Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
Jen vermochte damit umzugehen, es war nicht das erste Mal, dass sie Freunde oder zumindest Bekannte an das Böse verlor. Für ihn war das anders. Sie standen praktisch in einem Massengrab.
»Der letzte Eintrag stammt vom Januar 1851«, erkannte sie. »Ziemlich verzweifelt. Scheinbar war er der Letzte, der überlebt hat. Wir sollten …«
Eine Kugel prallte auf dem Boden auf und rollte langsam auf sie zu.
»Runter!«, brüllte Jen.
Sie wusste, dass keine Zeit mehr für eine Schutzsphäre blieb. Stattdessen sprang sie über den Schreibtisch, warf ihn von der anderen Seite um und nutzte die Platte als Deckung. Das Papier flatterte umher, der Beschwerer knallte auf die Steinplatten. Leider erkannte Alex nicht, worum es sich bei der Holzkugel handelte, wie sollte er auch? Bevor er nur einen Schritt tun konnte, schoss Rauch daraus hervor, hüllte innerhalb weniger Sekunden den Raum ein. Glücklicherweise keine Explosion, wie sie zuerst vermutet hatte. Doch Gas machte die Sache nur wenig besser.
Jen zückte den Stab.
Ihre Sicht verschwamm. Sie hustete. Ihre Finger gehorchten nicht länger, der Essenzstab fiel zu Boden. Mit letzter Kraft versuchte sie, das Symbol für einen Schutzzauber anzufertigen, doch sie war zu langsam.
Ein schwerer Körper prallte auf die Steinplatten. Alex!
Ihre Sinne schwanden.
9. Zeig ihn mir!
Kevin hatte keine Ruhe, wie Chloe schnell feststellte. Als schließlich einer der Ordnungsmagier auftauchte und verkündete, dass das Verhör bevorstand, rannte der Freund davon. Er wollte dabei sein, wenn sein Bruder rehabilitiert wurde. Sie konnte es verstehen.
Chloe kehrte in Chris' Zimmer zurück. Der Verräter war ein Profi, das war längst klar, doch jeder machte mal einen Fehler.
»Hey!«
Sie fuhr herum. »Clara!«
»Ich habe es schon gehört«, sagte die Freundin. Auf dem sonst offenen, hübschen Gesicht lag ein tiefer Schatten. »Chris soll es gewesen sein.«
Ohne etwas zu erwidern, zog Chloe sie in eine Umarmung. »Es tut mir so leid.«
»Meine Eltern würden jetzt sagen, dass wir uns das selbst zuzuschreiben haben, weil wir keine ausreichenden Sicherheitsmaßnahmen ergriffen haben«, kam es zurück. Clara löste sich aus der Umarmung. »Konntest du schon Chris' Unschuld beweisen?«
»Du glaubst auch, dass er es nicht war?«
Die Freundin winkte ab. »Ich bitte dich! Nie und nimmer. Da verarscht uns jemand, nach Strich und Faden, aber es ist genug!«
»Gryff …«
»Nein!« Clara hob die Hand. »Nicht. Jetzt will ich das Schwein kriegen, das dafür verantwortlich ist. Es ist schwer genug, mich nicht gehen zu lassen. Was hast du gehofft, hier zu finden?«
Eine gute Frage, fand Chloe. Leider hatte sie darauf keine Antwort. Es war mehr Instinkt gewesen, der sie hierhergeführt hatte. Die Ordnungsmagier hatten die Schränke klassisch durchwühlt und allerlei Zauber angewendet, um weitere Gegenstände zu orten. Doch abgesehen von der Sigilklinge befand sich kein schwarzmagisches Artefakt vor Ort. »Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung.«
»Aber ich«, sagte Clara. »Weißt du, nachdem ich aufgewacht bin, wollte Theresa mich erst nicht gehen lassen. Ich musste türmen. Als ich erfahren habe, dass der Verräter noch immer nicht enttarnt ist, bin ich in die Bibliothek gegangen. Dort habe ich Bücher gewälzt. In all der Aufregung hat mich niemand beachtet.«
»Okay, und?«
Sie zog ein dicht beschriebenes Papier hervor. »Diesen Zauber habe ich gefunden. Damit kann man den Mörder eines Magiers sichtbar machen, wenn die Tatwaffe vorliegt. Da es durch das Aurafeuer fast nie vorkam, dass die Leiche eines Lichtkämpfers erhalten blieb, geriet er wohl in Vergessenheit.«
Chloe riss ihr das Blatt aus der Hand. »Das ist genial. Bibliotheks-Girl, du bist eine Wucht. Die Sigilklinge haben wir und Gryff wurde damit … Ähm …«
»Schon klar.« Die Freundin winkte ab. »Wo ist sie?«
»Die Ordnungsmagier haben sie mitgenommen. Die Befragung von Chris beginnt doch gleich, da wollten sie ihn wohl zu der Waffe ausquetschen.«
Sie verließen das Zimmer. Auf dem Weg in den Trakt der Ordnungsmagier, wo auch die Zellen untergebracht waren, wurde Chloe erneut deutlich, welche Unruhe über allem lag. Hier und da wurde getuschelt, der Name »Chris« war zu hören. Sie fluchte lautlos. Die Gerüchte hatten den Freund längst vorverurteilt. Selbst wenn seine Unschuld bewiesen wäre, würde nur die Enthüllung des echten Verräters den letzten Zweifler verstummen lassen.
