Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
Hier lag ihr Ziel.
Aus den Augenwinkeln glaubte sie, einen Schatten vorbeihuschen zu sehen. Doch bei genauerem Hinsehen war da nichts. »Es wird wirklich Zeit fürs Bett.« Sie erkannte bereits von Weitem, dass die Tür offen stand. »Komisch.«
Im Nähergehen zog Johanna den Essenzstab.
Etwas stimmte nicht. Ihr Instinkt, durch Jahrhunderte des Kampfes geschärft, sprang an. Gleichzeitig versuchte ihr logisches Denken zu beschwichtigen. Sie befand sich im Castillo Maravilla. Niemand konnte hier eindringen, das Kristallnetz bildete eine nicht zu überwindende Sphäre. Und der Verräter würde sie kaum so offen angreifen. Oder doch?
Johanna erreichte den Raum.
Ein weiterer Schritt und sie stand inmitten von Chaos. Bilder waren von den Wänden gerissen worden, das Bett war zerfetzt. Möbel lagen in Trümmerstücken oder als Aschehäufchen am Boden.
Der Lichtkämpfer lag im Zentrum des Raumes, mitten in einer Blutlache.
Zuerst begriff Johanna gar nichts.
Wenn er gestorben wäre, hätte es doch längst ein Aurafeuer gegeben. Jeder hätte seinen Tod gespürt, ein neuer Erbe wäre erwacht.
»Er lebt noch«, flüsterte sie.
Sie rannte zu dem am Boden liegenden Körper. Gleichzeitig griff sie nach ihrem Kontaktstein und sandte eine Schockwelle zu den anderen Ratsmitgliedern, verwoben mit dem Bild, das sie sah.
Neben dem Lichtkämpfer ging sie in die Knie.
Kein Puls war zu spüren, keine Atmung. Er war tot. »Aber wie ist das möglich?«
Auf der gesamten Welt gab es nur eine Handvoll Artefakte, von denen sie wusste, dass sie einen endgültigen Sigiltod einleiten konnten. Ein eisiger Schauer rann ihr Rückgrat hinab, als sie begriff. Eine solche Waffe war hier im Castillo eingelagert worden. In den verbotenen Katakomben. Jemand musste sie entfernt und eingesetzt haben.
Irgendwo auf der Welt war im gleichen Augenblick ein Schattenkrieger gestorben, damit das Gleichgewicht erhalten blieb. Doch das war kein Trost.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Sanft strich sie dem Toten über die Wange.
Hinter ihr erklangen Schritte. Leonardo betrat den Raum, dicht gefolgt von Tomoe.
»Nein«, kam es von der japanischen Unsterblichen.
»Er ist tot«, sagte Johanna.
Leonardo ging neben ihr in die Knie. »Aber wie kann das sein? Niemand hat etwas gespürt.« Sie sah in seinen Augen, dass er begriff. »Verdammt!«
»Der Verräter schlägt also los«, konstatierte Tomoe. »Ihr hattet recht.«
Johanna erhob sich.
In ihrem Inneren brodelte Wut.
»Er muss etwas herausgefunden haben«, sagte Leonardo. »Deshalb wurde er umgebracht.«
»Vielleicht.« Tomoe besah sich den Toten genau. »Oder es ist die erste Attacke einer ganzen Reihe.«
Stille breitete sich aus.
»Du weißt, was zu tun ist«, sagte Leonardo nach einer Weile.
Johanna nickte.
Sie berührte den Kontaktstein und leitete Zauber ein, die für einen solchen Fall hinterlegt worden waren. Das Castillo wurde hermetisch abgeriegelt, die Ordnungsmagier wurden aus den Betten geholt, Sicherheitsregeln griffen. Lichtkämpfer, die außerhalb unterwegs waren, sich im Einsatz befanden, mussten sich in sichere Häuser zurückziehen. Das Portalnetz wurde versiegelt, die Eingänge waren nicht länger zugänglich.
»Wer immer du auch bist, ich schwöre dir, ich finde dich«, flüsterte Johanna.
»Was ist denn hier los?«, erklang eine Stimme.
Leonardo, Tomoe und sie sahen gleichzeitig auf.
