Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
Johanna gegangen, einen anderen mit Tomoe. Es waren schöne Zeiten gewesen. Intime Nähe über das Körperliche hinaus war mit einer Normalsterblichen kaum möglich. Doch an der Seite einer Unsterblichen war Zeit bedeutungslos. Gemeinsame Stunden wurden zu wunderbaren Erinnerungen, die für die Ewigkeit bestanden. Keine Gebrechen, Vergesslichkeit oder das Alter selbst zerstörten die Liebe. Einzig der gewaltsame Tod beendete das Märchen.
Oder das Auseinanderleben im Alltag.
Manchmal gelang es der Zeit eben doch, sie einzuholen. So wie heute. Mit jeder Sekunde pulsierte das Leben aus ihm hinaus. Die Schattenfrau hatte also einen gefunden. Einen der alten Wechselbälger, der allerersten. Kein Wunder, dass er ihr half. Leonardo ahnte, was sie tun würde, wollte die anderen warnen.
Mit letzter Kraft robbte er zum Tisch. Zumindest war das der Plan. Doch die Schwäche siegte. Er hustete, spuckte Blut. Das Sigil riss an der Aura, zerrte an der immer fragiler werdenden Hülle. Weitere Risse entstanden. Das Ende nahte.
Eine einzelne letzte Träne rann über seine Wange.
11. Eine Prise Minze
Alex öffnete die Augen.
Im ersten Moment erwartete er, seine Mutter aus dem angrenzenden Raum rufen zu hören. Normalerweise klang das in etwa nach: »Kaffee ist fertig, schwing deinen faulen Arsch von der Matratze.« Das war natürlich Spaß, sie wusste, dass er hart an einem beruflichen Erfolg arbeitete. In diesem Moment hätte er alles für jene Worte gegeben und die dazugehörige Tasse Kaffee. Am besten im Zwillingsmodus mit einer Kopfschmerztablette. Seine wirren Gedanken lichteten sich zäh.
Er fuhr in die Höhe. »Jen?!«
»Aua«, erklang es hinter einem umgestürzten Schreibtisch. »Schrei nicht so.«
Eine Armeslänge entfernt lag eine Holzkugel am Boden, in die vier Öffnungen gebohrt worden waren. »Was war das?« Hektisch tastete er nach seinem Essenzstab. »Er ist weg.«
»Meinst du deinen Intellekt? Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber der war nie da.«
»Mein Essenzstab!«, brüllte er. Der Verlust ließ das Sigil panisch aufflackern.
Ein Fluchen erklang. »Dito.« Jen kam in die Höhe. Sie wirkte zerzaust, doch nicht verletzt. Ihr Blick wanderte umher. »Die Unterlagen sind ebenfalls fort.«
Alex ging in die Knie und hob die Holzkugel auf. »Was ist das?«
Jen betrachtete sie mit ungläubigem und gleichermaßen faszinierten Blick. »Ein sehr altes Kampfartefakt. Früher verwendeten die Lichtkämpfer Hohlkugeln aus Holz, transformierten Gas zu Flüssigkeit, taten sie hinein und versiegelten die Löcher durch Eisenpfropfen. Die waren über Eisenornamente untereinander verbunden. Sie brannten magische Symbole in das Metall. Sobald man sie in einer bestimmten Abfolge berührte, floss das Eisen zurück und die Flüssigkeit transformierte wieder zu Gas. Diesen Effekt hast du eben kennenlernen dürfen.«
»Cool. Was hatten die denn sonst noch so?«
Jen verdrehte die Augen. »Echt jetzt? Das Ding hat dich gerade umgehauen. Was ist daran cool?«
Er ignorierte die Frage, schenkte ihr lediglich ein freches Grinsen, von dem er wusste, dass er sie damit zur Weißglut trieb. »Und?«
»Du bist echt so durchschaubar«, erwiderte sie. »Ein Klischee auf zwei Beinen. Ein Höhlenmensch.«
»So, glaubst du? Wenn ich so leicht zu durchschauen bin, dann nenn mir doch mal mein Lieblingshobby«, forderte er. »Du kommst sicher nicht drauf.«
Jen schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Herausforderung angenommen. Aber vielleicht sollten wir uns erst darum kümmern.« Sie deutete auf die Holzkugel. »Ich hätte meinen Essenzstab gerne wieder. Und danach den direkten Weg zum Ausgang.«
Sie taumelte.
