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Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten - Friedrich  Glauser


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nicht so weit gehen… Aber Bätziwasser ist nicht gesund, es kann einmal ein wunderbares Alkoholdelirium geben, und das hat es auch gegeben. Resultat? Der Mann ist hier, die Frau bekommt eine kleine Unterstützung von der Gemeinde, die Kinder sind verkostgeldet… Und der dritte Fall ist noch trauriger… Wir wollen ihn beiseite lassen, denn er würde nur die beiden ersten wiederholen. Kurz, im dritten Fall fünf Kinder. Die Gemeinde, der Staat, sorgen für sie. Zählen Sie zusammen, Studer. sieben Kinder im ersten und fünf im zweiten und drei im dritten Fall. Macht fünfzehn Kinder, dazu sechs Erwachsene, für die auch gesorgt werden muß…

      Und Pierre Pieterlen wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er vorsätzlich und mit Vorbedacht sein von seiner Frau lebend zur Welt gebrachtes Kind rechtswidrig getötet hat, indem er ihm unmittelbar nach der Geburt ein Handtuch auf das Gesicht legte, mit der Hand drückte und es mit den Händen würgte, so daß es erstickte…«

      Laduner strich sich mit der flachen Hand über die Haare, preßte die abstehende Strähne gegen den Hinterkopf, aber sie erwies sich als widersetzlich, richtete sich auf und glich wieder dem Kopfschmuck eines Reihers… »Ich weiß, ich weiß, Studer«, sagte er nach einer Welle, »das sind müßige Gedanken, wir werden die Justiz nicht ändern, wir werden die Menschen nicht ändern, aber vielleicht können wir doch die Verhältnisse anders gestalten. Gerade bei den schizoiden Charakteren, und ich habe Pieterlen zu dieser Gruppe gezählt, obwohl ich zugeben muß, daß die Bezeichnung eine Ausflucht ist, eine Denkbequemlichkeit – gerade bei den schizoiden Charakteren besteht die Möglichkeit, daß die Krankheit überhaupt nicht ausbricht… Imponderabilien…«

      Studer lächelte, dachte: ›Das heißt also Unwägbarkeiten…‹

      »… Spielen da eine große Rolle. Und unter Imponderabilien verstehe ich eigentlich das, was man sonst das Schicksal nennt. Wäre es dem Manne gut gegangen, hätte er sein Auskommen gehabt, so wäre es möglich gewesen, daß er zeit seines Lebens unauffällig geblieben wäre. Vielleicht wäre er pedantisch geworden, vielleicht ein Sonderling, der schließlich Marken gesammelt hätte oder Weltanschauungen – man kann das nicht so genau sagen. Auf alle Fälle steht fest, daß er geheiratet hat, oder sagen wir noch vorsichtiger, daß er eine Frau gesucht hat, um der Einsamkeit zu entfliehen. Seine Frau hat ja gesagt, daß er nur bei ihr aus sich herausgegangen sei… Die Einsamkeit, Studer! Die Einsamkeit!…«

      War es verwunderlich, daß Studer an seinen Besuch in der leeren Wohnung im ersten Stock dachte? Auch dort war die Einsamkeit zum Greifen gewesen, die Einsamkeit eines alten Mannes, den seine Kinder verlassen hatten…

      »Die Einsamkeit«, sagte Laduner zum drittenmal. »Sie ist auch da, wenn man Handlanger zu achtzig Rappen Stundenlohn ist, und sie ist genau so quälend, als wenn man besser gestellt ist… Pieterlen stand vor einem Gewissenskonflikt: Soll ich mit achtzig Rappen Stundenlohn ein Kind auf die Welt stellen? Die Leute in gesicherten Stellungen werden Ihnen erwidern: früher hätte er nur dreißig Rappen bekommen, und damals waren die Leute auch zufrieden. Gut und recht! Aber wir leben nicht damals, sondern heute. Es ist nicht unser Fehler, wenn die Ansprüche gewachsen sind… Und Pieterlen taugte nicht zum Handlanger mit achtzig Rappen und großer Familie. Vielleicht taugte er überhaupt nicht zum Familienvater. Wenn er dann meinte, er habe das Recht, sein Kind umzubringen, so ist diese Tat, wenn sie auch schwer verständlich ist und Entsetzen erregt, doch durch die Tatsachen bedingt: und die Tatsachen im gegebenen Falle waren eben der Charakter des Pieterlen, seine aus Büchern gewonnene, verschrobene Weltanschauung, seine Unfähigkeit, sich den Regeln einer Gesellschaft anzupassen und eine weniger tragische Lösung seines Konfliktes zu finden. Nur müssen Sie begreifen, Studer, daß mich das Schicksal dieses Mannes beschäftigt hat. Denn trotz dem schizoiden Charakter, den ich kraft meiner diagnostischen Weisheit feststellen mußte, war Pieterlen ein anständiger Mensch. Und als er verlangte, ich solle sein Vormund werden, habe ich angenommen. Vielleicht auch, weil ich damals einfach nicht begreifen konnte, warum eine Tat, deren Erklärung auf der Hand lag, die, wenn ich mich nicht schwer täuschte, so, wie ich sie mit meinen geringen Geisteskräften erklären konnte, auch den Herren Juristen einleuchten mußte – daß eine solche Tat (Sie erinnern sich, die Frau im Bett, die Lampe mit Papier umhüllt und bis zum Boden gezogen, das Handtuch) – daß eine solche Tat, begangen in einem Zeitabschnitt von ein paar Minuten, gesühnt werden soll mit einer Einsperrung in einer Zelle von zwei Meter auf drei, dauernd zehn Jahre… Ein gewisses Gefühl für Gleichgewicht wehrt sich in mir dagegen. Die Waagschale der Strafe sinkt herab, während die Waagschale, die die Tat trägt, in den Himmel schnellt… Strafe wofür? Daß Pieterlen ein von ihm gezeugtes Kind umgebracht hat, weil er vielleicht Angst vor der Verantwortung hatte? Weil er mehr an sich dachte und an sein Wohlergehen, als an seine Nachkommenschaft? – Und, Studer, gestatten Sie mir die Frage, wenn nun ein Süffel sein Kind so verprügelt, daß es stirbt, dann ist es nicht Mord, vorsätzlich und mit Vorbedacht, sondern Körperverletzung mit tödlichem Ausgang! Nicht wahr? Gefängnis bis zu zwei Jahren oder Korrektionsanstalt… Aber das Kind, das der Süffel totgeprügelt hat, das fühlte schon, das hatte Schmerzen, das hatte Angst, das litt… Wenn man so einen Menschen zehn Jahre oder lebenslänglich hinter Eisengitter sperren würde, ich hätte weiß Gott nichts dagegen, und auch der Einwand, den Sie wahrscheinlich machen werden, der Mann sei ein Opfer seines Charakters und seines Milieus, läßt mich kalt. Wir wollen nicht sentimental sein… Übrigens habe ich mich mit dem Falle Pieterlen abgefunden… Das dürfen Sie mir glauben… Abgefunden, bis heute abend, und da kommt alles wieder heraus…

