Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.
Die gleiche, aus bunten Wollen gelismete Haube war über die Kaffeekanne gestülpt. Es war der gleiche Tisch, und auch die gleichen Leute saßen an ihm. Studer, am obern Ende des Tisches, hatte das Fenster im Rücken; zu seiner Linken saß Laduner und rechts von ihm die Frau des Arztes. Studer präsidierte also gewissermaßen, genau wie am gestrigen Morgen. Nur eben: die Stimmung war merklich anders…
Die Sonne fehlte.
Vor dem großen Fenster stand eine Wolkenwand, wie eine riesige Betonmauer. Graues Licht drang ins Zimmer, und Frau Laduners roter Schlafrock leuchtete nicht mehr.
»Wie hat Ihnen der Wachsaal in blauer Nachtbeleuchtung gefallen, Studer?« fragte Laduner. Er las den ›Bund‹ und blickte nicht auf.
Ausgezeichneter Nachrichtendienst! Sollte man parieren, indem man Herrn Dr. Laduner fragte, was er in der Sichlete-Nacht im Sous-sol bei der Heizung verloren hatte? Nein. Man ließ das besser sein und beschränkte sich auf die bescheidene Feststellung:
– Ja, so ein Wachsaal bringe einen auf mancherlei Gedanken. »Wie ich die eingesperrten Leute gesehen habe, Herr Doktor, habe ich denken müssen, die Anstalt hocke wie eine riesige Spinne inmitten des Landes und die Fäden ihres Netzes reichten bis in die hintersten Dörfer… Im Netz, wissen Sie, zappeln die Angehörigen der Patienten… Und sie spinnt richtige Schicksalsfäden, die Spinne – ich meine die Anstalt – oder Matto, wenn Sie lieber wollen…«
Laduner blickte von seiner Zeitung auf:
»Sie sind ein Dichter, Studer. Ein heimlicher Dichter. Und das ist vielleicht ungünstig für den Beruf, den Sie nun einmal ausüben müssen. Wären Sie kein Dichter gewesen, hätten Sie sich der Wirklichkeit angepaßt, dann wäre Ihnen die Geschichte mit dem Obersten Caplaun nicht passiert… Aber eben, Sie sind ein poetischer Wachtmeister…«
– Das habe er mängisch au deicht, sagte Studer trocken. Aber das Dichterische hänge doch mit der Einbildungskraft zusammen, mit der Phantasie, nid? Und die Phantasie sei doch nicht ganz zu verachten. Der Herr Doktor habe ihm auch geraten, sich in verschiedene Personen hineinzudenken, gewissermaßen in fremde Häute zu schlüpfen – er tue sein möglichstes. Und hin und wieder habe er damit Erfolg. Er habe da beispielsweise den Bundesratsattentäter Schmocker dazu bringen können, ein Geständnis abzulegen über den Diebstahl eines Schlüssels. Daran sei auch nur seine poetische Ader schuld. Er habe sich vorgestellt, ganz dunkel…
»Unbewußt!« unterbrach Dr. Laduner.
… unbewußt, wenn der Herr Doktor wolle, daß besagter Schmocker ein Feigling sei; er habe ihn ein wenig getätschelt, dann habe der Mann ausgepackt…
»Psychotherapie!« sagte Dr. Laduner und lachte. »Wachtmeister Studer als Psychotherapeut! Wir dürfen nicht tätscheln. Wir müssen streng sachlich vorgehen. Und wenn uns auch unsere Hilfskräfte, die Pfleger, manchmal auf die Nerven gehen, wir müssen ruhig bleiben. Wir lernen ehemalige Metzger, Karrer, Melker, Schuster, Schneider, Maurer, Gärtner, Kommis an, geben ihnen Kurse, trichtern ihnen den Unterschied ein zwischen schizophren und manisch-depressiv, und dann heften wir ihnen, wenn sie eine Prüfung gut bestanden haben, als Orden ein weißes Kreuz in rotem Felde an das Revers ihrer Kutte… Mehr können wir nicht tun… Und mit den Patienten?… Da wird es noch schwieriger… Wir sprechen, wir suchen zu korrigieren, wir schlagen uns mit kranken Seelen herum, wir überreden… Aber die Seele! Die ist schwierig zu fassen!… Sie sollten einmal das Aufatmen eines unserer Assistenten sehen, wenn ein Schizophrener sich entschließt, an einer Bronchitis oder an einer simplen Angina zu erkranken… Endlich kann man mit erprobten Mittelchen hinter die Sache, kann einmal ein wenig die Seele vergessen und sich um den Körper kümmern… Der Körper läßt sich viel einfacher behandeln: Aspirin, Gurgeln, Umschläge, Fieber messen! Aber die Seele! Manchmal versuchen wir ja auch, der Seele auf dem Umweg über den Körper beizukommen, wir versuchen Kuren…«
»An denen die Leute manchmal sterben…« unterbrach Studer. »Manchmal zwei bis drei in einer Nacht…«
Er blickte in seine leere Tasse und wartete, was nun kommen würde.
