Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф КонрадЧитать онлайн книгу.
Ihr seelisches Gleichgewicht hatte ihr die Erkenntnis vermittelt, daß man den Dingen nicht auf den Grund gehen dürfe. Dies machte sie zu ihrem Leitsatz im Leben. Dennoch hatte sie sich durch Herrn Verlocs Schweigsamkeit seit einigen Tagen schwer bedrückt gefühlt. Sie ging ihr tatsächlich auf die Nerven. Nun sagte sie, während sie so still dalag:
»Du wirst dich erkälten, wenn du so in Socken herumgehst.«
Dieser Ausspruch, eingegeben von der Sorge der Gattin und der Klugheit der Frau, traf Herrn Verloc unvorbereitet. Er hatte seine Stiefel unten gelassen, hatte aber vergessen, die Pantoffeln anzulegen und war im Schlafzimmer auf leisen Tatzen, wie ein Bär im Käfig, herumgewandelt. Beim Klang der Stimme seiner Gattin hielt er inne und stierte sie mit einem traumverlorenen, ausdruckslosen Blick so lange an, daß Frau Verloc ihre Glieder unter den Bettüchern leicht rührte. Nur ihr dunkles Haupt, tief in das weiße Kissen versenkt, blieb unbewegt, mit der einen Hand unter ihrer Wange, und den dunklen, großen, reglosen Augen.
Unter dem ausdruckslosen Blick ihres Gatten und bei dem Gedanken an ihrer Mutter leeres Zimmer jenseits des Flurs sprang sie bitter das Gefühl von Einsamkeit an. Nie zuvor war sie von ihrer Mutter getrennt gewesen. Sie hatten treu zueinander gestanden. Das empfand sie jetzt und sagte sich, daß die Mutter nun fort war – fort für immer. Frau Verloc machte sich nichts vor. Allerdings blieb Stevie. Und sie sagte:
»Mutter hat ihren Willen gehabt. Ich kann keinen Sinn darin finden. Sicherlich konnte sie doch nicht glauben, daß du sie über hättest. Es ist ganz verrückt, uns so zu verlassen.«
Herr Verloc war nicht belesen; sein Vorrat an Bildern war beschränkt, doch fügten sich hier die Umstände derart ineinander, daß er zwangsweise an Ratten denken mußte, die ein sinkendes Schiff verlassen. Fast hätte er das auch ausgesprochen. Aber er war mißtrauisch und verbittert geworden. War es möglich, daß die alte Frau eine so ausgezeichnete Nase hatte? Doch lag die Haltlosigkeit eines solchen Verdachtes auf der Hand, und Herr Verloc hielt den Mund. Nicht ganz, heißt das. Er murmelte gewichtig:
»Vielleicht ist es gerade recht so.«
Er begann sich auszukleiden. Frau Verloc lag ganz ruhig, ihre Augen behielten ihren träumerischen, ruhigen Blick. Auch ihr Herz schien für den Bruchteil einer Sekunde stille zu stehn. In dieser Nacht war sie nicht ganz »sie selbst«, wie man sagt, und es drängte sich ihr die Erkenntnis auf, daß ein einfacher Satz mehrere, größtenteils unangenehme Bedeutungen haben könne. Warum war es gerade recht so und wieso? Doch erlaubte sie sich nicht, müßigem Grübeln nachzuhängen. Sie fühlte sich eher bestärkt in dem Glauben, daß die Dinge es nicht vertragen, wenn man ihnen auf den Grund geht. Schlau und geschickt auf ihre Art, brachte sie unverweilt Stevie in den Vordergrund, da bei ihrer Natur ein vorherrschender Gedanke die unbeirrbare Kraft eines Triebes anzunehmen pflegte.
»Ich weiß tatsächlich nicht, was ich tun muß, um den Jungen während der ersten traurigen Tage aufzuheitern. Er wird sich von früh bis abends quälen, bevor er sich daran gewöhnt, daß Mutter fort ist. Und er ist ein so guter Junge. Ich könnte ohne ihn gar nicht zurecht kommen.«
Herr Verloc fuhr fort sich auszukleiden, mit der starren Versenkung eines Mannes, der sich in der Einsamkeit einer weiten, hoffnungslosen Wüste auszieht. Denn so ungastlich bot sich die Erde, unser aller gemeinsames Erbe, dem Geiste des Herrn Verloc dar. Innen und draußen war alles so still, daß das verlorene Ticken der Ganguhr sich in das Zimmer stahl, als suche es Gesellschaft.
