Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.
»Halt, schauen Sie noch das Datum an…«
»16. V. 1923…«
Laduner schwieg eine Weile, dann sagte er:
»Dafür habe ich vom Chef den ersten Rüffel bekommen. Er fand, der Aufnahmestatus sei poetisch, nicht sachlich-wissenschaftlich. Sie haben die beiden Buchstaben zu Beginn des Absatzes gesehen? Ld.? Das war der Ernst Laduner, der damals 30 Jahre alt war, jung, sehr jung… Und damals machte der junge Laduner die Bekanntschaft des Pierre Pieterlen. Es war sein erstes Gutachten…«
Laduner zündete eine Zigarette an, dann hielt er das rote flache Zündholz zwischen Daumen und Zeigefinger und schwenkte es wie einen winzigen, farbigen Dirigentenstab.
»Pieterlen Pierre, damals 26 Jahre alt, angeklagt wegen Mordes, weil er sein Kind bei der Geburt erstickt hatte. Und die Fragen der Bezirksanwaltschaft lauteten (ich kann sie Ihnen aus dem Gedächtnis hersagen), sie lauteten in ihrem verzwickten Deutsch:
1. War die Geistestätigkeit des Angeklagten im Zeitpunkt der Begehung der Tat in dem Maße gestört, daß er die Fähigkeit der Selbstbestimmung oder die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Tat erforderliche Urteilskraft nicht besaß?
2. Für den Fall der Verneinung dieser Frage, war der Angeklagte bei Begehung der Tat vermindert zurechnungsfähig und in welchem Grade?
– Zwei schöne Fragen… Glauben Sie, daß ich einmal von zehn Uhr abends bis ein Uhr früh über diesen Fragen gehockt bin, um ganz genau zu verstehen, was die Herrschaften eigentlich meinten? So dumm war ich damals… So dumm, daß ich nach diesem Fall die Psychiatrie an den Nagel hängen wollte. Aber man entgeht scheinbar nicht einer Auseinandersetzung. Ich sollte den Pieterlen nachher wieder treffen…
Unzurechnungsfähig und in welchem Grade?…
Wie soll man so etwas wissen, Studer? Weiß ich, ob Sie Urteilskraft besitzen? Ich kann sehen, wie Sie arbeiten, wenn Sie ein Verbrechen aufdecken, ich kann mir vielleicht eine Meinung bilden, ob Sie logisch denken, wie Sie Fakten feststellen und aneinanderreihen… Aber Ihre Urteilskraft? Denken Sie, für die Herren Juristen muß man den Besitz oder den Nichtbesitz der Urteilskraft in Prozenten ausdrücken! ›Seine Urteilsfähigkeit betrug 25 Prozent oder 50 Prozent.‹ Genau, wie wenn man sagt, die Standard Oil stehen 20 Prozent oder 30 Prozent über oder unter pari… Die Welt ist komisch.«
Schweigen. Dann war Tellergeklapper aus der Küche zu hören, und der Chaschperli fragte laut, draußen im Gang, ob er dem Vatti gute Nacht sagen dürfe. Darauf antwortete Frau Laduners Stimme, er solle noch ein wenig warten. Der Arzt nahm ein zweites Blatt aus der Mappe, reichte es über den Tisch.
»Schauen Sie zuerst das Datum an…« Studer tat es.
»2. IX. 26. – Zweiter September Neunzehnhundertsechsundzwanzig.«
Und er las weiter:
»TW. Aufnahmestatus. Steht mit Vollbart und in Sträflingskleidung, die Mütze auf dem Rücken in der Hand haltend, steif da, kümmert sich aber um seine Effekten, interessiert sich speziell für seine Bleistifte, die wolle er nicht verlieren. Das Geld könne der Direktor von R. behalten, sagt er mit einem steifen Lächeln. Auf Befragen: Er habe sich über nichts zu beschweren, er habe allerdings einen Brief an seinen Vormund, Dr. L., geschrieben. Darüber möchte er sich nicht weiter auslassen. Gehemmt, steif, verweigert dem sich verabschiedenden Arzt von R. die Hand. Nach den Gründen gefragt: Nach seiner Auffassung sei das kein Arzt, das können auch Gefühlssachen sein.«
Studer legte das Blatt auf den Tisch. Er wartete. Laduner sagte und bewegte sich nicht, sein Gesicht war im Schatten:
»Es dreht sich alles um den 2. September. Merkwürdig. Am 2. September stirbt Pieterlens Kind, im nächsten Jahr wird Pieterlen am 2. September wegen Mordes zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Obwohl unser – das heißt mein Gutachten günstig war, nur weil er sich nach Ansicht des Bezirksanwaltes frech benommen hatte…
Gut. Ich habe versucht, dem Herrn Bezirksanwalt, der die Untersuchung führte, die Schlüsse, zu denen ich gekommen war, daß nämlich Pieterlen an einer latenten Geisteskrankheit laboriere, begreiflich zu machen. Wir haben tüchtige Staatsanwälte in der Schweiz, wir haben andere, bei denen ich, müßte ich sie einmal begutachten, ganz unvoreingenommen von moralischer Debilität sprechen würde. Leute, bei denen es klar auf der Hand liegt, daß sie sich mit Verbrechen nur deshalb beschäftigen, damit sie nicht selbst Verbrecher werden. Wir nennen das in unserer Fachsprache: abreagieren… Vielleicht kennen Sie auch derartige Typen. Nun, der Bezirksanwalt in jener Industriestadt gehörte zu dieser Sorte. Dick, mit gekräuselten Haaren auf einem spitz zulaufenden Schädel, die Haare eingefettet – ich rieche noch jetzt den Geruch von Brillantine – Sammler von Kupferstichen und erotisch tätiger als beruflich. Bei jedem Angeklagten, es mochte sich um einen Einbrecher, eine Ladendiebin, einen Taschendieb oder eine Hochstaplerin handeln, erkundigte er sich zuerst nach den Liebeserlebnissen der Vorgeführten. Dicke Lippen, immer feucht.
