Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф КонрадЧитать онлайн книгу.
könnte. Warum zum Henker hast du das getan? Man konnte es fast für Absicht halten. Und ich will verdammt sein, wenn ich es nicht dafür hielt. Man kann ja nie wissen, wieviel du von dem, was vorgeht, insgeheim begriffen hast, bei. deiner verfluchten, kaltschnäuzigen Art, nirgendwohin zu sehen und nichts zu sagen.«
Seine heisere Stimme schwieg eine Weile. Frau Verloc entgegnete nichts. Angesichts dieses Schweigens schämte er sich seiner Worte. Doch wie es friedlichen Männern in häuslichen Zwisten oft geschieht: da er sich schämte, ging er noch einen Schritt weiter.
»Du hast mitunter eine verteufelte Art, den Mund zu halten,« fuhr er fort, ohne die Stimme zu heben, »genug, um einen verrückt zu machen. Ein Glück für dich, daß ich nicht so leicht über deine taubstummen Künste aus dem Häuschen gerate, wie vielleicht manche andere. Ich habe dich gern. Aber treib du es nicht zu weit! Dies ist nicht die Zeit dazu. Wir sollten nachdenken, was wir nun am besten zu tun haben. Ich kann dich heute abend nicht mehr ausgehen lassen, damit du mit irgendeiner verrückten Geschichte über mich zu deiner Mutter rennst. Ich will es nicht haben. Gib dich keinem Irrtum darüber hin: wenn du sagst, daß ich den Jungen umgebracht habe, dann hast du ihn mindestens ebensogut umgebracht.«
An Echtheit der Empfindung und Offenherzigkeit übertrafen diese Worte bei weitem alles, was je in dieser Häuslichkeit ausgesprochen worden war, die, unter dem Aushängeschild eines Handels mit mehr oder minder geheimen Waren, von dem Solde für eine Geheimtätigkeit erhalten wurde: armselige Mittel, die einem Durchschnittsmenschen geeignet scheinen konnten, die unvollkommene menschliche Gesellschaft vor den nicht minder geheimen Gefahren seelischer und körperlicher Zerrüttung zu bewahren. Die Worte waren ausgesprochen worden, weil Herr Verloc tatsächlich empört war; doch blieb die trauliche Behäbigkeit dieses Heims augenscheinlich unberührt davon, dieses Heims, das in einer düsteren Straße, hinter einem Laden gelegen war, wohin die Sonne nie drang. Frau Verloc hörte ihn mit vollendeter Höflichkeit bis zu Ende an und erhob sich dann von ihrem Stuhl, in Hut und Jacke, wie eine Besucherin, die sich empfehlen will. Sie näherte sich ihrem Gatten, einen Arm ausgestreckt, wie zu stummem Lebewohl. Ihr Schleier, dessen eines Ende an ihrer linken Gesichtshälfte herunterhing, gab ihren gemessenen Bewegungen einen Anstrich von Leichtfertigkeit. Als sie aber am Kamin ankam, stand Herr Verloc nicht länger dort. Er war zum Sofa hingegangen, ohne sich auch nur mit einem Blick von der Wirkung seines Redeschwalls zu überzeugen. Er war müde, dabei aber ganz ehelich ergeben. Doch fühlte er sich im zartesten Punkt seiner geheimen Schwäche verletzt. Wollte sie in dem fürchterlich erdrückenden Schweigen verharren – nun gut, dann mochte sie es tun. Sie war Meisterin in jener häuslichen Kunst. Herr Verloc warf sich wuchtig auf das Sofa, wie gewöhnlich, ohne sich um das Schicksal seines Huts zu kümmern, der, daran gewöhnt, für sich selbst zu sorgen, unter dem Tisch Zuflucht suchte.
Er war müde. Die letzten Reste seiner Nervenkraft waren in den erstaunlichen Fehlschlägen dieses Schicksalstages aufgegangen, der einen Monat voll Schlaflosigkeit, Gespensterseherei und Unrast abschloß. Er war müde. Der Mensch ist nicht von Stein. Hol’ alles der Teufel! Herr Verloc nahm seine besondere Ruhestellung ein, in Überkleidern. Der eine offene Flügel seines Überrocks schleifte auf dem Boden. Herr Verloc lag auf dem Rücken. Doch sehnte er sich nach besserem Ausruhen – nach Schlaf – nach ein paar Stunden köstlichen Vergessens. Das würde später kommen. Vorläufig ruhte er einmal und dachte: »Wenn sie nur den verdammten Unsinn lassen wollte! Es macht einen toll!«
An Frau Verlocs Gefühl neugewonnener Freiheit schien irgend etwas nicht zu stimmen. Anstatt nun zur Türe hinauszugehen, lehnte sie sich mit den Schultern gegen den Kaminsims, wie ein Wanderer an einem Zaune rastet. Durch den schwarzen Schleier, der wie ein Fetzen an ihrer Wange herunterhing, kam etwas Wildes in ihr Aussehn, ebenso wie durch die Starrheit ihrer schwarzen Augen, die das Licht restlos aufnahmen, ohne auch nur einen Schimmer davon zurückzustrahlen. Die Frau, die eines Handels fähig gewesen war, dessen bloße Andeutung Herrn Verlocs Begriff von Liebe über den Haufen geworfen hätte, zögerte nun, wie unter dem peinlichen Eindruck, daß sie etwas tun müsse, um der Angelegenheit einen richtigen Abschluß zu geben.
