Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.
nämlich, und dann wurde ihm die Sache zu langweilig, und ich durfte sie fertig schreiben. Ich tat es ganz gerne, denn ich kam sonst gut mit dem Herrn Direktor aus. Wenn ich die Sache nicht ganz ernst behandle, Studer, müssen Sie das entschuldigen. Der Herr Direktor hatte nämlich eine Vorliebe für hübsche Pflegerinnen, und die Meitschi waren sehr geschmeichelt, wenn der Herr Direktor ihnen sein Wohlgefallen ausdrückte, etwa mit einem kleinen Kneifen in die Wange oder mit einem sanften Tätscheln, das der Bewunderung für die Rundung ihrer Formen einen adäquaten Ausdruck verleihen sollte… Item, wie der Erzähler sagt, gestern um zehn Uhr wurde der Herr Direktor während unseres kleinen Festes ans Telefon gerufen, und seither ist er verschwunden. Ein kleiner Seitensprung? Vielleicht. Bedenklich wird die Sache eigentlich nur durch das Entweichen des Patienten Pieterlen, der sein neben dem Wachsaal B liegendes Zimmer verlassen hat unter Hinterlassung eines niedergeschlagenen Nachtwärters. Bohnenblust heißt der Nachtwärter, er hat eine eiergroße Beule an der Stirn, Folge seines Zusammenstoßes mit dem freiheitssüchtigen Pieterlen, und Sie werden ihn einem Kreuzverhör unterwerfen können… Wie gesagt, vergessen Sie eines nicht: Der Herr Direktor hat hübsche Wärterinnen gern gehabt… Aber Diskretion, wenn ich bitten darf, Anstaltsdirektoren sind tabu, außerdem kleine Päpste und als solche zur Unfehlbarkeit verurteilt…«
»Aber Ernscht!« sagte Frau Laduner, und dann mußte sie lachen. »Er redet so komisch!« entschuldigte sie sich.
Es stimmte nicht… Dr. Laduner redete gar nicht komisch. Und auch die Bemerkung der Frau war ein Täuschungsmanöver, denn sie mußte merken, daß diese witzelnde Art, zu erzählen, falsch klang. Sie war nicht dumm, die Frau Doktor, das sah man ihr an. Auch daß sie das im Dialekt sonst nicht übliche ›komisch‹ brauchte, bestätigte eigentlich den Eindruck, daß irgend etwas nicht stimmte… Was?… Es war noch zu früh, um sich auf Kombinationen einzulassen. Vielleicht war Dr. Laduners Rat, sich erst einzuleben, doch ehrlich gemeint; man konnte belanglose Fragen stellen, die aber immerhin dazu dienen mußten, die Atmosphäre, in der man sich bewegen sollte, deutlicher zu machen.
»Ihr habt von einer ›Sichlete‹ gesprochen, Herr Doktor, was war das? Ich weiß schon, was eine Sichlete ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß in einer Anstalt…«
»Nun, wir sorgen für die Zerstreuung der Patienten. Die Anstalt besitzt einen großen landwirtschaftlichen Betrieb, und wenn das Korn eingebracht worden ist (›Korn eingebracht!‹ dachte Studer, ›wie der redet!‹), so feiern wir das. Wir haben eine Kapelle, die sonst den sonntäglichen Predigten dient, an den Festabenden jedoch werden Tische aufgeschlagen, Hammen, wie sie hier sagen, und Härdöpfelsalat wird aufgestellt, die Musik spielt, und unsere Patienten tanzen miteinander, Männlein und Weiblein, die Pfleger und Pflegerinnen helfen mit, der Herr Direktor hält eine Rede, es gibt Tee, und erotische Spannungen werden abreagiert… Jawohl:… Gestern, am 1. September, haben wir also die Sichlete gefeiert… Wir Honoratioren – das heißt: der Direktor, der Herr Verwalter samt Frau, der Dr. Laduner samt Frau, der Ökonom ohne Frau und die andern Ärzte, wir saßen alle auf der Bühne – denn eine Bühne hat die Kapelle auch – und sahen uns den Tanz an. Der Patient Pieterlen war auch anwesend, er sorgte für Tanzmusik, denn er versteht es, der Handharpfe Walzer und Tangos zu entlocken. Um zehn Uhr trat der Jutzeler…«
»Wer ist der Jutzeler?« fragte Studer und zog dabei sein Notizbuch. »Ihr müßt schon entschuldigen, Herr Doktor, aber mit meinem Namensgedächtnis ist es nicht weit her, und so muß ich mir Notizen machen…«
»Ge-wiß!« sagte Dr. Laduner, warf einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr und gähnte. Frau Laduner begann den Tisch abzuräumen.
»Wir haben also«, sagte Studer bedächtig und wußte ganz gut, daß er ein wenig Theater spielte, aber das schien ihm gerade günstig in diesem Augenblick. »Wir haben also als handelnde Personen:
Borstli Ulrich, Direktor – verschwunden. Pieterlen… Wie heißt der Pieterlen mit Vornamen?«
»Peter, oder Pierre, wenn Sie lieber wollen, er stammt ursprünglich aus Biel«, antwortete Dr. Laduner geduldig.