Im Türrahmen stand Clara Ashwell. Ihr Blick fiel auf den Toten. »Gryff?!«
Ihre Augen wurden groß wie Murmeln. Sie beugte sich zitternd zur Seite und erbrach sich, während Tränen über ihre Wangen rannen. Sie rannte zum Leichnam des ersten Ordnungsmagiers, brach schluchzend über ihm zusammen. »Nein! Oh, bitte, bitte, nein!«
Tomoe schenkte Clara einen Blick voller Mitleid. Leonardo schaute betreten zu Boden.
Johanna stand da, mit der rechten Hand am Kontaktstein, und betrachtete die Szene mit tiefer Traurigkeit. Einmal mehr hatten die Schattenkrieger gezeigt, wozu sie in der Lage waren. Wieder zerschmetterten sie die Hoffnung eines Menschen auf sein persönliches Glück.
Ich weiß, wie du dich fühlst, Clara, dachte Johanna. Ich finde den, der für das alles verantwortlich ist.
Doch abgesehen davon konnte sie nicht viel tun. Nur dabei zusehen, wie eine der Ihren den Tod eines Mannes betrauerte, den sie liebte. Tief in ihrem Inneren spürte Johanna, dass sie heute an einem Scheideweg standen.
Etwas begann.
Das Böse holte zum Schlag aus. Und wenn sie all ihre Erfahrungen aus diesem ewigen Krieg etwas gelehrt hatten, dann, dass es niemals bei nur einem Opfer blieb.
Ende des 2. Teils
III
Wechselbalg
Prolog
Der Wechselbalg konnte den Schock spüren, der durch das Castillo Maravilla wogte, wie eine alles verzehrende Welle aus purem Schmerz. Gryff Hunter weilte nicht mehr unter ihnen. Er hatte den obersten Ordnungsmagier mit der Sigilklinge getötet, die er den verbotenen Katakomben entrissen hatte. Ein wohliger Schauer rann seinen Rücken hinab, als er an den verblüfften Gesichtsausdruck des Mannes zurückdachte. Niemals hatte jener damit rechnen können, von jemandem verraten zu werden, der ihm so nahestand.
Die Klinge hatte das Sigil zerstört. Kein Aurafeuer erschien daraufhin, kein Erbe entstand. Dass dafür auch ein Schattenkrieger sterben musste – das ewige Gleichgewicht wurde stets erhalten –, war bedeutungslos.
»Das ist erst der Anfang.«
Der Wechselbalg stand alleine an der Balustrade der umlaufenden Galerie im höchsten Stockwerk des Castillos. Von hier oben betrachtete er seine Feinde. Johanna von Orléans, Leonardo da Vinci, all die anderen Unsterblichen und Lichtkämpfer. Wochenlang hatte er in ihrer Mitte zugebracht, sie beobachtet, studiert, diesen Tag vorbereitet.
Die Schattenfrau stand bereit.
Sobald er das Ziel erreicht hatte, würde sie handeln.
Eine Gruppe Ordnungsmagier kam herbeigeeilt. Sie erkannten ihn, nickten professionell-freundlich und stapften weiter. Sie durchkämmten das Castillo, suchten nach Spuren, die auf den Mörder von Gryff Hunter hindeuteten. Noch immer hatten sie nicht begriffen, dass er ein Wechselbalg war, gingen von einem Verrat der Ihren aus. Der Grundstein für eine Hexenjagd der schlimmsten Sorte war gelegt. Misstrauen, Hass, sinnlose Verdächtigungen würden die Streiter für den Wall entzweien.
»Das wird ein Spaß.«
Er fühlte noch immer den Nachhall des eingeleiteten Zaubers, den Johanna ausgelöst hatte. Das Castillo war hermetisch abgeriegelt, lag unter einem Siegel. Niemand kam hinein, keiner heraus. Die Portale waren verschlossen worden, alle Lichtkämpfer, die außerhalb eine Mission bestritten, mussten sofort sichere Häuser aufsuchen. Einsätze wurden abgebrochen. Damit war niemand mehr da, der dem dunklen Rat entgegen trat, ihn von Manipulation, Lug und Trug abhielt. Die Schattenkrieger würden, sobald sie es bemerkten, gnadenlos zuschlagen. Durchaus möglich, dass sie es ihnen bereits mitgeteilt hatte.
»Der Graf von Saint Germain wird glücklich über meine Tat sein.« Er lächelte. Der Plan der Schattenfrau würde sie beide zur Legende