Herr Verloc legte sich auf seiner Seite ins Bett und blieb stumm und stolz hinter Frau Verlocs Rücken. Seine dicken Arme lagen verlassen auf der Decke wie gesenkte Waffen, wie hingeworfene Werkzeuge. In diesem Augenblick war er nur um Haaresbreite davon entfernt, seiner Frau sein ganzes Herz auszuschütten. Der Zeitpunkt schien günstig. Aus den Augenwinkeln sah er ihre mächtigen Schultern im weißen Gewand, ihren Hinterkopf mit den drei Zöpfen, die für die Nacht mit schwarzen Maschen aufgesteckt waren. Und er schob es auf. Herr Verloc liebte seine Frau, wie man eine Frau lieben soll – ehelich heißt das, mit aller Rücksicht, die man seinem wichtigsten Besitztum schuldet. Dieses für die Nacht zurechtgemachte Haupt, diese mächtigen Schultern schienen irgendwie geweiht –, geheiligt durch die Weihe häuslichen Friedens. Sie regte sich nicht, massig und formlos wie eine halbfertige Statue; er stellte sich ihre weit offenen Augen vor, die ins Leere hinausblickten. Sie war geheimnisvoll, wie alle lebenden Wesen. Der weitberühmte Geheimagent Ä aus des seligen Barons Stott-Wartenheim aufregenden Depeschen war nicht der Mann, in solche Geheimnisse einzubrechen. Er war leicht einzuschüchtern. Auch besaß er ein Maß von Trägheit, wie es oft das Geheimnis der Gutmütigkeit bildet. Nun schob er es auf, an dies Geheimnis zu rühren, aus Liebe, Schüchternheit und Trägheit. Es war immer noch Zeit genug. Einige Minuten litt er stumm in der schläfrigen Stille des Zimmers. Dann brach er mit einer entschlossenen Erklärung das Schweigen.
»Ich fahre morgen nach dem Festland.«
Seine Frau konnte schon eingeschlafen sein; er hätte es nicht sagen können. Tatsächlich hatte Frau Verloc ihn gehört. Ihre Augen waren immer noch weit offen, und sie lag ganz still, stark in dem Glauben, daß die Dinge es nicht vertragen, wenn man ihnen auf den Grund sieht. Und dann war eine solche Reise für Herrn Verloc durchaus nichts so Ungewöhnliches. Er erneuerte in Paris und Brüssel seine Warenvorräte. Oft fuhr er selbst hinüber, um Einkäufe zu machen. Um den Laden in der Brett Street begann sich ein auserwählter Kreis von Liebhabern zu sammeln, eine geheime Beziehung, die für jede von Herrn Verlocs Unternehmungen äußerst wertvoll war, dieses Herrn Verloc, der durch ein seltsames Zusammentreffen von Temperament und Notwendigkeit bestimmt schien, sein Leben lang ein Geheimagent zu bleiben.
Er wartete eine Weile und fügte dann hinzu: »Ich bleibe eine Woche oder vielleicht vierzehn Tage weg. Nimm dir unter Tags Frau Neale zur Hilfe!«
Frau Neale war die Scheuerfrau für die Brett Street. Sie war ein Opfer ihrer Ehe mit einem heruntergekommenen Schreiner und bedrückt durch die Sorge um viele unmündige Kinder. Mit roten Armen, in einer Kleiderschürze aus grober Sackleinwand, schien in dem Duft von Lauge und Rum, im Scheuern und Schrubben, der Dunst der Armut selbst von ihr auszugehen.
Frau Verloc sprach mit wohlerwogener Absicht in ganz gleichgültigem Tone:
»Es ist unnötig, die Frau den ganzen Tag über hier zu haben. Ich komme sehr gut mit Stevie alleine zurecht.«
Sie ließ die einsame Ganguhr fünfzehn Pendelschläge der Ewigkeit zuzählen und sagte dann:
»Soll ich das Licht auslöschen?«
Herr Verloc gab kurz und heiser zurück:
»Lösch es aus.«
IX
Als Herr Verloc nach zehn Tagen vom Festland wiederkam, da zeigte es sich, daß weder sein Geist sich an den fremden Wundern erfrischt, noch seine Stimmung sich durch die Heimkehrfreude gebessert hatte. Beim Rasseln der Ladenglocke trat er mit dem Ausdruck finsterer und verärgerter Erschöpfung ein. Den Koffer in der Hand, schritt er mit gesenktem Kopf hinter den Ladentisch und ließ sich in den Stuhl fallen, als wäre er den ganzen Weg von Dover her gegangen. Es war früh am Morgen. Stevie, der gerade die einzelnen Gegenstände im Ladenfenster abstaubte, drehte sich um, und gaffte ihn in ehrfürchtigem Schreck an.
»Da«, sagte Herr Verloc und stieß die Reisetasche auf dem Boden leicht an. Lind Stevie stürzte sich darauf, packte sie und trug sie davon, mit jubelndem Diensteifer. Er war so flink, daß Herr Verloc merklich überrascht war.
Beim Klang der Ladenglocke hatte Frau Neale, die eben dabei war, das Kamingitter im Wohnzimmer zu schwärzen, durch die Türe gespäht, sich dann von den Knien erhoben und war in ihrer Schürze, grimmig über die ewige Arbeit, Frau Verloc in die Küche sagen gegangen, daß »der Herr zurückgekommen sei«.
Winnie kam nur bis zur inneren Ladentür.
»Du wirst frühstücken wollen«, sagte sie aus einiger Entfernung. Herr Verloc machte eine leichte Handbewegung,