Mami Staffel 7 – Familienroman. Lisa SimonЧитать онлайн книгу.
Bestürzt sah Nicole zu dem Mann hinüber. Da hatte sie doch tatsächlich gedacht, sie wäre die einzige, die so großen Kummer hatte!
»Das tut mir leid«, stammelte sie verlegen, doch Thomas lachte.
»Mir nicht! Doris hat sich nie viel aus Sina gemacht. Die Kleine schrie ihrer Meinung zuviel als Baby, machte zuviel Arbeit und ließ ihr kaum Freizeit. Darüber hat sie sich oft genug beschwert.«
Nicole sah beschämt auf ihr Weinglas. Genauso war sie selbst auch gewesen – erschreckend!
»Als Doris mir dann eines Tages sagte – Sina war gerade vierzehn Monate alt –, daß sie einen Mann kennengelernt hätte, der sie auf Händen tragen würde, habe ich sie gern gehen lassen.«
»Und wer kümmert sich um Sina, wenn Sie arbeiten?«
»Ganz ohne Hilfe geht es natürlich nicht, wenn man berufstätig ist und die Brötchen verdienen muß. Ich habe eine sehr nette ältere Haushälterin, Frau Wagner, die sich liebevoll um Sina kümmert. Aber ich merke natürlich, daß ihr eine richtige Mutter fehlt, obwohl Frau Wagner ihr Bestes gibt. Ich beschäftige mich in jeder freien Minuten mit der Kleinen, aber oft reicht die Zeit nur für eine Gutenachtgeschichte.«
Zärtlich lächelte Thomas, und Nicole dachte sich, wie sehr er doch sein Töchterchen lieben mußte. Sie beneidete ihn, durfte jedoch nicht zu sehr wegen ihres eigenen Schicksals jammern – immerhin hatte sie selbst Schuld, daß ihr kleiner Sohn bei fremden Leuten aufwuchs.
*
Zwischen Nicole und ihrem Chef hatte sich eine heimliche Vertrautheit entwickelt, die in der Kanzlei kaum auffiel. Dr. Kleiber sagte das eine um das andere Mal, daß die beiden ein hervorragendes Team wären – und das stimmte auch. Nicole leistete gute Arbeit als Vorzimmerdame und hielt Dr. Benedikt alles Unnötige vom Leib, damit er sich auf seine Tätigkeit als Anwalt konzentrieren konnte.
Mit keinem Wort hatte Nicole ihren Kolleginnen von dem wundervollen Abendessen mit ihrem Chef erzählt; es ging ja auch niemanden etwas an!
In den nächsten Wochen wiederholten sich die harmlosen Treffen, mal in einem Restaurant, mal in einer gemütlichen Weinstube. Einmal waren sie sogar gemeinsam zum Tanzen gewesen – und Nicole hatte den Abend in vollen Zügen genossen!
In dem Tanzlokal hatte sie bemerkt, daß einige andere Frauen sehnsüchtig zu Thomas hin
schielten. Plötzlich sah auch sie, welch attraktiver Mann er war – groß, breitschultrig und gutaussehend.
Als sie an diesem Abend im Bett lag, dachte sie nicht nur an ihr
Baby, sondern auch an Thomas.
Und diese Gedanken hatten nichts mit der Arbeit in der Kanzlei zu tun…
Fast erschrocken stellte Nicole fest, daß sie sich in Thomas Benedikt verliebt hatte. Aber das ging doch nicht, er war immerhin ihr Vorgesetzter! Und der Grund, weshalb er sie öfter nach Feierabend einlud, lag auch auf der Hand: Er selbst war ziemlich einsam, und er wußte von Nicoles verzweifeltem Verlangen. Aber trotzdem…
*
Auch Thomas lag an diesem Abend grübelnd in seinem Bett und konnte keinen Schlaf finden. Die hübsche Nicole Kamrath hatte ihm vom ersten Moment an gefallen – sogar sehr gefallen. Eigentlich war sie die erste Frau, für die er sich nach der Trennung von Doris interessierte.
Er wußte nicht, ob Nicole sich mit ihm privat traf, weil sie ihn mochte oder dies nur aus Höflichkeit tat.
Eigentlich hatte Sina ihm die Augen geöffnet. Beim Zubettgehen hatte sie ihren Vater gefragt, ob er diese Nicole nicht mal mit nach Hause bringen konnte, weil er doch soviel von ihr erzählte. Thomas war sich überhaupt nicht bewußt gewesen, daß er dies tat und versprach der Kleinen, die allerliebst in ihrem Teddy-Pyjama aussah und ihn erwartungsvoll ansah, diese Nicole mal zu fragen, ob sie Lust hätte, am Wochenende an einem Picknick am See teilzunehmen, das sich Thomas und Sina schon seit langem vorgenommen hatten.
