Pakt mit dem Leibhaftigen unterscheiden kann. In beiden Fällen liegt offenbar eine sehr intensive wechselseitige Beziehung vor, und wie sie jeweils endet, bleibt wohl länger ungewiss. Um solche Grenzziehungen aber immer wieder neu zu unternehmen, um Kampf von Pakt und Weiße von Schwarzer Magie zu unterscheiden, dazu wird, so meine ich, der Faustus-Mythos aufgeboten.
Von jenem Wanderwahrsager selbst ist uns kein einziges Wort überliefert. Er ist ein Mythos in genau dem Sinn meiner eingangs skizzierten Definition: Er dient stets anderen zur Selbstbestätigung und Selbstbeschreibung, und zwar dadurch, dass sie sich kategorisch von seinem Tun und Treiben abgrenzen. Gerade aber weil von Faustus selbst kein Wort überliefert ist, sehen wir ihn gewissermaßen nur als Hohlform, im Zeugnis oder Urteil anderer und zwar zumeist solcher, die ihn kritisieren, verurteilen, verfemen und vertreiben wollen. Faustus ist eine Projektionsfigur, die uns gewiss größeren Aufschluss über die jeweiligen Erzählautoritäten, die von ihm berichten, gibt als über das, was sie von ihm erzählen. Wenn nämlich viele frühe Quellen, wie erwähnt, von der Ausweisung Faustens aus der Stadt berichten, d. h. von dem Versuch, seine Wirkungsmacht aus der christlichen Gemeinschaft auszuschließen, erzählen sie uns doch in erster Linie davon, was diese Gemeinschaft kulturell beunruhigt und umtreibt und was daher unterbunden werden soll. Somit aber erscheint Faustus meist als ein dämonisierter Wiedergänger, ja als Doppelgänger genau jener weltlichen wie religiösen Autoritäten, die gegen ihn zu Felde ziehen. Das zeigt sich nicht nur daran, dass die Figur zunehmend mit Wittenberg assoziiert wird und damit in die Nähe dessen rückt, der sich von ihr unterscheiden will. Das zeigt sich vielleicht auch an den eigentümlichen Namenswechseln, die bei der Überlieferung ins Auge fallen. Auf der Visitenkarte, die Johannes Trithemius zitiert, nennt er sich „Georgius“, in der Historia heißt er „Johannes“ und trägt mithin denselben Vornamen wie Trithemius selbst; bei Goethe später heißt er „Heinrich“, was sicher als Anspielung auf Heinrich Cornelius Agrippa zu verstehen ist, den großen Okkultisten, der ebenfalls als Gegen- wie Modellfigur zu Faustus gelten kann. Auf diese Weise mag der Namenswechsel ein weiteres Indiz für die Funktion des Faustus-Mythos sein, als Feind-wie zugleich Abbild strittiger Denker zu fungieren und daher denen, die sich von ihm abgrenzen, namentlich verbunden zu bleiben. Eins jedenfalls ist unbestreitbar: Dass Faustus über so lange Zeit so viele große Geister der Renaissance umtreibt und so regelmäßig als Negativexempel dienen muss, ist nur verständlich, weil in der Figur fundamentale Unsicherheiten dingfest gemacht werden sollen. Sie dient zur Feststellung, wenn nicht zur Austreibung, kultureller Ungewissheiten ihrer Epoche.
