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Gesammelte Werke. Isolde KurzЧитать онлайн книгу.

Gesammelte Werke - Isolde Kurz


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dass sei­ne be­vor­ste­hen­de An­kunft eine un­lieb­sa­me Über­ra­schung war, und das mach­te mich zu­nächst ein we­nig zu­rück­hal­tend. Dass ich, statt wie bis­her die wil­den Spie­le der Brü­der im som­mer­li­chen Gar­ten zu tei­len, jetzt Nach­mit­tage­lang sit­zen und sei­nen Schlaf hü­ten soll­te, stimm­te mich auch nicht fro­her. Aber als ich ei­nes Ta­ges eine Flie­ge in den of­fe­nen Mund des Kin­des krie­chen sah und alle Mühe hat­te, sie her­aus­zu­brin­gen, ohne ihn zu we­cken, da wur­de mir sei­ne gan­ze Hilf­lo­sig­keit klar; von Stun­de an lieb­te ich ihn zärt­lich und wid­me­te ihm auch ger­ne mei­ne Zeit.

      Es mag in je­nem Jah­re oder auch et­was frü­her ge­we­sen sein, dass ich zum ers­ten Mal mei­ne ei­ge­ne Be­kannt­schaft mach­te. Im großen Zim­mer in Obe­reß­lin­gen wa­ren zwi­schen den Fens­tern zwei lan­ge schma­le Wand­spie­gel ein­ge­las­sen, die auf ei­nem nied­ri­gen, rings um­lau­fen­den So­ckel ruh­ten. Ei­nes Ta­ges, ob es nun Wir­kung der Be­leuch­tung oder sonst ein Zu­fall war, blieb ich plötz­lich be­trof­fen mit­ten im Zim­mer ste­hen und starr­te in einen die­ser Spie­gel, der mir mein ei­ge­nes Bild ent­ge­gen­hielt. Ein lei­ser Schau­der über­lief mich, und ich dach­te einen nie­ge­dach­ten Ge­dan­ken: Also das bin ich! Zwi­schen Scheu und Wiß­be­gier trat ich ganz nahe hin­zu und mus­ter­te das schma­le, durch­schei­nen­de Kin­der­ge­sicht, das fast nur aus Au­gen be­stand, aus großen, er­staun­ten Au­gen, die mich rät­sel­haft und for­schend an­blick­ten, wie ich sie: Also das sind mei­ne Au­gen, mei­ne Stirn, mein Mund! Mit die­sem Ge­sicht, mit die­sen Glie­dern muss ich nun im­mer bei­sam­men sein und al­les mit ih­nen ge­mein­sam er­le­ben! – Die­ser Fra­ter Cor­pus, der »Bru­der Leib«, den ich da plötz­lich vor mir sah, schi­en mir aber kei­nes­wegs mein Ich zu sein, son­dern ein eben auf mich zu­ge­tre­te­ner Weg­ge­nos­se, mit dem ich jetzt wei­ter zu pil­gern hät­te. Und es kam mir vor, als wäre eine Zeit ge­we­sen, wo wir zwei uns noch gar nichts an­gin­gen. Bis­her war mir näm­lich mei­ne Kör­per­lich­keit nur be­wusst ge­wor­den, wenn ich mir eine Beu­le an die Stirn rann­te oder mit der großen Zehe ge­gen einen Stein stieß. Es war auch bloß ein kur­z­er Au­gen­blick der Be­frem­dung, in dem mich die­ses un­fass­ba­re Zwei­sein be­rühr­te. Die frü­he Kind­heit mag sol­chen halb me­ta­phy­si­schen Emp­fin­dun­gen zu­gäng­li­cher sein als die reif­ge­wor­de­ne Ju­gend, die im un­bän­di­gen Stolz ih­rer phy­si­schen Kraft und Herr­lich­keit viel­mehr den Bru­der Leib für den ei­gent­li­chen Men­schen an­sieht.

      In die glei­che Zeit fiel eine an­de­re er­schüt­tern­de­re Ent­de­ckung. Ich sah ei­nes Ta­ges durchs Fes­ter eine Schar schwarz­ge­klei­de­ter Män­ner vor­über­ge­hen und einen mit schwar­zem Tuch ver­hüll­ten Ge­gen­stand tra­gen, der mir wie ein großer Kof­fer er­schi­en. Der An­blick be­rühr­te mich pein­lich, und Chris­ti­ne, un­ser neu­es Kin­der­mäd­chen, das seit kur­z­em im Hau­se war, sag­te auf mei­ne Fra­ge, das sei eine Lei­che, mit der die Leu­te auf den Kirch­hof gin­gen. – Was ist eine Lei­che? frag­te ich mit Wi­der­wil­len, denn ich hat­te das Wort noch nie ge­hört, und es klang mir fremd und un­heim­lich. Sie ant­wor­te­te, das sei ein to­ter Mensch. Ich wun­der­te mich, dass auch Men­schen ster­ben soll­ten, denn ich hat­te ge­meint, das sei ein üb­ler Zu­fall, der nur Vö­gel, Hun­de, Kat­zen und sol­ches Ge­tier be­tref­fe. Chris­ti­ne woll­te mich auf an­de­re Ge­dan­ken brin­gen, aber nun ließ ich nicht mehr los, son­dern stürz­te zur Mut­ter: Ist es wahr, dass Men­schen ster­ben? – Wer hat dir das ge­sagt? – Die Chris­ti­ne. – Ich sah gleich, dass die Chris­ti­ne ein Ver­bot über­tre­ten hat­te. – Ar­mes Kind, sag­te mein Müt­ter­lein, du hät­test es noch lan­ge nicht er­fah­ren sol­len. Aber jetzt ist es her­aus. Ja, es ist wahr, die Men­schen ster­ben. – Aber doch nicht alle, Mama? – Ja, Kind, alle. – Sie hielt mich im Arme, wie um mich zu schüt­zen und zu trös­ten, ich war aber mit dem Ge­dan­ken noch lan­ge nicht so weit. – Aber doch du nicht, Mama? – Ich auch, Kind. Alle. – Aber der Papa doch nicht? – Auch der Papa. – Also viel­leicht auch ich? – Auch du, aber erst in lan­ger, lan­ger Zeit. Wir alle erst in lan­ger Zeit. – Und man kann gar nichts da­ge­gen tun? Es muss kom­men? – Gar nichts, Kind, es muss kom­men, aber jetzt noch lan­ge nicht.