»Pieterlen Peter, Patient, entwichen…« diktierte sich Studer langsam und schrieb nach.
»Laduner Ernst, Dr. med., II. Arzt, stellvertretender Direktor!«
»Den brauch ich nicht aufzuschreiben, den kenn ich«, sagte Studer trocken und ignorierte die versteckte Bosheit. »Aber dann haben wir den Nachtwärter.«
Und Studer schrieb:
»Bohnenblust Werner, Nachtwärter auf B, Wachsaal.«
»Und«, sagte Laduner, »notieren Sie noch:
»Jutzeler Max, Abteilungspfleger, wir sagen kurz Abteiliger, auf B.«
»Was heißt der Buchstabe B?«
»B ist die Beobachtungsabteilung. Dorthin kommen alle Aufnahmen, manche Fälle lassen wir aber auch Jahre dort. Es kommt darauf an. R ist die Abteilung für ruhige Patienten, K die Abteilung für körperlich Kranke, dann sind noch die beiden unruhigen Abteilungen da: U 1 und U 2. U 2 ist der Zellenbau. Es ist leicht zu merken… Nach den Anfangsbuchstaben… Übrigens, der Abteiliger Jutzeler wird Ihnen gefallen, einer meiner tüchtigsten Leute… Was sonst an Pflegern herumläuft… Nicht einmal anständig organisieren kann man die Bande!«
›Organisieren?‹ dachte Studer. ›Was hat der alte Direktor zum Organisieren gemeint?‹ Aber er schwieg und fragte nur, während er die Spitze seines Bleistiftes über dem Notizbuch schweben ließ:
»Und was ist eigentlich mit Pieterlen?«
»Pieterlen?« wiederholte Dr. Laduner, und das Lächeln verschwand von seinem Mund. »Über Pieterlen will ich Ihnen heute abend Auskunft geben. Pieterlen… Um über Pieterlen Auskunft zu geben, braucht es Zeit. Denn Pieterlen, das war kein Direktor, das war kein Pfleger, das war kein x-beliebiger Mensch. Pieterlen, das war ein Demonstrationsobjekt…«
Es fiel Studer auf, daß Dr. Laduner die Mitvergangenheit brauchte. ›Pieterlen war…‹ So, wie man sonst nur von einem Toten spricht… Aber er schwieg. Der Arzt gab sich einen Ruck, stand auf, streckte sich und wandte sich dann zu seiner Frau:
»Ist der Chaschperli schon in die Schule?«
– Ja, er sei schon fort; er habe in der Küche gegessen.
»Der Chaschperli, das ist mein siebenjähriger Sohn, wenn Sie das noch notieren wollen, Studer«, sagte Dr. Laduner mit seinem steifen Lächeln. »Übrigens muß ich jetzt zum Rapport, Sie können mit mir hinunterkommen und das Büro ansehen… Das Direktionsbüro… Den Tatort, wenn Sie lieber wollen. Obwohl wir ja überhaupt noch nicht wissen, ob eine Tat getätigt worden ist.«
An der Gangtüre gab es noch einen Zusammenstoß. Ein junger Mann stand im Stiegenhaus und wollte unbedingt mit Dr. Laduner sprechen.
»Später, Caplaun, ich habe jetzt keine Zeit. Warten Sie im Salon. Ich werde zwischen Rapport und Visite mit Ihnen sprechen…«
Und Laduner begann die Treppe hinunterzuspringen, er nahm drei Stufen auf einmal.
Aber Studer folgte nicht. Er blieb auf dem Vorplatz stehen und starrte den Mann an, den Dr. Laduner Caplaun genannt hatte. Caplaun? Caplaun hatte doch sein alter Feind geheißen, der Oberst, der an jener Schiebung in der Bankaffäre beteiligt gewesen war, jener Bankaffäre, die den damaligen Kommissar Studer von der Stadtpolizei den Kragen gekostet hatte… Es gab nicht viele Caplaune in der Schweiz, es war ein seltener Name…
Nun, der Herr Oberst war es auf alle Fälle nicht; der Mann, der in Dr. Laduners Wohnung trat und sich in ein Zimmer schlich, so, als wisse er Bescheid, war jung… Jung, mager, blond, mit einer hohlen Brust… Bleich dazu, mit weitaufgerissenen Augen. Caplaun?…
Studer holte Dr. Laduner im Parterre ein. Der Arzt lief ungeduldig hin und her.
»Herr Doktor«, sagte Studer, »ihr habt den jungen Burschen, der zu euch hineingegangen ist, Caplaun genannt; ist er verwandt… ?«
»Mit dem Herrn Obersten, der Ihnen ein Bein gestellt hat, damals? Ja. Der Herr Oberst ist sein Vater. Und der junge Caplaun ist