Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
sagen könnte! Ob man mich wohl des Fracks wegen arretieren würde? Unmöglich! Er würde begreifen, auf welcher Seite das Recht liegt. Er begreift alles und weiß alles! Da gehen sie hinein«, dachte er, als er einen Offizier in das Haus treten sah, das der Kaiser bewohnte. »Ach, Unsinn, ich gehe auch hinein und gebe dem Kaiser den Brief.« Und plötzlich ging Rostow mit einer Entschlossenheit, über die er sich selbst wunderte, gerade auf das Haus zu. »Nein, jetzt werde ich die Gelegenheit nicht wieder versäumen wie bei Austerlitz«, dachte er. Bei dem Gedanken, daß er jeden Augenblick dem Kaiser begegnen könne, strömte sein Blut zum Herzen. »Ich werde ihm zu Füßen fallen, er wird mich aufheben, mich anhören und mir noch dafür danken. ›Ich bin glücklich, wenn ich Gutes tun kann, und Unrecht wieder gutzumachen, ist das höchste Glück!‹ wird der Kaiser sagen.« Von der Eingangstür führte eine breite Treppe nach oben, rechts war eine verschlossene Tür, unter der Treppe, welche in den oberen Stock führte, war noch eine Tür sichtbar.
»Was wünschen Sie?« fragte jemand.
»Einen Brief abgeben, eine Bittschrift an Seine Majestät«, sagte Nikolai mit zitternder Stimme.
»Eine Bittschrift? – Zum Dejourierenden! Bitte, dorthin!« Man deutete auf die Tür unter der Treppe. »Aber sie wird nicht angenommen werden.« Ein Kammerfurier öffnete ihm die Tür zum Dejourierenden, und Rostow trat ein.
Ein kleiner, dicker Mann von etwa dreißig Jahren mit weißen Beinkleidern und Reiterstiefeln stand im Zimmer. Ein Kammerdiener legte ihm gestickte Tragbänder um. Dieser Mann sprach mit jemand, der sich im nächsten Zimmer befand. »Was wollen Sie?« fragte er Rostow. »Eine Bittschrift?«
»Was gibt’s?« fragte jemand aus dem anderen Zimmer.
»Noch ein Bittsteller«, erwiderte der Mann mit den Tragbändern.
»Sagen Sie ihm, er solle später kommen! Gleich wird der Kaiser herauskommen; wir müssen fort.«
»Später! Später! Morgen!«
Rostow wandte sich um und wollte gehen, aber der Mann mit den Tragbändern hielt ihn an. »Von wem? Wer sind Sie?«
»Vom Major Denissow!« rief Rostow.
»Wer sind Sie? Offizier?«
»Leutnant, Graf Rostow.«
»Welche Kühnheit! Geben Sie es auf dem Kommando ab. Und nun gehen Sie! Gehen Sie!« Er zog hastig den Uniformrock an, den ihm der Kammerdiener reichte.
Rostow ging wieder auf den Flur hinaus und bemerkte, daß auf der Vortreppe schon viele Generale in voller Uniform standen, an welchen er vorübergehen mußte. Seine Dreistigkeit verwünschend und halb erstarrt bei dem Gedanken, daß er jeden Augenblick dem Kaiser begegnen könne und daß er schimpflich behandelt und in Arrest geschickt werden könne, verließ Rostow das Haus, das von der glänzenden Suite umgeben war, als eine bekannte Stimme ihn anrief.
»Oho, Väterchen, was machen Sie hier im Frack?« fragte eine Baßstimme. Das war ein Kavalleriegeneral, der in diesem Feldzug die besondere Gewogenheit des Kaisers erworben hatte, der frühere Divisionsgeneral Rostows. Erschrocken begann Rostow sich zu entschuldigen, aber beim Anblick der gutmütigen, scherzhaften Miene des Generals, der ihn beiseite führte, teilte er ihm mit aufgeregter Stimme die ganze Sache mit und bat um seine Unterstützung für den ihm bekannten Denissow.
»Schade, schade um den Jungen!« sagte der General, den Kopf wiegend.
»Gib den Brief her!«
Kaum hatte Rostow ihm den Brief übergeben, als man von der Treppe her rasche Schritte vernahm. Der General verließ Rostow und ging auf die Haustür zu. Die Herren der Suite eilten zu ihren Pferden, und auf der Treppe hörte Rostow leichte Schritte, welche er sogleich erkannte. Rostow vergaß die Gefahr, erkannt zu werden, näherte sich mit einigen neugierigen Einwohnern der Vortreppe und jetzt sah er wieder nach zwei Jahren die von ihm verehrten Züge, dasselbe Gesicht, denselben Blick und Gang, dieselbe Majestät und Milde. Entzücken und Liebe zum Kaiser erfüllte Rostows Herz. Der Kaiser in der Uniform des Preobraschenskyschen Garderegiments, mit hohen Stiefeln und einem Rostow unbekannten Orden, dem Stern der Ehrenlegion, trat auf die Vortreppe hinaus mit dem Hut unter dem Arme und zog sich Handschuhe an. Er betrachtete und erleuchtete alles um sich her mit seinem Blick. Er erkannte auch den früheren Divisionsgeneral Rostows, lächelte ihm zu und rief ihn zu sich.
