Sophienlust 144 – Familienroman. Aliza KortenЧитать онлайн книгу.
Müdigkeit überwältigt wurde. Der Collie machte es sich in seinem Korb zu Peggys Füßen bequem. Nun konnte auch der Schriftsteller endlich daran denken, sich auszustrecken. Ein Glück, dass sie in Sophienlust nicht ahnen, wie es uns nach der Absendung des Telegramms ergangen ist, dachte er, bevor er einschlief.
*
Denise von Schoenecker stand vom Frühstückstisch auf.
»So eilig?«, fragte Alexander von Schoenecker etwas enttäuscht. »Ich dachte, wir hätten noch ein wenig Zeit.« Er erhob sich ebenfalls und schloss seine Frau zärtlich in die Arme. »Wenn ich dich festhalte, kommst du einfach nicht weg«, scherzte er.
Denise küsste ihn. »Sei nicht böse, Alexander. Frau Rennert musste dringend für ein paar Tage verreisen, deshalb werde ich in Sophienlust gebraucht.«
»Du wirst auch in Schoeneich gebraucht, und zwar in erster Linie von mir.« Alexander sagte es lächelnd und ohne Vorwurf. Längst hatte er die von seiner Frau übernommene schöne Aufgabe akzeptiert und sie sich zu eigen gemacht. Dennoch bedauerte er gelegentlich, dass ihnen die mannigfachen Pflichten nur wenig Zeit für ungestörte Mussestunden zu zweit ließen.
Arm in Arm verließen die beiden die Halle des Gutshauses. Vor der Tür stand Denises Wagen. Höflich hielt ihr Mann ihr den Schlag auf.
Eben wollte sie den Gang einlegen, als zwei Buben aus dem Hause stürmten. »Nimmst du uns mit, Mutti?«
»Aber ihr habt nicht gefrühstückt, ihr Faulenzer«, wandte der Vater ein. »Die Ferien verderben hier alle guten Sitten.«
»Wir kriegen bei Magda schon etwas«, antwortete Henrik, der jüngste der Familie, unbekümmert. Seine Eltern konnten manchmal kaum glauben, dass er inzwischen schon ein Schulbub geworden war.
»Magda macht uns bestimmt Spiegeleier auf Speck«, fügte Nick, ein lang aufgeschossener Gymnasiast hinzu, der seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war.
»Kommt schon, ich habe nicht viel Zeit«, drängte Denise.
Die Jungen kletterten in den Wagen. Alexander von Schoenecker hob grüßend die Hand. »Ich komme mittags nach Sophienlust«, rief er fröhlich hinterher.
»Weil Magda so gut kocht«, stellte Nick, der eigentlich auf den Namen Dominik getauft war, fest. »Vati lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, einmal drüben zu essen.«
Denise lachte. »Er kommt, weil er mich sonst den ganzen Tag nicht sieht, Freundchen. Nicht alle Leute denken nur ans Essen.«
Henrik zog eine Flunsch, was Denise im Rückspiegel deutlich sehen konnte. »Aber Magda ist die beste Köchin der Welt«, stellte er rechthaberisch fest.
»Streiten wir uns nicht. Habt ihr gut geschlafen? Wie steht’s mit dem Zähneputzen, Henrik?«
»Geschlafen – prima, Mutti. Aber die Zähne habe ich leider vergessen. Ich musste doch so schnell machen, damit wir dich noch erwischten.«
»Als ob ihr keine Fahrräder hättet! Die Zähne sind wichtig, Henrik. Versprich mir, dass das Putzen in Zukunft nicht vergessen wird.«
»Geht in Ordnung, Mutti«, sagte der Knirps im Tone eines älteren Herrn.
Denise schmunzelte verstohlen. Henrik, ihr Benjamin, vereinigte in der heitersten Weise Eigenschaften aus ihrer eigenen Familie mit denen ihres Mannes. Er war das einzige Kind aus ihrer glücklichen Ehe mit Alexander von Schoenecker. Nick stammte aus ihrer ersten Verbindung mit Dietmar von Wellentin, der noch vor der Geburt seines Sohnes gestorben war.
Auch Alexander war verwitwet gewesen, als Denise ihn kennengelernt hatte. Er hatte zwei Kinder mit in die Ehe gebracht. Sascha und Andrea. Sascha studierte bereits in Heidelberg, während Andrea von der Schulbank weg den Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn geheiratet hatte und nun schon stolze Mutter eines Söhnchens war.
An diesem klaren Sommermorgen lenkte Denise von Schoenecker ihren Wagen in rascher Fahrt auf der Verbindungsstraße zwischen Gut Schoeneich und Sophienlust dahin. Sie sah, wie sich die Sonne im See spiegelte, und das Herz ging ihr auf, weil sie glücklich und dankbar war.