      Das war mir durch­aus kein Trost, die lan­ge Zeit, von der sie sprach, war in die­sem Au­gen­blick schon vor­über. Ein schwar­zer, furcht­ba­rer Ab­grund ging auf, der al­les ver­schluck­te. Ja, wenn es doch kom­men muss­te, dann lie­ber gleich, als die­se lan­ge dunkle Er­war­tung. Ein plötz­lich ein­tre­ten­der Zu­fall schi­en mir lan­ge nicht so schau­er­lich wie die­ses un­aus­weich­li­che »Spä­ter«. Den­noch wirk­te die Mit­tei­lung nicht ei­gent­lich über­ra­schend. Es war mir, als hör­te ich da et­was, das ich zu­vor schon ge­wusst, aber wie­der ver­ges­sen hät­te. Ich dach­te fort­an oft über das Ster­ben nach, und die Uner­bitt­lich­keit des Vor­aus­be­stimm­ten er­füll­te mich mit im­mer neu­em Grau­sen: Also ein­mal muss es sein, je­der Tag bringt mich dem letz­ten Zie­le nä­her. Und wenn ich mich un­ter das Kleid der Mama ver­krö­che, es wür­de mir doch nichts nüt­zen. Und wenn ich so­gar zum Papa gin­ge, auch er könn­te mir nicht hel­fen. Nie­mand, nie­mand kann mir hel­fen, ganz al­lein ste­he ich dem Furcht­ba­ren ge­gen­über – dem Tod! Da­bei war mir zu­mu­te, als be­fän­de ich mich in ei­nem lan­gen, en­gen Gang, wo kein Ent­rin­nen, kei­ne Um­kehr mög­lich, und am Ende des Gan­ges, da war­te es auf mich, das Rät­sel­haf­te, Un­be­greif­li­che; ich aber müs­se im­mer wei­ter, so ger­ne ich ste­hen­blie­be, un­auf­halt­sam, Schritt für Schritt bis zum ge­fürch­te­ten Aus­gang. Na­tür­lich wur­de trotz dem un­heim­li­chen »Spä­ter« fort­ge­tollt, als wäre al­les wie zu­vor, und nie­mand er­fuhr, was in dem klei­nen Seel­chen vor­ging. Aber mit­ten im Spie­len schlug es zu­wei­len her­ein: Trotz al­le­dem – es wird doch ein­mal ein Tag kom­men, wo ich kalt und starr da­lie­ge, wo ich sel­ber eine Lei­che bin. Das Wort be­hielt mir auf lan­ge hin­aus et­was un­säg­lich Wi­d­ri­ges und Ab­scheu­li­ches, es haf­te­te ihm schon ein Ge­ruch wie von Ver­we­sung an.

      Auch das ge­hört für mich zu den Rät­seln der Kin­der­see­le, dass mir die Ent­de­ckung des To­des als des all­ge­mei­nen Schick­sals so neu und über­wäl­ti­gend war, wäh­rend ich doch ganz frü­he schon das man­nig­fachs­te Le­se­fut­ter, und ge­wiss nicht im­mer auf das dunkle Ge­heim­nis hin ge­sich­tet, in die Hän­de be­kam. So las ich seit lan­ge in ei­nem Ban­de Pfen­nig­ma­ga­zin, der in der Kin­der­stu­be lag, Ge­schich­ten und Ab­hand­lun­gen über alle mög­li­chen Din­ge wahl­los durch­ein­an­der; die Tat­sa­che des Ster­ben­müs­sens hat­te ich schlech­ter­dings über­se­hen. Wahr­schein­lich ist der kind­li­che Geist nicht im­stan­de, die Er­schei­nun­gen zu ver­knüp­fen und zu ver­all­ge­mei­nern. Es gibt ja auch Ne­ger­stäm­me, die je­den To­des­fall im­mer wie­der als dä­mo­ni­schen Ein­zel­vor­gang be­trach­ten, auf den sie mit Teu­fels­aus­trei­bung ant­wor­ten, da­mit er sich ins­künf­ti­ge nicht mehr wie­der­ho­le.

      Im Ler­nen konn­te un­ser gu­tes Müt­ter­lein, das sel­ber einen nie zu stil­len­den Wis­sen­strieb be­saß, uns zwei Äl­tes­te nicht schnell ge­nug vor­wärts brin­gen. Ein­zig für das Rech­nen, das ihr sel­ber nicht all­zu ge­läu­fig war, wur­de ein jun­ger Hilfs­leh­rer aus Ess­lin­gen an­ge­stellt, ein bäu­ri­scher Mensch, der den un­acht­sa­men Al­fred et­was derb mit dem schwe­ren Ta­schen­mes­ser auf die Fin­ger­knö­chel klopf­te und sich so­gar ein­mal ge­gen Ed­gars jun­ge Ma­je­stät ver­ging, so­dass Mama ihn ent­rüs­tet wie­der entließ. Da­von hat­te ich den Scha­den, weil ich ge­ra­de im Bruch­rech­nen ste­hen­blieb, das die Brü­der spä­ter in der Schu­le fort­set­zen


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