Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
und gingen brav ihrer Arbeit nach. Hauptsache die eigene kleine Welt blieb erhalten. Da schaute man auch schon mal weg, wenn etwas Schlimmes geschah. Es betraf ja nur die anderen.
»Die grauen Herren regieren die Welt«, murmelte sie in Erinnerung an ein altes Kinderbuch.
»Was?«
»Nichts.« Sie winkte ab. »Wir können Eliot keinesfalls die Ermittlungen überlassen. Momentan sind nur noch du, Max und ich übrig.«
»Stimmt.« Kevin verstaute seinen Essenzstab im Gürteletui. »Er ist auch irgendwie komisch.«
»Was meinst du? Habt ihr Probleme?«
»Nein.« Der Freund winkte ab. »Er ist nur irgendwie geheimniskrämerisch. Das ist untypisch für ihn. Er wollte mir nicht erzählen, was sein Team gerade macht, als ich ihn danach gefragt habe.«
»Vermutlich ist er im Stress. Bei jedem hier liegen die Nerven blank, aber jeder reagiert anders darauf, geht anders damit um.«
»Stimmt wohl. Vielleicht sollten wir es machen wie Leonardo.« Nachdenklich sah er zur Tür, durch die der Unsterbliche verschwunden war. »Einfach eine kleine Auszeit nehmen. Ein paar Minuten Ruhe. Ich kann schon nicht mehr klar denken.«
Chloe war ebenfalls müde, wusste aber doch, dass sie innerlich nicht entspannen konnte. Sie war viel zu aufgewühlt. »Vielleicht setzen wir uns kurz zusammen in den Wohlfühlflügel.«
So nannten die Lichtkämpfer den Freizeitbereich des Castillos, in dem gegessen und getrunken wurde und durch Dimensionsfalten allerlei andere Freizeitaktivitäten möglich waren.
»Geh du schon vor. Ich schaue noch mal nach Chris. Holst du mir einen Kaffee?«
»Wird gemacht.«
Sie ging davon, darüber grübelnd, was sie tun konnten, um den Mörder aus seinem Versteck zu locken. Die Uhr tickte. Denn eines war klar: Er würde erneut zuschlagen.
»Wenn wir uns nicht vorher durch Paranoia selbst zerfleischen.«
8. Das verlorene Castillo
»Eine Illusionierung«, stellte Alex fest.
Jen starrte fasziniert und entsetzt zugleich auf den wogenden Schleier, der über dem ersten Castillo lag. »Nicht nur das. Eine Illusionierung verbirgt lediglich das Gebäude – oder verändert es für die Augen anderer –, doch hier ist ein Schutz eingewoben.«
»Ist das ungewöhnlich?« Er hob seine Hand, führte sie an das Wabern heran. Je näher er kam, das konnte Jen genau erkennen, desto schwieriger ging es voran. Es war, als halte man zwei gleichpolige Magneten aneinander. Sie stießen sich unweigerlich ab. Ein Versuch, sie aufeinander zuzuführen, war zum Scheitern verurteilt.
»Ja und nein. So was benötigt dermaßen viel Essenz, dass man es normalerweise im Fall von Gebäuden gar nicht kombiniert, höchstens kurzfristig bei Personen«, erklärte sie. »Etwas in dieser Größe … ich wüsste nicht, wie es länger als einen Tag erhalten werden könnte.«
Alex zog seine Hand zurück. »Scheinbar ist es jemandem gelungen. Immerhin existiert der Schleier seit über einhundert Jahren.«
»Es gibt keine Quelle, die dauerhaft derart stark ist«, sagte Jen nachdrücklich. »Andernfalls hätten wir unser Castillo ebenfalls damit geschützt. Ich habe in den alten Aufzeichnungen gelesen, was für eine Arbeit das Kristallnetz war. Und nach der Zerstörung musste alles noch einmal von vorne aufgebaut werden.«
»Das ist beeindruckend. Aber was mich am meisten interessiert: Wie kommen wir hier wieder heraus? Kein Sprungtor, kein normaler Ausgang und kein Essen.«
Jen schaute zurück zu den toten Lichtkämpfern in der Halle. »Vielleicht sind sie verhungert. Aber dann wären sie kaum in die Halle gelaufen.«
Alex schloss das Eingangsportal. »Meinst du, hier gibt es noch Mentigloben?«
Jen schüttelte den Kopf. »Die werden ja im Archiv eingelagert. Das besteht aus Dutzenden von über die Welt verteilten Räumen, die miteinander vernetzt sind. So wirkt es wie ein Gebäude. Es gibt in jedem Castillo einen Zugang, aber als das hier aufgelöst werden sollte, wurde dieser einfach abgetrennt.«
Alex fluchte.
