Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
ein Fluidum umgab. »Danke. Hat es bereits reagiert?«
»Nein«, sagte Johanna. Sie trug das rötlich-blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine modische weiße Bluse, Jeans und einfache Stoffschuhe verliehen ihr das Aussehen einer Frau Anfang vierzig, die vor Kraft nur so sprühte. »Doch es kann nicht lange dauern. Das Aurafeuer ist erloschen, das Sigil nun reine Energie. In wenigen Minuten wird es sich wieder manifestieren … irgendwo.«
In irgendwem. Kevin nickte. Niemand wusste, auf welcher Grundlage sich die Sigilmagie einen Nachfolger wählte. Doch in ihm würde das Erbe der Macht lebendig werden. Ein neuer Magier würde zum Teil der Gemeinschaft werden, sein altes Leben als Nimag – Nichtmagier – hinter sich lassen.
Vor ihnen stand das Wertvollste, was die Lichtkämpfer besaßen. Ein fester Quader aus schwarzem Onyx. Ihn vor dem Zugriff der Schattenkämpfer zu bewahren, war die wichtigste Aufgabe – gleich nach dem Schutz des Walls. Seit mittlerweile einhundert Jahren versuchten die feindlichen Kämpfer, den Wall zu Fall zu bringen, damit sie wieder über ihre gesamte Magie gebieten konnten. Die Barriere hatte die Erinnerungen der Menschen an das Übernatürliche getilgt und verbarg Magie vor den Augen der Nimags. Doch die dafür notwendige Essenz zog sie aus allen magischen Geschöpfen ab, was das Magiepotenzial aller Magier abwertete.
Der Onyxquader schien mit dem Wall in Verbindung zu stehen. Der Rat wusste um dessen Geheimnis, teilte es jedoch mit niemandem. Normalerweise zerriss es Kevin vor Neugierde, wenn er dem Artefakt gegenüberstand. Nicht aber heute. Er spürte lediglich Trauer, die sich mit dem Schmerz über den Verlust eines Freundes vermengte.
Jemand keuchte.
Max stürmte herein. Er grüßte Johanna mit einem »Hi« und warf Kevins Turnschuhe vor dessen Füße. »Hast du vergessen. Ist vielleicht kalt hier unten. Alles klar?« Er hatte sein Haar notdürftig gebändigt und schenkte ihm einen liebevollen Blick. In diesem Augenblick hätte Kevin ihn gerne in die Arme genommen. Aber nicht hier. Nicht jetzt.
»Alles klar«, gab er daher nur zurück.
Ein Schluchzen erklang. Kurz darauf betrat Clara die Krypta. Sie wischte die Tränen beiseite und reckte das Kinn empor. Ihr langes, seidig-schwarzes Haar, die glatten Gesichtszüge und die tiefbraune Haut verliehen ihr das Aussehen einer nubischen Prinzessin. Sie umarmten sich.
»Dann ist euer Team fast komplett«, stellte Johanna fest. »Chris ist in einem Gebiet ohne Portal unterwegs und Jen wird ebenfalls nicht rechtzeitig hier sein. Ich habe einen Portalmagier nach London geschickt, er wird nach ihr sehen. Die Ordnungsmagier werden sie außerdem befragen.«
»Was ist mit Chloe?«, fragte Kevin.
»Ihr Einsatz dauert noch an. In einigen Tagen kehrt sie zu euch zurück.«
Er nickte dankbar. Jen, Mark, Clara, Chloe, sein Zwillingsbruder Chris und er bildeten ein Team. Sie bestritten gemeinsam ihre Abenteuer, saßen bis tief in die Nacht plaudernd zusammen und waren durch Magie miteinander verbunden. Marks Tod hinterließ bei ihnen allen eine Leere. Innerlich betete er darum, dass Jen nichts geschah. Fahrig griff er an seine Brust, vor der der Kontaktstein hing.
»Ich habe es schon versucht«, sagte Clara. »Kein Kontakt. Wo sie auch ist, schwarze Magie umhüllt sie wie ein Dämpfungsfeld. Da gibt es kein Durchkommen.«
Bevor er etwas erwidern konnte, erwachte der Onyxquader zum Leben. Die dunkle Oberfläche wurde milchig weiß, bildete Schlieren. Konturen entstanden, eine schattenhafte Silhouette.
Johanna von Orléans runzelte die Stirn. »Da stimmt etwas nicht.«
Bisher war Kevin erst einmal dabei gewesen, als die Macht sich einen Erben gesucht hatte. Klare Bilder hatten sich damals manifestiert; ein Gesicht, ein Ort, exakte Informationen.