      Den zweiten Aufnahmestatus haben Sie gelesen… Nun, Pieterlen kam hierher, nach zwei Monaten, weil er als unheilbar in seinen Heimatkanton abgeschoben werden mußte. Er kam und ich sah ihn am Abend auf der Visite. Ich werde die Szene nie vergessen. Er erkannte mich, aber er grüßte mich nicht. Ein gefrorenes Lächeln hatte er um die Lippen, er saß auf einer Bank, im langen Gang des B, damals war der Aufenthaltsraum nicht gebaut, er saß da, starrte vor sich hin, dann stand ich vor ihm, er erhob sich, legte die Hände auf den Rücken und machte mir eine zeremoniöse Verbeugung. Er sah schlecht aus. Am nächsten Tag untersuchte ich ihn. Die Lungen waren leicht angegriffen, nichts Erhebliches. Er sprach während drei Tagen mit niemandem ein Wort. Er saß in seiner Ecke, blätterte in Illustrierten, starrte auf den Boden, und wenn ich auf die Visite kam, stand er auf, um sich, Hände auf dem Rücken, zu verbeugen… Am dritten Tage bekam er Krach mit einem Wärter, er wurde unglaublich massiv. Ich glaube, es war wegen ein Paar Socken, die nicht paßten… Am vierten Tage, am Morgen (da sind die Leute besonders reizbar), zertrümmerte er ein Fenster. Ich ließ ihn aufs U versetzen, die Nacht hindurch war er so aufgeregt, daß er ins Bad mußte… Wir haben keine Zwangsjacke, das wissen Sie, was sollen wir mit einem Aufgeregten tun? Laues Wasser ist beruhigend. Zwei Pfleger hielten bei ihm Wache, und sie wußten, daß ich scharf auf blaue Flecken sah… Das ist immer das erste, auf das ich sehe, wenn ich am Morgen Visite mache und weiß, daß ein Aufgeregter die Nacht im Bad hat verbringen müssen…

      Ich muß noch einmal abschweifen, Studer, so leid es mir tut, aber haben Sie sich schon einmal folgende Überlegung gemacht: Wir, oder sagen wir richtiger: ich… kann die Seelenverfassung eines Mörders im Zeitpunkt der Tat in einem Gutachten darstellen, ich kann die Motive, die Regungen, die Mechanismen bloßlegen… Gut… Ich weiß, und habe es Ihnen auch gesagt, wir alle sind Mörder, in Träumen, in Gedanken, aber die Hemmung ist da… Wir gelangen nicht bis zur Tat… Wie aber, wenn wir die Schranke überschreiten und zum Mörder werden? Wirkt die Tat auf den Mörder so stark, daß sein Weltbild mit ihr zusammenbricht? Ich spreche jetzt nicht von Mord auf Befehl…«

      Wieder war die merkwürdige Betonung festzustellen, wie früher, als Laduner gelesen hatte: ›er hatte die Frau ganz in der Gewalt‹…, aber dann fuhr er rasch fort, so, als wolle er etwas verwischen:

      »… wie im Krieg, wie in der Revolution. Dort trägt der Führer, wer er sei, die Verantwortung… Ich rede vom einmaligen Mord, vom Mord aus Leidenschaft; glauben Sie nicht, daß nach der Tat der Mensch anders denkt, fühlt, handelt, sieht, hört, empfindet, als vor der Tat?… Abgesehen von der Reue, die eine viel seltenere Regung ist, als man gemeinhin meint… Sie liegt auf einer anderen Ebene, auf der religiösen, meinetwegen, und heutzutage sind die religiösen Menschen ebenso selten, wie die Menschen mit Verantwortlichkeitsgefühl. Was unter dem Namen Religion umgeht, ist bestenfalls, wie ich Ihnen in Wien schon sagte, etwas Ähnliches


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