Die ganze Suite trat zurück, und Rostow sah, wie der Kaiser ziemlich lange mit dem General sprach. Der Kaiser machte endlich einen Schritt nach seinem Pferd.
»Ich kann nicht, General«, sagte er ziemlich laut, augenscheinlich mit dem Wunsche, von allen gehört zu werden, »denn das Gesetz ist stärker als ich.« Er stellte den Fuß in den Steigbügel. Der General neigte ehrerbietig den Kopf, der Kaiser stieg zu Pferde und ritt im Galopp die Straße entlang. Außer sich vor Entzücken lief Rostow mit der Menge ihm nach.
88
Auf dem Platz, nach welchem der Kaiser ritt, standen einander gegenüber rechts ein Bataillon vom Preobràschenskyschen Garderegiment und links ein Bataillon der französischen Garde mit Bärenmützen. Während der Kaiser den einen Flügel erreichte, galoppierte ein anderer Reitertrupp vom anderen Flügel her, und an der Spitze desselben erkannte Rostow Napoleon. Es konnte kein anderer sein, er ritt im Galopp, trug einen kleinen Hut und das Band des Andreasordens über der Schulter. Als er sich Alexander näherte, zog er den Hut, und bei dieser Geste bemerkte das Kennerauge Rostows, daß Napoleon schlecht und unsicher auf dem Pferde saß. Die Bataillone schrie »Hurra!« und »Vive l’empereur!« Napoleon sagte etwas zu Alexander; beide Kaiser stiegen ab und reichten sich die Hände. Auf Napoleons Gesicht lag ein unangenehmes, gezwungenes Lächeln, Alexander sprach einige Worte mit freundlicher Miene. Rostow wandte keinen Blick von der Gruppe ab, ungeachtet des Drängens der französischen Gendarmen mit ihren Pferden. Mit Erstaunen sah er, daß Bonaparte mit dem russischen Kaiser ganz unbefangen sprach, als ob diese Annäherung für ihn etwas ganz Natürliches und Gewohntes wäre. Alexander und Napoleon begaben sich mit dem langen Schweif ihrer Suiten auf den rechten Flügel des russischen Gardebataillons. Die Menge, darunter auch Rostow, befand sich unerwartet in der unmittelbaren Nähe der Kaiser.
»Sire, ich bitte um die Erlaubnis, dem tapfersten Ihrer Soldaten den Orden der Ehrenlegion zu geben«, sagte die scharfe Stimme Napoleons.
Alexander hörte aufmerksam auf diese Worte und lächelte freundlich.
»Demjenigen, der sich in diesem Krieg am tapfersten erwiesen hat«, fuhr Napoleon fort, jede Silbe betonend. Rostow war entrüstet über die Ruhe und Selbstgefälligkeit, mit der Napoleon die Reihe der Russen überblickte, welche mit präsentiertem Gewehr unbeweglich nach dem Gesicht ihres Kaisers sahen.
»Erlauben Sie mir, Majestät, den Oberst nach seiner Meinung zu befragen«, sagte Alexander und trat mit einigen raschen Schritten auf den Grafen Koslowsky zu, der das Bataillon befehligte. Inzwischen nahm Bonaparte von seiner weißen, kleinen Hand den Handschuh ab, wobei er ihn zerriß und wegwarf. Ein Adjutant kam eilfertig herbei und hob ihn auf.
»Wen soll man vorschlagen?« fragte Alexander mit leiser Stimme ruhig den Obersten.
»Wie Sie befehlen, Majestät!«
Der Kaiser faltete ungeduldig die Stirn. »Man muß ihm doch antworten«, sagte er. Koslowsky überblickte die Reihen und dabei fiel sein Auge auch auf Rostow.
»Etwa ich?« dachte Rostow.
»Basarew!« rief der Oberst, und der Flügelmann Basarew trat rasch vor.
»Wohin gehst du?« flüsterten verschiedene Stimmen Basarew zu, welcher nicht wußte, wohin. Er blieb stehen und blickte erschrocken den Obersten an. Napoleon wandte etwas den Kopf zur Seite und griff mit seiner kleinen Hand nach rückwärts, als ob er etwas ergreifen wollte. Die Adjutanten begriffen, um was es sich handelte, flüsterten untereinander und reichten sich etwas zu, und derselbe Page, welchen Rostow gestern bei Boris gesehen