»Hey, alles klar?«, fragte Alex besorgt. Er wollte sie stützen, doch Jen lehnte ab.
»Ist okay. Nachwirkungen von dem Zeug.«
Er legte die Holzkugel auf den Tisch. »Können wir es wie bei Nostradamus machen, ein Aufspürzauber?«
»Nein, leider nicht. Hier haben wir keine Körperflüssigkeit. Und wage es nicht, jetzt zu grinsen oder irgendeinen zweideutigen Witz zu machen.«
Alex grinste. »Käme mir doch nie in den Sinn.«
»Höhlenmensch.«
»Bist du mit dem Hobby schon weiter?«
»Lesen ist es auf jeden Fall nicht«, sagte Jen süffisant, nur, um sofort das Thema zu wechseln. »Wir werden das Castillo durchsuchen müssen. Ganz klassisch. Immerhin dürfte der Weitblick hier gut funktionieren.«
»Oh, hm.«
»Du bekommst ihn noch nicht hin?«
»Nein«, gab Alex widerwillig zu. »Anfangs klappt es, aber dann wird alles unscharf. Als hätte ich eine viel zu starke Brille auf der Nase.«
Jen sank auf die Kante des Tisches. Sie wirkte blass und müde. Ein leichter Schweißfilm stand ihr auf der Stirn. Das Betäubungsgas hatte bei ihr scheinbar deutlich agressiver gewirkt. »Das Problem ist in diesem Fall nicht der Weitblick selbst, sondern die Justierung. Du kommst nicht zur Ruhe, veränderst den Zoom ständig und dadurch werden Dinge unscharf. Du musst dich entspannen.«
Er schaute sie erwartungsvoll an. Doch Jen schwieg. »Das ist alles? Ich soll mich entspannen.«
»Ja.«
»Du bist ein toller Yoda. Hey, alles gut, entspann dich einfach, dann klappt’s mit der Macht.«
»Hast du mich gerade mit einem kleinen, grünen, runzeligen Alien verglichen?« Jen warf ihm einen warnenden Blick von der Sorte Sag jetzt nichts Falsches zu.
»Oh, du kennst Star Wars. Na ja, er ist agil und stark und … wollten wir nicht auf die Suche gehen?«
»Tolle Idee, Kent.«
Sie gingen gemeinsam zur Tür, traten vorsichtig auf den Gang hinaus. Da die Essenzstäbe fort waren, konnten sie die Magie des Sigils nicht mehr verstärken oder in Material einwirken lassen. Andererseits hatte ihr Gegner sie am Leben gelassen, was Anlass zur Hoffnung gab.
»Reiten«, tippte Jen.
»Nein«, erwiderte Alex. »Falls du von Pferden sprichst.«
»Sei einfach still.«
Sie pirschten die Brüstung entlang. Immer wieder kniff sie die Augen zusammen, die daraufhin glasig wurden. So wirkte der Einsatz des Weitblicks nach außen immer. Alex gab ebenfalls sein Bestes, konnte eine bestimmte Stelle jedoch nur für Sekunden halten, bevor alles unscharf wurde. Das sorgte zunehmend für ein Schwindelgefühl.
Es stellte sich recht schnell heraus, dass in den Räumen der oberen Stockwerke niemand war. Sie schlichen weiter, arbeiteten sich nach unten vor. Alex hielt seinen Zeigefinger erhoben, um blitzschnell einen Schutz erschaffen zu können. Die benötigten Worte sagte er sich innerlich immer wieder vor, damit sie im Fall der Fälle sofort herauskamen.
»Riechst du das?«, fragte Jen.
Er schnupperte. »Minze.«
»Küche«, entschied sie daraufhin.
Sich gegenseitig Deckung gebend, steuerten sie die Küche des ersten Castillos an. Tatsächlich hörten sie von Weitem, dass dort jemand rumorte. Töpfe und Pfannen schepperten, Gläser klirrten, der Geruch nach Kräutern wurde intensiver.
Alex lugte um die Ecke.
Eine kleine runde Frau ließ soeben die beiden Essenzstäbe in einen Kochtopf fallen. Sie mochte Anfang fünfzig sein, trug das Haar zu einem Dutt gebunden und grummelte vor sich hin. Er konnte die Worte nicht genau verstehen, was einfach daran lag, dass sie zu leise schimpfte. Flüche waren