Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф КонрадЧитать онлайн книгу.
alles.«
Frau Verloc breitete sorgfältig das kleine Tischtuch aus, nahm zwei Messer und zwei Gabeln aus der Schublade und hielt in ihrem zielbewußten Tun plötzlich inne.
»Warum hast du das getan?«
»Werde es vielleicht bald brauchen«, schnaufte Herr Verloc, dessen vorbedachte Offenherzigkeit zu Ende ging.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte seine Frau in ganz nebensächlichem Tone, blieb aber stockstill zwischen Tisch und Anrichte stehen.
»Du weißt, daß du mir vertrauen kannst«, sagte Herr Verloc in den Kamin hinein, mit bärbeißiger Empfindsamkeit.
Frau Verloc wandte sich langsam der Anrichte zu und meinte bedächtig:
»O ja, ich kann dir vertrauen.«
Und sie nahm ihre Tätigkeit wieder auf, legte zwei Teller auf, holte Brot und Butter, ging ruhig zwischen Tisch und Anrichte hin und her, im stillen Frieden ihres Hauses. Als sie eben die Marmelade herausnehmen wollte, überlegte sie sachgemäß: »Er wird Hunger haben, da er doch den ganzen Tag weg war«, und dabei kehrte sie nochmals zur Anrichte zurück, um den kalten Rindsbraten zu holen. Sie setzte ihn unter den schnurrenden Gashahn, warf ihrem reglosen Gatten, der immer noch das Feuer hütete, einen Blick zu und ging (zwei Stufen) in die Küche hinunter. Erst als sie mit Vorlegemesser und -gabel in der Hand zurückkehrte, sprach sie wieder:
»Hätte ich dir nicht vertraut, dann hätte ich dich nicht geheiratet.«
Tief in die Feueröffnung gebeugt, den Kopf in beiden Händen vergraben, saß Herr Verloc wie schlafend da. Winnie machte den Tee und rief dann halblaut:
»Adolf.«
Herr Verloc erhob sich sofort und taumelte ein wenig, bevor er sich zu Tisch setzte. Seine Gattin prüfte die Schneide des Vorlegemessers, legte es auf die Platte und machte ihn auf den kalten Rindsbraten aufmerksam. Er beachtete die Anregung nicht und hielt das Kinn auf die Brust gesenkt.
»Bei Erkältung soll man essen«, bemerkte Frau Verloc lehrhaft.
Er sah auf und schüttelte den Kopf. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Gesicht gerötet. Seine Finger hatten sein Haar zerwühlt. Er sah verkommen aus, als wäre er nach schwerer Ausschweifung von Übelkeit, Reue und Ekel bedrückt. Aber Herr Verloc war kein Mann der Ausschweifungen. Seine Führung war einwandfrei. Sein Aussehen mochte von einer fiebrigen Erkältung kommen. Er trank drei Tassen Tee, enthielt sich aber der Nahrung völlig. Er zeigte sogar Widerwillen, als Frau Verloc ihm zuredete, sodaß diese schließlich sagte:
»Hast du nicht nasse Füße? Du solltest lieber deine Pantoffeln anziehn. Heute abend gehst du ja doch nicht mehr aus.«
Herr Verloc gab durch verdrießliche Knurrlaute und Zeichen zu verstehen, daß er keine nassen Füße habe und daß es ihm überhaupt gleichgültig sei. Die Anregung bezüglich der Pantoffeln wurde, als außerhalb seiner Absichten liegend, nicht beachtet. Nur die Frage eines nochmaligen Ausgangs fand eine unerwartete Aufnahme. Herr Verloc dachte bestimmt nicht darüber nach, ob er abends ausgehen würde. Seine Gedanken befaßten sich mit weiterreichenden Plänen. Aus übellaunigen, abgerissenen Sätzen ging hervor, daß Herr Verloc die Möglichkeit der Auswanderung ins Auge gefaßt hatte. Es war nicht ganz klar, ob er an Frankreich oder Kalifornien dachte.
Das war so gänzlich unerwartet, unwahrscheinlich und unbegreiflich, daß es seine Erklärung um alle Wirkung brachte. Frau Verloc sagte, so ruhig, als hätte ihr Gatte ihr mit dem Weltuntergang gedroht:
»Was für ein Einfall!«
Herr Verloc erklärte, daß er alles und jedes bis zum Ekel über hätte und außerdem – – Sie unterbrach ihn:
»Du bist bös erkältet.«
Es war allerdings offenbar; daß Herr Verloc sich nicht in seinem gewohnten Zustande befand, weder körperlich noch geistig. Eine dumpfe Unentschlossenheit zwang ihn zum Schweigen. Dann murmelte er einige verschwommene Gemeinplätze über zwingende Notwendigkeit.