Sie warteten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit entstand ein schwarzer Fleck in der Form eines Landes. »England«, entfuhr es Clara. »Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Erbe im gleichen Land erwählt wird, in dem der Magier zuvor starb?«
»Eins zu vierhunderttausend«, antwortete Johanna. »Und es ist nicht nur das gleiche Land. Es ist London, die gleiche Stadt.« Die Rätin war meist mit einem Lächeln im Gesicht anzutreffen, doch nun wirkte sie besorgt.
Sie hat Angst, begriff Kevin. »Was ist los?«
Die Schlieren wirbelten weiter.
Max, der bisher geschwiegen hatte, sagte: »London ist groß. Geht es nicht ein wenig genauer?«
Johanna hob die Hand, bedeutete ihm zu schweigen. Mit fester Stimme sprach sie Worte der Macht, wob einen Zauber. Gleichzeitig hinterließen ihre Finger eine Feuerspur in der Luft. Über die Oberfläche des Onyxquaders fuhr ein Wabern. In der Mitte bildete sich ein Punkt, der schnell größer wurde. Es war, als schaue man auf einen Fernsehbildschirm, der beständig wuchs.
Da war ein Mann, Mitte zwanzig. Er trug einen Dreitagebart, besaß ein markantes Gesicht, kurzes dunkles Haar. Er war attraktiv und, wie Kevin bemerkte, sich dessen bewusst. Nur Markenklamotten, offenes Hemd, edle Uhr. Er erkannte diese Art Mensch sofort, war vor Max einmal zu oft auf sie hereingefallen. Der Unbekannte steuerte zusammen mit einem Freund eine Disco im Londoner Stadtteil Soho an. Das Wissen um die lokalen Koordinaten war plötzlich in Kevins Geist.
Johanna taumelte, ging in die Knie. Das Bild schrumpfte.
»Da, am Rand.« Clara deutete auf den äußren Bereich des Onyxquaders.
Schwarze Schlieren bildeten sich. Doch nicht auf dem Quader, nein. Sie waren Teil der Szene.
»Dunkle Magie manifestiert sich an diesem Ort«, kam es von Johanna. Die Rätin wirkte ausgebrannt. »Nichts ist so, wie es sein sollte.« Ihre Hand ruhte auf der Steinwand.
»Ich schicke sofort ein Team.« Kevin griff nach seinem Kontaktstein. »Wenn sie das Portal in der Innenstadt nehmen …«
»Nein«, kam es von Johanna, die Stimme klar und schneidend. »Jen ist näher dran. Sie wird ihn suchen und ins Castillo bringen. Niemand sonst.«
Max keuchte. »Aber … sie hat gerade ihren Partner verloren.«
»Dann wird es eine Ehre für sie sein, dessen erweckten Erben in Sicherheit zu geleiten.«
Kevin starrte die Rätin verblüfft an. Was ist los mit ihr?
Die Neugier vertrieb die Trauer zumindest teilweise. Sobald Jen wieder hier war, würde er alles erfahren. Bis dahin musste er sich in Geduld üben.
»Gehen wir nach oben?«, fragte Clara.
Kevin nickte. Die Freundin auf der einen und Max auf der anderen Seite verließ er die Krypta.
Johanna von Orléans blieb zurück. Gedankenverloren betrachtete die Rätin den Onyxquader.
4. London calling
Seine Hände prickelten, der Geruch von Deo und Parfüm lag in der Luft. Verschwitzte Körper bewegten sich im Rhythmus der Musik auf der Tanzfläche. Es wurde geknutscht, Hände wanderten in tiefer gelegene Körperregionen. Lächelnd griff er nach dem Wodka Red Bull.
»Alexander Kent«, sagte Zac. »Wenn deine Mutter das dreckige Grinsen auf diesem hübschen Gesicht sehen könnte, würde sie dich von oben bis unten mit Seife abschrubben.«
Er lachte. »Wie gut, dass sie nicht hier ist.«
Sie stießen an.
Alex hatte mittlerweile realisiert, dass er sich die grüne Erscheinung nur eingebildet hatte. Nach seinem Erwachen war ihm plötzlich heiß geworden, dann eiskalt. Er hätte schwören können, dass seine Hand brannte, in echtem Feuer. Doch es gab keinen Schmerz. Er schleppte sich zurück nach Hause, müde und ausgepowert. Seine Mum stellte keine Fragen, warum auch? Sie kannte derartige Momente zu gut, sowohl von ihm als auch von Alfie. Sein sechzehnjähriger Bruder war dabei, in dem Sumpf zu versacken, der sich Angell Town nannte. Bei dem Gedanken wurde ihm übel. Er vertrieb ihn mit einem Kopfschütteln.