Auf dem Sofa räkelte Herr Verloc seine Schultern in die bequemste Lage und sprach aus vollem Herzen einen Wunsch aus, der gewiß so fromm war, wie nur irgend etwas, das aus dieser Quelle zu erwarten war.
»Ich wünschte zu Gott,« knurrte er, »daß ich weder Greenwich Park, noch irgend etwas, was dazu gehört, je gesehen hätte.«
Die leisen Worte füllten das Zimmer mit ihrem Klang, der der bescheidenen Art des Wunsches angemessen war. Die Luftwellen von geziemender Länge verbreiteten sich nach genauen mathematischen Gesetzen, umfluteten alle unbelebten Dinge im Zimmer und schlugen auch an Frau Verlocs Kopf, als wäre es ein Kopf von Stein. Und so unglaublich es klingen mag, Frau Verlocs Augen schienen noch größer zu werden. Dieser hörbare Wunsch aus Herrn Verlocs übervollem Herzen überflutete eine leere Stelle im Gedächtnis seines Weibes. Greenwich Park! Ein Park! Dort war der Junge getötet worden! Ein Park – zerfetzte Zweige, abgerissene Blätter, Kies, Fetzen von brüderlichem Fleisch und Bein, alles wie in einem Feuerwerk durcheinander gewirbelt. Nun erinnerte sie sich daran, was sie gehört hatte, und sah es zugleich bildhaft vor sich. Sie mußten ihn mit der Schaufel zusammenkratzen. Von zwingenden Schauern geschüttelt, sah sie die grauenhafte Handlung, wie er vom Boden aufgekratzt wurde, geradezu vor sich. Frau Verloc schloß verzweifelt die Augen, warf über die Vision das Dunkel ihrer Lider, wo nach dem Niederregnen zerfetzter Gliedmaßen Stevies abgerissener Kopf losgelöst schweben blieb, um endlich ins Schattenhafte zu verschwimmen, wie der Schlußeffekt eines künstlichen Feuerwerks. Frau Verloc schlug die Augen auf.
Ihr Antlitz war nicht länger steinern. Jedermann hätte die feine Veränderung in ihren Zügen, im Blick ihrer Augen bemerken können, die ihr ein überraschend neues Aussehen gaben; einen Ausdruck, der von Berufenen selten mit der für wissenschaftliche Untersuchung nötigen Ruhe und Sicherheit beobachtet werden kann, über dessen Bedeutung aber nach dem ersten Blick kein Zweifel möglich war. Frau Verlocs Zweifel über den Abschluß des Handels war behoben; ihr Verstand, nun scharf gesammelt, arbeitete unter der Macht ihres Willens. Aber Herr Verloc beobachtete nichts. Er ruhte in der zuversichtlichen Hingegebenheit, die aus übermäßiger Ermüdung kommt. Er wollte keinen Streit mehr – nicht mit seiner Frau – mit niemand in der Welt. Seine Beweisführung war unwiderleglich gewesen. Er wurde um seiner selbst willen geliebt. Auch ihr Schweigen legte er jetzt günstig aus. Nun war es Zeit, ein Ende zu machen. Das Schweigen hatte lange genug angehalten. Er brach es, indem er sie leise anrief:
»Winnie.«
»Jawohl«, antwortete Frau Verloc, das freie Weib, gehorsam. Nun hatte sie ihren Verstand in der Gewalt, und ihre Stimme; sie fühlte, daß sie in geradezu übernatürlicher Weise jede Fiber ihres Körpers beherrschte. Nun gehörte alles ihr, denn der Handel war zu Ende. Sie sah klar. Sie war listig geworden. Mit Vorbedacht antwortete sie ihm so bereitwillig. Sie wollte nicht, daß der Mann seine Stellung auf dem Sofa ändern sollte, die für ihr Vorhaben so günstig war. Sie gab nach. Der Mann rührte sich nicht. Nach ihrer Antwort aber blieb sie nachlässig gegen den Kaminsims gelehnt, in der Haltung eines rastenden Wanderers. Sie hatte keine Eile. Ihre Stirn war glatt. Herrn Verlocs Kopf und Schultern waren ihr durch die hohe Lehne des Sofas verborgen. Sie hielt die Augen auf seine Füße gerichtet.
So blieb sie rätselhaft stumm und plötzlich gesammelt, bis sie Herrn Verloc in ehelichem Befehlston sprechen und dabei mit einer kleinen Bewegung ihr auf dem Sofa Platz machen hörte.
»Komm her«, sagte er in einem Ton, den man für grob halten konnte, von dem Frau Verloc aber genau wußte, daß er einladend gemeint war.
Sie stürzte sogleich vor, als wäre sie immer noch ein treues Weib und durch ungebrochene Bande an jenen Mann geknüpft. Ihre rechte Hand tastete leicht über den Tischrand, und als sie am Sofa ankam, war das Vorlegemesser ohne den geringsten Laut von der Fleischplatte verschwunden. Herr Verloc hörte das leise Knarren der Diele und war zufrieden. Er wartete. Frau Verloc kam. Als hätte Stevies heimatlose Seele geradewegs in der Brust seiner Schwester, Schirmerin und Gönnerin Zuflucht gesucht, so wuchs mit jedem Schritt die Ähnlichkeit ihres Gesichts mit dem ihres Bruders, sogar bis zum Hängen der Unterlippe, sogar noch bis zum leichten Schielen der Augen. Doch Herr Verloc sah das nicht. Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke. Er sah zum Teil auf der