»Hast du einen Verdacht?«, fragte Clara.
»Nein.« Chloe hatte sich die Frage immer wieder gestellt. Doch sah man von einigen Lichtkämpfern ab, die sie nicht mochte, traute sie niemandem einen Mord zu.
Gemeinsam stiegen sie die Stufen zu den Zellen hinab. Am Eingang zum Befragungsbereich loderten entzündete Fackeln.
»Alles für die Atmosphäre«, sagte Clara abschätzig.
Sie betraten den Raum.
Chris lag bewusstlos am Boden, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Die beiden Ordnungsmagier, die ihn hatten befragen wollen, lagen in einer Lache ihres eigenen Blutes. Ein wenig seitlich, den Oberkörper in eine Zelle gestreckt, ruhte Eliot Sarin. Chloe stellte mit einem Blick fest, dass sein Brustkorb sich hob und senkte, er lebte also noch. »Eliot, aufwachen!«
Clara sank neben Chris zu Boden. »Hey, Chris!«
Der Freund stöhnte. Seine Lider flatterten. »Du elender Dreckskerl, warte nur, bis meine … Oh, Clara?«
Chloe griff nach ihrem Kontaktstein und sandte eine Emotion des Entsetzens an Johanna, dazu das Bild der toten Ordnungsmagier. »Was ist hier passiert?«
Chris kam mit Claras Hilfe auf die Beine. »Keine Ahnung. Mich hat ein Kraftschlag auf den Hinterkopf getroffen, war sofort bewusstlos.«
»Gleichfalls«, sagte Eliot, während er sich den Kopf hielt. »Ich wollte gerade die Zelle schließen.«
»Das ist wohl der Grund, weshalb ihr noch am Leben seid, ihr habt den Angreifer nicht erkannt.« Chloe überprüfte die beiden leblosen Ordnungsmagier. »Es gab kein Aurafeuer. Er hat also wieder die Klinge benutzt.«
Das absolut einzig Positive am Einsatz dieser Waffe war, dass stets auch ein Schattenkrieger starb, wenn ein Lichtkämpfer getötet wurde. Doch das machte den Tod nicht ungeschehen. Sie kannte die beiden nicht, aber andere hatten in diesem Augenblick Freunde verloren.
»Die Klinge ist fort«, sagte Eliot. Er stand zitternd an der Seite, betrachtete die Toten und Chris.
Schritte erklangen. Kurz darauf stürmte Johanna von Orléans in den Zellentrakt. »Verletzte?«
»Tote«, erklärte Chloe. »Sigilklinge.«
»Kennen wir seine Identität?«
»Der Angriff kam von hinten.«
Johanna ließ ihren Essenzstab sinken. Die Unsterbliche trug das Äußere einer Frau Anfang vierzig, das blonde Haar war zu dem für sie typischen Pferdeschwanz gebunden. Normalerweise wirkte sie in sich ruhend, als habe sie alles im Griff. Nicht umsonst hatte ihr das die Tasse »Best Mum ever« eingebracht, die zwar angeblich eine kleine Stichelei gewesen war, aber doch stets von ihr benutzt wurde. Heute hatten sich ein paar Strähnchen gelöst, sie wirkte gehetzt. »Ich will eine vollständige Untersuchung«, forderte sie. »Ab sofort bewegt sich niemand mehr alleine durch das Castillo. In jedem Raum werden Sicherheitszauber manifestiert.« Sie wandte sich um, wobei ihr Blick auf Chris hängenblieb. »Eliot, nimm ihm die Fesseln ab.«
»Wir müssen eine genaue Untersuchung