Jen fühlte ähnlich. Mit einem Mentiglobus hätten sie in die Erinnerungen von einem der ehemaligen Bewohner eintauchen können. »Vielleicht gibt es Aufzeichnungen.«
Sie wandten sich der Treppe zu. Im ersten Stockwerk waren die Privaträume der Lichtkämpfer, hier würde es Hinweise geben. Doch die Zimmer waren leer, die Möbel längst herausgeschafft.
»Was würden wir tun, wenn wir von einem auf den anderen Tag angegriffen werden?«, überlegte Jen. »Möbel sind weg, Essen kaum noch vorhanden …«
Sie wechselten einen Blick und sagten gleichzeitig: »Wohlfühlflügel.«
Sie rannten die Treppe nach oben und über den Verbindungsgang zum südlichen Flügel. Das Gebäude atmete den Geist längst vergangener Zeit. Hier und da hing noch ein alter Wandteppich, sie entdeckten zudem weitere Skelette in altmodischer Kleidung.
»Das ist seltsam«, merkte Alex an. »Es wirkt, als seien die einfach umgefallen. In der Halle unten, auf dem Gang. Das war kein langsamer Tod.«
Diese Beobachtung hatte Jen auch gemacht. Konnte es sein, dass Schattenkrieger hier eingedrungen waren, bevor der Illusionierungsschutz fertig geworden war? In dem Fall hätten die beiden Parteien hier drin den Kampf zu Ende geführt. Die Überlebenden allerdings hätten sich kaum lange an ihrem Glück erfreut. Trotzdem erklärte das nicht, woher der Zauber seine Essenz bezog.
Der Zugang zum Wohlfühlflügel stand offen. Im Inneren wurde sofort ersichtlich, dass die eingeschlossenen Lichtkämpfer diesen als ihren Rückzugsort erwählt hatten. Auf dem Boden lagen mottenzerfressene Matratzen, daneben stapelten sich Kleider. Jen erkannte ein angefangenes Buch, ein verblichenes Bild. Sie ging in die Knie und betrachtete die Aufnahme, die einen Mann und eine Frau zeigte, offenbar ein Paar.
Während die Menschheit nach der Erschaffung des Walls erst 1882 das erste Autotypieverfahren entwickelt hatte und auf dessen Grundlage gerasterte Fotos herstellen konnte, war das den Lichtkämpfern dank Magie zuvor schon möglich gewesen. Es funktionierte ähnlich wie das Aufzeichnen von Erlebnissen in Mentigloben, nur wurde hier aus der Erinnerung ein zweidimensionaler Abzug gemacht. Verwendung hatte anfangs ein hölzerner Fotoapparat von beträchtlicher Größe gefunden, in den magifizierte Linsen eingepasst worden waren.
Jen stellte mit einem Blick auf den Kleiderstapel neben der Matratze fest, dass es vermutlich der Mann auf dem Foto war, der hier gestorben war. Was war wohl aus der Lichtkämpferin geworden? Hatte sie es vorher rausgeschafft? Noch Wochen nach der Errichtung des Walls hatte man versucht, das erste Castillo zu finden. Doch während der gewaltige Schleier das Gebäude verbarg und niemanden hinausließ, schien es umgekehrt substanzlos geworden zu sein. Keiner hatte es an jener Stelle in der Wüste entdecken können, wo es einst gestanden hatte.
»Jen, schau.« Alex deutete nach vorne.
Vor einem einfachen breiten Tisch saß ein Skelett auf einem Stuhl. Der Oberkörper war über die Platte gebeugt, in der Rechten hielt es einen Federkiel. Die Hand schien über den geöffneten Seiten eines Schriftstückes zu schweben. Eines von vielen, die mit einem Stein beschwert worden waren.
»Aufzeichnungen«, sagte Alex auf einen Blick. Er kniff die Augen zusammen. »Er hat Englisch geschrieben.«
»Hat er nicht«, widersprach Jen. Vorsichtig schob sie die Hand beiseite, zog das Papier darunter weg. »Dein Kontaktstein verändert Worte und Schrift in eine für dich verständliche Sprache, vorausgesetzt, sie wurde darin hinterlegt.«
»Oh.«
Alex wirkte bedrückt und sie konnte es ihm nicht verdenken. Erst vor wenigen Tagen war er zu einem Lichtkämpfer geworden, wusste praktisch noch