Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
keinen Schaden an. Zitternd ließ er das Zeichen für eine Transformation folgen. Auch hier nichts. Die Begrenzung des Gefängnisses war mit einem starken Zauber belegt oder der Raum war in eine Dimensionsfalte ausgelagert. In beiden Fällen konnte er kaum etwas tun. Nicht in seinem Zustand. Damit war er am Ende angelangt.
Sein Körper versagte den Gehorsam.
Die Knie zitterten, die Beine brachen unter ihm fort. Wie ein Kartoffelsack schlug er auf, landete auf seinen Händen, brach seitlich weg. Schmerzwellen rasten durch seinen Körper. Eine Steigerung war also möglich. Wieder trieben seine Gedanken ab, zogen sich zurück in das Nichts zwischen Wachsein und Schlafen, Leben und Tod. Die Behaglichkeit umfing ihn wie eine wohlige Decke. Er wollte nicht zurück, nicht mehr kämpfen, nicht länger in seinem geschundenen Körper existieren. Gleichzeitig sorgte er sich um seine Freunde, wollte nicht, dass die Kreatur den Sieg davontrug. Die Schattenfrau hatte all das in die Wege geleitet, das schloss er zumindest aus jenen Gesprächen zwischen ihr und dem Wechselbalg, die er mit angehört hatte. Der Gedanke an die gnadenlose Feindin formte eine letzte Idee. Möglicherweise gab es einen Ausweg. Er robbte in eine aufrechte Sitzposition. Kurz überwältigte ihn der Schwindel, doch er fiel nicht. Die Umgebung klärte sich.
Er begann mit den Vorbereitungen.
5. Der vergessene Ort
Dunkelheit, von Grau durchzogen. Alex konnte Jens Finger in seiner Hand spüren. Nie zuvor war er so froh über die Nähe zu einer anderen Person gewesen. Haut, Wärme, pulsierendes Leben. Der letzte Anker, der mit einem äußeren Reiz verbunden war. Ringsum existierte sonst nur Gestein. Substanzlos zwar, doch sperrte es Töne, Gerüche und jedes Gefühl aus. Er versuchte, die Umgebung zu vergessen, richtete seine Gedanken auf etwas anderes.
Was Alfie wohl gerade tat?
Vermutlich bringt er sich in irgendwelche Schwierigkeiten, gab er sich selbst die Antwort.
Alex’ Brust wurde eng. Niemand wusste, wo sie waren. Falls der Zauber versagte, verschmolzen sie mit dem Stein. Auf ewig begraben an einem fremden Ort, konnte keiner sie finden. Der Gedanke engte seinen Brustkorb weiter ein. Was würden seine Mum und Alfie ohne ihn tun?
Jens Hand packte fester zu. Beruhige dich, interpretierte er die Geste.
Er drückte zurück. Okay.
Sie schritten voran. Einzig die Fußsohlen berührten massiven Untergrund. Das Gestein war substanzlos, rief er sich in Erinnerung, nicht Jen und er. Alles andere blieb materiell vorhanden. Glücklicherweise. Was wohl geschah, wenn der Boden an Masse verlor? Fielen sie auf ewig weiter, gehalten vom Schwerkraftfeld des Erdmittelpunktes? Einmal mehr wurde Alex bewusst, dass er noch viel zu wenig wusste. Über Magie, deren Wirkung, ihre Möglichkeiten und Grenzen. Er wollte unbedingt wieder Vorlesungen besuchen, sein Wissen vertiefen. Die echte Menschheitsgeschichte, Kampfmagie und all die anderen Fachbereiche waren ein einziges großes Mysterium.
Jen hielt inne.
Beinahe hätte er ihre Hand verloren, schnell griff er fester zu. Was war los? Seine Füße ertasteten ein Hindernis. Schließlich begriff er. Eine Treppe führte weiter nach unten, eine nach oben. Sie mussten nicht groß überlegen, wandten sich synchron dem Weg in die Höhe zu. Stufenweise stiegen sie hinauf. Ein Sturz konnte fatale Folgen haben, das war Alex klar. In seinem Inneren spürte er das vertraute Wabern des bernsteinfarbenen Sigils. Die gebändigte Kraft der puren Magie hatte etwas Beruhigendes. Wie es wohl bei Jen aussah? Wie lange konnte sie den Zauber noch aufrecht erhalten? Sein Puls beschleunigte sich erneut.
Das Grau verschwand.
Keuchend taumelte er voran. Jen atmete neben ihm schwer, versuchte, sich zu beruhigen. »Ich hasse diesen Materietransformationsscheiß.«
Nur langsam kam er wieder zu Atem. »Ach, es hat immerhin funktioniert.«
»Ja, stimmt. Das erste Mal. In der Vorlesung war ich miserabel. Ständig sind Pflanzen mit dem Stein verschmolzen.«
Alex riss die Augen auf. »Gut, dass du mir das nicht vorher gesagt hast.« Er sah sich um. »Was ist das hier?«
Vor ihnen lag ein kurzer Gang, der scheinbar in eine Halle mündete. In der Luft hing ein muffiger Geruch, als wäre hier schon verdammt lange nicht gelüftet worden.