»Wir werden es müssen«, wiederholte Winnie, die, mit gekreuzten Armen zurückgelehnt, ihrem Gatten gegenübersaß. »Ich möchte wohl wissen, wer dich zwingen wird? Du bist kein Sklave. Niemand braucht ein Sklave zu sein in diesem Lande – und mach’ du dich nicht selbst dazu.« Sie hielt inne und fuhr dann mit bezwingender Unberührtheit fort:
»Das Geschäft geht nicht gar so schlecht. Du hast ein gemütliches Heim.«
Sie blickte im Wohnzimmer herum, von der Anrichte in der Ecke zum guten Feuer im Kamin. Traulich geborgen hinter dem Laden voll zweifelhafter Ware, mit dem geheimnisvoll düsteren Fenster und der verdächtig in das dunkle Gäßchen offenstehenden Türe, war es doch ein ehrbares Heim in allem, was häuslichen Besitz und häusliche Gemütlichkeit anbelangte. Ihre hingebende Liebe vermißte darin nur ihren Bruder Stevie, der nun irgendwo in Kent eine verregnete Sommerfrische genoß, unter der Aufsicht des Herrn Michaelis. Sie vermißte ihn schmerzlich, da sie sich leidenschaftlich als Beschirmerin fühlte. Dies war auch des Jungen Heim; das Dach, die Anrichte, der glimmende Kamin. Bei diesem Gedanken erhob sich Frau Verloc, ging zum anderen Ende des Tisches und sagte aus vollem Herzen:
»Und du hast mich doch nicht satt?«
Herr Verloc gab keinen Laut. Winnie lehnte sich von rückwärts über seine Schulter und preßte ihre Lippen auf seine Stirne. So verharrte sie. Kein Flüstern drang von der Außenwelt bis zu ihnen. Der Klang von Schritten draußen auf dem Pflaster verlor sich in der dumpfen, brütenden Stille des Ladens. Nur der Gashahn über dem Tisch schnurrte. So lange die Berührung dieses unerwarteten und lange dauernden Kusses währte, saß Herr Verloc, beide Hände um die Armlehne seines Stuhls gekrallt, in bildhafter Unbeweglichkeit da. Sobald der Druck von ihm genommen wurde, ließ er den Stuhl fahren, erhob sich und stellte sich vor den Kamin. Er wandte nicht länger dem Zimmer den Rücken zu. Mit seinem verschwollenen Gesicht, das nach Vergiftung aussah, folgte er den Bewegungen seiner Frau.
Frau Verloc ging unbekümmert herum und räumte den Tisch ab. Ihre ruhige Stimme erging sich in Betrachtungen über das angeschlagene Thema. Es hielt keiner Prüfung stand. Sie verurteilte es von jedem Gesichtspunkt aus. Ihre einzige ernstliche Sorge aber war Stevies Wohl. Im Hinblick auf diese Möglichkeit erschien er ihr hinlänglich »eigen«, um nicht einfach mitgenommen zu werden. Das war das einzige. Indem sie aber um diesen Hauptpunkt herumredete, steigerte sie sich in echte Erregung hinein. Unterdessen legte sie mit heftigen Bewegungen eine Schürze an, um das Geschirr abzuwaschen. Und als würde sie vom Klang ihrer eigenen Stimme, die ohne Widerspruch blieb, noch mehr aufgereizt, sagte sie endlich mit beißender Schärfe:
»Wenn du fortgehst, dann wirst du ohne mich gehen müssen.«
»Du weißt gut, daß ich das nicht täte«, sagte Herr Verloc heiser, und die klanglose Stimme, die er für den Hausgebrauch zu benützen pflegte, zitterte vor rätselhafter Bewegung.
Frau Verloc bereute ihre Worte bereits. Sie hatten häßlicher geklungen, als sie es beabsichtigt hatte. Sie waren auch, wie alles Unnötige, unklug. Tatsächlich hatte sie überhaupt nicht gemeint, was sie sagte. Es war ein Satz, den ihr nur der Widerspruchsgeist eingeblasen hatte. Doch kannte sie einen Weg, um alles ungeschehen zu machen.
Sie wandte ihren Kopf über die Schulter und warf dem Manne, der schwerfällig vor dem Kamin stand, einen Blick aus ihren großen Augen zu, halb schelmisch, halb grausam – einen Blick, dessen die Winnie der Belgravia-Pension unfähig gewesen wäre, wegen ihrer Ehrbarkeit und Unwissenheit. Doch der Mann war ja nun ihr Gatte, und sie war nicht länger unwissend. Sie ließ den Blick eine ganze Sekunde auf ihm ruhen, während ihr ernstes Gesicht reglos wie eine Maske blieb, und sagte dann scherzend:
»Du könntest es nicht. Ich würde dir zu sehr fehlen.«
Herr Verloc fuhr auf.
»Gewiß«, sagte er laut, breitete die Arme aus und trat einen Schritt auf sie zu. Eine ungewisse Wildheit in seinem Ausdruck machte es zweifelhaft, ob er sein Weib zu erdrosseln oder zu umarmen gedachte. Frau Verlocs Aufmerksamkeit aber wurde durch den Klang der Ladenglocke von dieser Gebärde