Die Zeitung raschelte, und dann kam richtig die Antwort, die an Schärfe und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: »Über therapeutische Maßnahmen bin ich keinem Laien Rechenschaft schuldig, sondern einzig und allein meinem ärztlichen Gewissen…«
Sehr schön und klar formuliert. Ärztliches Gewissen… Mira… Es schloß einem den Mund. Aber man tat ihn trotzdem auf und sagte sehr höflich:
»I hätt gärn no-n-es Taßli Gaffee, Frou Dokter… E nüechtere Mönsch het e kes Gfeel…«
Frau Laduner lachte, daß ihr die Tränen in die Augen traten, und auch ihr Mann schnaubte kurz durch die Nase. Dann reichte er Studer die Zeitung. Er solle lesen…ja… den Absatz da…
»Der langjährige verdiente Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Randlingen ist einem traurigen Unglücksfall zum Opfer gefallen. Man nimmt an, daß er bei einem nächtlichen Rundgang in einer der Heizungen Lärm gehört hat und dem Lärm nachgegangen ist. In der Finsternis wird er einen Fehltritt getan haben und ist hierauf drei Meter tief abgestürzt. Mit gebrochenem Genick wurde der Bedauernswerte entdeckt. Herr Direktor Ulrich Borstli, der mit eiserner Pflichterfüllung und nie ermüdendem Eifer seinem schweren Dienste…«
Studer ließ die Zeitung sinken und starrte ins Leere. Er sah die Wohnung unten im ersten Stock, das aufgeschlagene Buch auf dem Schreibtisch, die Kognakflasche und die Photographien der Kinder und Enkel, das große Bild der ersten Frau…
Die Einsamkeit…
Von der Einsamkeit wußten die Zeitungsleute nichts… Sie kannten nur die ›eiserne Pflichterfüllung‹…
In der Dunkelheit abgestürzt?… Aber die Lampe brannte ja in der Heizung! Die Lampe brannte!… – Ich hab' ja selber den Schalter gedreht, um zu löschen! dachte Studer…
Natürlich konnte Dr. Laduner nichts von der brennenden Lampe wissen, er wußte ja auch nichts von dem Totschläger auf dem Absatz…
Der Wachtmeister fragte ruhig:
»Was hat die Sektion eigentlich ergeben?«
»Nichts Besonderes«, antwortete Dr. Laduner. »Unglücksfall… Wie ich es der Presse mitgeteilt habe…«
»Dann«, sagte Studer, »wäre meine Mission eigentlich beendigt. Das Verschwinden des Direktors ist aufgeklärt und sonst… Der entwichene Patient Pieterlen wird auch ohne meine Hilfe wieder eingebracht werden…«
Bei den letzten Worten blickte Studer auf und dem Arzte fest in die Augen. Dr. Laduner hatte sein Maskenlächeln aufgesetzt.
»Warum brüskieren, Studer?« fragte er. Es sollte herzlich klingen, aber schwang da nicht ein anderer Ton mit? – »Wie mir gemeldet worden ist, haben Sie ja schon Vorzügliches geleistet: Sie haben aufklären können, auf welche Weise der Patient Pieterlen hat entweichen können, Sie haben den Direktor entdeckt… Aber es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß noch etliche Unklarheiten bestehen: Ich habe erfahren, daß dem verstorbenen Direktor am Mittwochmorgen eine größere Summe ausbezahlt worden ist. Wohin ist diese Summe verschwunden? Die Taschen des Toten waren leer, daran werden Sie sich erinnern… wo ist das Geld hingekommen?… Hat Pieterlen den Direktor getroffen? Hat er ihn hinuntergestoßen? – Wissen Sie, die von mir inspirierte Zeitungsnotiz ist eine reine Beruhigungsmaßnahme, eine Tarnung, um ein heute viel gebrauchtes Wort zu verwenden. Aber was ist in Wirklichkeit geschehen?… Dies herauszufinden ist Ihre Sache, obwohl Sie keinen Ruhm ernten werden… Offiziell wird der Direktor immer einem Unglücksfall zum Opfer gefallen sein. Aber ich meine, es kann nichts schaden, wenn wir die Wahrheit entdecken… Denn die Wahrheit – Sie wissen, Studer, was ich meine – rein vom wissenschaftlichen Standpunkte aus wäre es von Interesse…«
Am liebsten hätte Studer folgendes erwidert:
›Mein lieber Doktor, warum ist Ihre Rede nicht mehr geistreich und witzig? Sie verhaspeln sich ja! Sie sind unsicher! Was ist mit Ihnen los? Mann! Sie haben ja Angst!‹
Aber