Beide zogen ihren Essenzstab. Seite an Seite betraten sie die Halle.
»Oh Gott«, hauchte er.
Auf den ersten Blick ähnelte die Umgebung der Eingangshalle des Castillos. Hoch über ihnen bestand die gewölbte Decke aus Himmelsglas, wie er es auch in Nostradamus' Domizil gesehen hatte. Zwei umlaufende Galerien säumten die höheren Stockwerke. An der Wand gegenüber der Eingangstür hing ein gewaltiger Wandteppich, auf den jemand ein Siegel gestickt hatte. Verblichenes Rot auf gräulichem Weiß. Kordeln zierten die Seiten. Er hatte zweifellos einmal schön ausgesehen, ein Meisterwerk der Handwerkskunst, doch die Risse, verschlissenen Stellen und herabhängenden Fetzen zerstörten diese Wirkung.
Alex' Hauptaugenmerk war jedoch auf die Skelette gerichtet, die überall in der Halle lagen. Es mussten etwa zwanzig Stück sein. »Was ist hier passiert?«
Jens Gesicht wirkte wie in Stein gemeißelt. Langsam ging sie neben einem der Toten in die Hocke. Den Essenzstab ausgestreckt murmelte sie »Agnosco« und malte ein Wort der Macht in die Luft. Das Magenta ihrer Spur umhüllte das Skelett. »Nichts. Der Indikatorzauber kann keine Magie feststellen. Entweder sein Tod liegt zu lange zurück oder er starb auf nichtmagische Art.«
»Was ist mit der Kleidung?«, fragte Alex. Er ging neben ihr in die Hocke. »Der Stoff ist fast aufgelöst, aber das könnte mal eine Kutte gewesen sein.«
»Ein Teil der Magier trug damals tatsächlich solche Gewänder«, erwiderte sie. »Auf der Vorderseite war das Signum des jeweiligen Fachbereichs aufgestickt. Erst später ging man zu Alltagskleidung über.«
»Wäre auch schwer erklärbar gewesen, wenn ständig irgendwo Mönche aufgetaucht wären. Nachdem der Wall existierte, meine ich.« Er stand auf. »Das heißt wohl, hier …« Sein Blick traf erneut den Wandteppich.
»Alex?«
Er vernahm Jens Stimme nur noch aus weiter Ferne. Wissen offenbarte sich, ererbt von Mark, seinem Vorgänger. Das Siegel auf dem Teppich war ihm vertraut gewesen, ebenso die Geschichte dahinter. »Das erste Castillo«, flüsterte er. »Auch bekannt als: das verlorene Castillo.«
Jen sah ihn kurz an. »Das Wissen kommt durch? Natürlich, Mark war ganz versessen auf die Menschheitsgeschichte. Die vor dem Wall, aber auch die spätere.« Sie schnippte mit den Fingern. »Das sagt mir auch etwas.«
Alex war beruhigt, denn abgesehen von der Zuordnung des Siegels gab es nichts, was er noch beisteuern konnte. Schon jetzt verschwamm das Wissen, zerfaserte, verschwand. »Okay, nur raus damit.«
»Damals gab es über die ganze Welt verteilt Castillos, Châteaux, Burgen … Du musst bedenken, dass jeder Fürst, Kaiser oder König Magier als Berater hatte«, erklärte sie. »Als die Errichtung des Walls begann, kam es überall zu Großangriffen. Sowohl von Schattenkriegern, aber ebenso von den Mächtigen jener Zeit, die Artefakte sichern wollten. Im Zentrum stand unser heutiges Hauptquartier, denn dort wurde mit der Hilfe des Onyxquaders der Wall erschaffen. An anderen Orten war die Zahl der Angreifer nicht so hoch, dafür gab es auch weniger Verteidiger. Das erste Castillo stand kurz vor der Aufgabe, weil es baufällig war. Da die Katakomben aber noch nicht vollständig geleert waren, blieb eine kleine Mannschaft zurück.«
»Oh Mann.« Alex betrachtete die Überreste der Lichtkämpfer. »Sie wurden natürlich auch angegriffen.«
»Genau. Damals gingen wir ja davon aus, dass die Gegner des Walls eine Minderheit darstellten, immerhin gehörten sechs Schattenkrieger zu den Erschaffern. Niemand rechnete mit einem solchen Angriff und einem Verräter.«
»Aber wieso liegen sie alle noch hier? Weshalb heißt es: das verlorene Castillo?«
»Es verschwand.« Jen machte eine ausladende Armbewegung, die das Gebäude einschloss.