Als die Kleine dann schlief, bereute Thomas seine rasche Zunge. Was war, wenn Nicole ein gemeinsames Treffen mit Vater und Tochter zu persönlich war? Nicht nur Sina, auch er selbst wäre maßlos enttäuscht, wenn Nicole nicht mochte.
Für den nächsten Morgen war ein Gerichtstermin angesetzt, zu dem Nicole Thomas begleiten sollte. Hin und wieder kam es vor, daß Thomas seine Sekretärin mit ins Gerichtsgebäude nahm; meistens blieb sie jedoch im Büro und arbeitete dort.
*
Nicole fand es aufregend, neben Thomas im Gerichtssaal zu sitzen und sich Notizen zu machen. In diesem Fall ging es um eine Frau, die ihren geschiedenen Mann auf mehr Unterhalt verklagte, weil sie herausbekommen hatte, daß er neben seinem Beruf noch eine einträgliche Nebentätigkeit ausübte.
Die Frau tat Nicole leid; vor dem Richter erzählte sie, daß sie sich mehr schlecht als recht mit ihren beiden Kindern durchs Leben schlug, außer dem mageren Unterhalt und einer schlecht bezahlten Stelle als Raumpflegerin hatte sie keinerlei Einkommen. Ganztags arbeiten kam für sie nicht in Frage, weil die Kinder nur vormittags im Kindergarten waren. Einen richtigen Beruf hatte sie auch nicht gelernt, weil sie praktisch von der Schulbank aus schwanger geworden war und geheiratet hatte. Irgendwann war die Ehe nur noch eine Farce gewesen, unter der nicht nur die Eheleute, sondern auch die beiden kleinen Mädchen gelitten hatten.
Nicole betete heimlich, daß Thomas für die abgehärmt aussehende Frau eine höhere Zahlung erwirken konnte. Der Mann trug einen gutgeschnittenen Anzug und sah sehr weltmännisch aus. Nicole mochte diesen Mann nicht – und stellte entsetzt fest, daß Rainer ein ähnlicher Typ war!
Schließlich wurde der Mann verurteilt, seiner geschiedenen Frau eine um mehrere hundert Mark höhere monatliche Zahlung zu leisten und außerdem eine Nachzahlung für drei Monate!
Der Angeklagte sah überhaupt nicht mehr überheblich aus nach dem Urteil, sondern schien vor unterdrückter Wut zu beben. Karin Müller, Thomas’ Klientin, umarmte ihren Anwalt ungestüm vor dem Gerichtsgebäude. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich wußte nicht mehr ein noch aus! Sie waren wirklich meine letzte Rettung.«
Thomas lächelte geniert; es war ihm sichtlich peinlich, so vor Nicole gelobt zu werden. »Ich habe nur meine Pflicht getan.«
Als Karin Müller gegangen war, meinte auch Nicole, daß er ein wirklich guter Anwalt war.
»Glück gehabt«, wehrte dieser ab. »Herr Müller hatte keinen besonders guten Rechtsbeistand. Haben Sie nicht gesehen, wie der ständig nach den richtigen Worten suchte?«
Sie fuhren gemeinsam in Thomas’ Wagen in die Kanzlei zurück. Jetzt war die Zeit gekommen, Nicole wegen des Picknicks zu fragen! Sie war noch ganz gefangen von den Erlebnissen im Gerichtssaal, und ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet.
»Übrigens soll ich Sie von Sina grüßen«, begann er schließlich, als sie an einer roten Ampel warten mußten, und sah dabei angestrengt aus dem Fenster.
»Von Ihrer Tochter?« fragte Ni-cole erstaunt. »Aber die Kleine kennt mich doch gar nicht.«
»Das nicht, aber sie würde Sie gern kennenlernen. Sie ist der Meinung, ich hätte schon soviel von Ihnen erzählt, daß sie richtig neugierig geworden ist.«
Nicoles Herz schlug ihr bis in den Hals. Thomas hatte mit seiner Tochter über sie geredet!
»Also, wir haben uns deshalb überlegt, Sie zu fragen…«, Thomas ärgerte sich augenblicklich über sein Gestammele; im Gerichtssaal konnte er reden wie ein junger Gott – und vor dieser zierlichen Frau brabbelte er wie ein Pennäler!
»Was möchten Sie mich denn fragen?« Nicole wagte nicht zu hoffen, daß sie nun eine Einladung bekam, die kleine Sina kennenzulernen. Schon öfter hatte sie sich gewünscht, das Kind, von dem Thomas so liebevoll erzählte, zu sehen. Nach wie vor dachte Nicole ständig an ihr eigenes Kind, aber durch die Erzählungen über Sina wurde sie ein wenig abgelenkt.
»Nun, wir wollen am Sonntag ein Picknick am Waldsee machen, Sina und ich. Vielleicht hätten