Nun tauchte das ehemalige Herrenhaus von Sophienlust vor ihnen auf. Es war ein stolzes Gebäude, und die Kinder, die hier eine neue Heimat gefunden hatten, sagten gern, dass es wie ein Schloss wirkte.
Nick, dem Sophienlust als Erbteil von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin zugefallen war, nannte Sophienlust stets das Haus der glücklichen Kinder. Denise aber hatte sich nach dem Willen der alten Dame der segensreichen Aufgabe verschrieben, aus dem ehemaligen Herrenhaus eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder zu machen und dieses Kinderheim zu leiten, bis sie die Verantwortung ihrem Sohn Dominik übertragen konnte.
Schwester Regine, für die Kleinsten im Heim verantwortlich, kam Denise am Portal des Herrenhauses entgegen und begrüßte die Angekommenen herzlich. Sie hatte in Sophienlust nach schwerem Schicksal einen neuen Wirkungskreis gefunden, den sie sehr liebte. In Abwesenheit der tüchtigen Heimleiterin, Frau Rennert, hielt sie die Zügel in Sophienlust in den Händen.
»Wo ist Pünktchen?«, fragte Nick.
Pünktchen, mit vollem Namen Angelina Dommin genannt, war Nicks besondere Freundin. Sie hatte lustige Sommersprossen auf dem kecken Näschen und wurde deshalb von jedermann Pünktchen genannt.
»Alle Kinder sind im Park, Nick«, entgegnete Schwester Regine. »Es ist eine tote Amsel gefunden worden. Die soll eingegraben werden.«
»Da müssen wir uns drum kümmern«, erklärte Henrik wichtigtuerisch. Schon waren die beiden Brüder verschwunden.
»Vergesst das Frühstück nicht«, rief die Mutter hinter ihnen her, ehe sie sich Schwester Regine zuwandte. »Sonst alles in Ordnung, Schwester Regine?«, fragte sie warm.
»Ja, Frau von Schoenecker. Wir wollen später im See baden, falls das Wetter sich hält. Oder haben Sie etwas dagegen?«
»Nein, warum denn? Die Ferientage müssen genutzt werden. Haben Sie die Post schon durchgesehen?«
»Nein. Sie ist gerade erst gekommen, Frau von Schoenecker.«
»Nun, dann weiß ich gleich, was ich zu tun habe.«
Denise betrat die Halle des Herrenhauses. Es war nicht sonderlich schwierig gewesen, dieses Gebäude für den neuen Zweck umzugestalten. Nur ein einziges war von allen Neuerungen unberührt geblieben. Das war das Biedermeierzimmer, das einst Sophie von Wellentin bewohnt hatte. Dort grüßte das lebendig gemalte Ölbildnis der alten Dame von der Wand, dort stand noch ihr Sekretär aus Kirschbaumholz, dort wehte auch heute noch ihr Geist. Denise zog sich gern in diesen Raum zurück und empfing dort auch Gäste. Oftmals hatte sie sich in Zweifelsfragen in stummer Zwiesprache mit dem Gemälde der alten Dame Rat geholt.
Auch heute nahm Denise die Post aus dem kleinen Büro mit ins Biedermeierzimmer, um ungestört arbeiten zu können. Sie fand Rechnungen, Anfragen, einen Bericht vom Jugendamt und einen Brief von Eugen Luchs. Diesen Brief öffnete sie zuerst.
»Da hätte er wirklich nicht zu fragen brauchen«, sagte sie nach dem Lesen halblaut vor sich hin. »Ich muss gleich mit Schwester Regine sprechen.«
Denise fand die Kinderschwester damit beschäftigt, das Badezeug der Kleinen zusammenzupacken. Die größeren Kinder konnten das schon selbst tun.
»Herr Luchs bringt uns ein Kind mit, Schwester Regine. Der Brief ist eine gute Woche unterwegs gewesen. Ich nehme an, dass Herr Luchs morgen oder übermorgen eintreffen wird. Vielleicht sogar noch heute.«
»Platz haben wir ja, Frau von Schoenecker. Ist es ein Waisenkind?«
»Das steht noch nicht fest. Herr Luchs hat die kleine Gudrun beim Hochwasser aus dem Fluss gerettet. Obwohl sofort eingehende Nachforschungen angestellt wurden, ließ sich nicht herausfinden, wem das Kind gehört. Es scheint nicht einmal seinen Familiennamen zu kennen. Wie es Herr Luchs fertiggebracht hat, die österreichischen Behörden davon zu überzeugen, dass es für Gudrun das Beste ist, nach Sophienlust gebracht zu werden, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er die Genehmigung erwirkt