Wenn Sie sich über das Interesse gewundert hätten, das er den Leintuchgeheimnissen entgegenbrachte, so hätte er Ihnen geantwortet, er tue dies aus psychologischem Interesse. Von den Ergebnissen einer modernen Schule ist ja allerhand in die Laienwelt durchgesickert. Die Juristen besuchen jetzt auch psychiatrische Vorlesungen, was dabei herauskommt, kann man sich lebhaft vorstellen; zum Beispiel solch ein Bezirksanwalt. Er war schlecht auf den Pieterlen zu sprechen, das merkte ich gleich. Denn der Pieterlen hatte auf alle Alkovenfragen keine Antwort gegeben. Hingegen war der Herr Bezirksanwalt gut auf die Frau zu sprechen. Die hatte wahrscheinlich, verschüchtert wie sie war, weniger Widerstand geleistet und allerhand ausgepackt, was für den Herrn Bezirksanwalt interessanter war, als die Kaltschnauzigkeit des Mannes. Der Herr Bezirksanwalt sagte: ›Was wollen Sie, Herr Doktor, der Pieterlen ist ein frecher Kerl, den sollte man mürbe machen; wie er uns zuerst an der Nase herumgeführt hat! Natürlich sind Sie ihm auf den Leim gekrochen…‹ Was sollte ich sagen? Ich versuchte zu erklären, daß Pieterlen ein kranker Mensch sei, daß ich nach bestem Wissen und Gewissen nur sagen könne, daß eine Strafe, eine Zuchthausstrafe, in diesem Falle ungünstig wirken würde… Vergebene Liebesmüh.
Der Herr Bezirksanwalt lachte mich aus. Er werde es dem Pieterlen schon einsalzen, meinte er, und erzählte mir in einem Atemzug von einer besonders hübschen Kellnerin im Bahnhofbüffet zweiter Klasse und einer Sammlung legerer Gravüren vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts, die er um ein Spottgeld gekauft habe. Und dann sprach er von einer illustrierten Ausgabe der Memoiren des Marquis de Sade… Es paßte zu ihm… Ich will nicht verallgemeinern, es gibt hochanständige Leute auch unter den öffentlichen Anklägern, aber es gibt manchmal auch solche Bezirksanwälte… Was sagte mein alter Chef immer? ›Wollen Sie mich dafür verantwortlich machen, Laduner, daß es auf der Welt unvernünftig zugeht? Glauben Sie mir, auch das Verständnis entgegengesetzter Standpunkte vermag die Gegensätze nicht aufzuheben…‹ Er war klug, mein alter Chef…
Ich sagte Ihnen, es drehe sich alles um den 2. September. Drei Jahre später, auf den Tag, am zweiten September, wird Pieterlen verrückt aus der Strafanstalt in die Heil- und Pflegeanstalt jenes Kantons eingeliefert, in welchem er verurteilt worden war. Er hatte mir gesagt, noch vor der Verhandlung, er hoffe mit drei Jahren davonzukommen, und ich hoffte es auch. Mein Gutachten hatte auf Totschlag im Affekt gelautet… Und drei Jahre später… Ein anderer Arzt hat die Aufnahme gemacht. Aber ich spiele trotzdem noch mit, ich bin der Vormund geworden des Pierre Pieterlen, ja, ich war der Dr. L., dem er von R. geschrieben hatte…«
»Und heute ist auch der zweite September« sagte Studer.
Fünf und drei sind acht und ein Jahr Untersuchungshaft macht genau neun Jahre. Neun Jahre war er eingesperrt.«
Studer saß da, vorgeneigt, die Unterarme auf den Schenkeln. So konnte er Laduner von unten her ins Gesicht blicken, und er war erstaunt: die Maske war nämlich gefallen. Es saß auf dem Stuhle dort ein jugendlich aussehender Mann, mit einem weichen Mund, die Stimme tönte weder nach: ›Das Bataillon hört auf mein Kommando!‹ noch erinnerte sie an den Ton ›Liebes Kind.‹ Das Gesicht war weich, der Mund sanft geschwungen, die Stimme warm…
Und noch ausgeprägter war die Veränderung,