GRÖSSE UND GRENZEN
Der Mythos von Doktor Faustus ist, so lässt sich der Befund zusammenfassen, also ein frühneuzeitliches Krisenbewältigungsprogramm, d. h. der Versuch, durch volkstümliche Überlieferung für Orientierung und Absicherung zu sorgen. Deshalb liest seine Geschichte sich wie eine umgekehrte Heiligenlegende, und deshalb sollten wir bei der Lektüre, um das zugrundeliegende Krisenbewusstsein festzustellen, die Deutungsmuster des Erzählens umkehren. Beispielsweise heißt es bei Trithemius, dass Faustus sich gerühmt habe, über ein so umfangreiches Wissen und Gedächtnis zu verfügen, dass er das Gesamtwerk der Philosophie seit Platon und Aristoteles im Kopf trage und dass er, falls dieses Werk einmal verloren gehen sollte, es auswendig wiederherstellen könne.12 Zur Deutung dieser Anekdote müssen wir bloß die Wertungszeichen umkehren. Trithemius erzählt sie als Ausdruck von Faustus Vermessenheit und Prahlerei – aber was drückt sich darin anderes aus als eine große kulturelle Hoffnung der Renaissance, vielleicht die zentrale Hoffnung der gesamten Epoche, der großen antiken Überlieferung erneut habhaft zu werden, d. h. sich deren Wissen anzueignen und dadurch über die antiken Größen noch hinauszugelangen? Diese Leistung der Memoria, die an der Faustus-Figur negativ markiert wird, stellt also im Grunde eine positive, vielleicht unerreichte oder unerreichbare, jedenfalls aber programmatische Kulturleistung dar, der sich jene Zeit ganz ausdrücklich verschrieben hatte. Ähnlich ließe sich die oft kolportierte Geschichte von Faustens Flugübungen deuten. Was wird darin anderes erzählt, als der Versuch, die bis dahin geltenden Grenzen und Beschränkungen des Menschendaseins hinter sich zu lassen und sich aus eigener Kraft in einen höheren Stand zu erheben? Genau dies war Antrieb wie Ambition so großer Renaissance-Geister wie Leonardo, wenn sie Flugmaschinen und dergleichen konstruierten. Wieder also soll wohl in der Faustus-Figur etwas dämonisiert und ausgegrenzt werden, was, in anderer Sicht betrachtet, die Renaissance recht eigentlich charakterisiert.
In dieser umgekehrten Sicht lässt sich im Übrigen der Titel der Historia, der oben zitiert wurde, ebenfalls anders lesen: „allen hochtragenden, fürwitzigen und gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel und abscheulichen Exempel“ kann die Geschichte von D. Johann Fausten zweifellos nur deshalb dienen, weil es von solchen Menschen offenbar etliche gibt. Als Exempel ist Faustus gerade nicht ein Ausnahme-, sondern ein Modellfall. Seine Lebensbeschreibung, kompiliert aus vorliegenden Schriften, zeigt damit etwas, das in hohem Maße typisch, weitverbreitet und charakteristisch ist für jene Zeit, so dass sich viele Leser darin wiederfinden mögen. Bei dem „Fürwitz“ nämlich, der auf dem Titelblatt genannt wird, handelt es sich um jene Curiositas, die bald zur Leitidee der neuzeitlichen Forschung aufsteigt und signalisiert, dass hier fortwährend Grenzen des Bekannten und Erlaubten überschritten werden. Die Grenzüberschreitung manifestiert sich mit den Entdeckungs- und Eroberungsfahrten, beispielsweise in die Neue Welt, zudem im konkreten geographischen Sinn: Sie erweitert physisch den Horizont, führt über die Säulen des Herkules, die für die Antike das Ende der bekannten Welt darstellten, hinaus und begründet dadurch die neue Wissenschaft.
Von ihrem schauerlichen Ende her gelesen ist die Historia, wie wir gesehen haben, ein streng didaktischer und streng lutherischer Traktat, der uns die Schrecknisse des gotteslästerlichen Lebens vor Augen führen will. Von seinem Titel und Anfang her gelesen allerdings wird diese didaktische Absicht immer wieder unterlaufen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Erzählung ihren Lesern erstaunlich detaillierte Einsichten in all das vermittelt, was man mit solcher Curiositas erfährt. Das ist zugleich der Grund dafür, warum einige, insbesondere protestantische Städte das Buch so dezidiert zu unterdrücken suchten. Es bietet schlicht so viele Schilderungen magischer Kunst, dass fürwitzige Leser es glatt als Lehrbuch nutzen können, um sich selbst in dieser Kunst zu üben.13 Denn um zu zeigen, wovon ein frommer Protestant sich fernzuhalten habe, muss all dies ja erst einmal veranschaulicht werden. Daher ist das ganze Teufels- und Beschwörungswerk, vor dem im Buch gewarnt wird, zunächst einmal darin enthalten. Statt also Zeitgenossen von der Magie abzubringen, wird sie ihnen darin