Nick Tappoli. Jakob Christoph HeerЧитать онлайн книгу.
war es, das Herz Gerolds sei dem seinen noch nie so nahe gewesen wie in dieser Stunde. Sie versprachen sich, wie weit das Leben sie jetzt auch auseinander führe, miteinander einen Briefwechsel zu unterhalten, und unvermerkt waren sie auf ihrer Morgenwanderung über die Höhen nach dem Schlößchen Arenenberg gekommen. Sie plauderten nicht mehr, sondern hielten stille Ausschau über das liebliche Gelände, über die von blauen Wassern eingefaßte Insel Reichenau, die anmutigen Burgenhügel des Hegaus, und der letzte Blick Ulrichs hing an dem aus breiter Ebene ragenden Konstanzer Münster. Er wußte, die Tage, die er im Bannkreis des ehrwürdigen Bauwerks verbracht hatte, würden zu den schönsten seines Lebens zählen.
Von der Reichenau herüber kreuzte der Dampfer, der Augenblick des Abschieds war da. In stummer Erschütterung trennten sich die Freunde.
Die wunderschöne Fahrt rheinab bis nach Schaffhausen und die weite Straße von da nach Eglisau legte Ulrich in düsteren Träumen zurück. Als der Abend über die Giebel hereindämmerte, schlenderte er umschauhaltend die Hauptgasse des Städtchens hinab auf die Rheinbrücke. Die Betglocke läutete. Aus der Kirche traten zwei Mädchen und schauten auf den Strom, das Kind des Mesners, das er stets mit einer plattgedrückten Zwetschge verglich, und neben ihr Nick, die von jeher gern beim Läuten half. Bei ihrem Anblick ging ihm ein Stich durchs Herz, er hätte ihr Grüße von Gerold bestellen können, aber er dachte: »Bah, der Flattervogel!« und ging mit mürrisch-linkischem Gruß vorüber. Er brachte aber das Bild der Zwölfjährigen lange nicht mehr aus dem Sinn, die dunkeln Blitzaugen, die langen Wimpern, das weiche, krause Haar, das sich kaum bändigen ließ, die roten Wänglein und die noch viel rötern Lippen. Er suchte es zu vertreiben, indem er an die vielen hübschen Mädchen dachte, die er in Konstanz gesehen hatte, sein Herz aber schrie: »Schöner als Nick ist keine!«
Um sechs Uhr am andern Tag stand er in einem von Friedrich zurückgelassenen Lederschurz neben dem Altgesellen Thomas und dem jungen Sebastian, einem recht geschickten Arbeiter, doch lockern Vogel, in der Werkstatt.
Er konnte kaum mehr als Lehrjunge gelten. Die selbständige Herstellung eines dreiteiligen Taschenmessers mit Klinge, Säge und Ahle war ihm schon aus den Knabenjahren her ein geläufiges Spiel. Nur ein paar Schläge auf dem kleinen Amboß, und von dem im Kohlenfeuer rotglühend gemachten Stahlband fielen bereits Klinge um Klinge, ebenso Ahle um Ahle, Sägeblatt um Sägeblatt, Feder um Feder, Platine um Platine, die Bleche für die Fächer des Messers. Rasch formten sich ihm die Bäckchen, die versilberten Kleinstücke, die das Heft vorn und hinten einfassen, und dieses selbst, aus einem Kuhhorn geschnitten und zwischen Holzzangen geradegepreßt. Der Bohrer quirlte, der Niethammer schlug, – das Messer war zusammengestellt; und was daran noch roh, matt und unvollkommen erschien, das erhielt am surrenden Schleifstein und auf den Schmirgelscheiben jenen Glanz, die Glätte und Feinheit, mit der ein neues Stück in der Auslage lockt.
Nicht minder leicht liefen ihm Sensen und Scheren aller Art aus der Hand; er besaß die spitzen Finger des Vaters, die von selber zweckmäßig und sicher tasteten, griffen, hantierten, und das Gefühl für die Genauigkeit des Schaffens. Die Arbeit aber verrichtete er mit einer solchen Trockenheit und Verbissenheit, daß den andern die Lust zu Gesprächen mit ihm verging. Indessen verstanden sie sein unliebenswürdiges Wesen und trugen es ihm nicht weiter nach. Der Vater freute sich aufrichtig seiner zähen, wenn auch mürrischen Tüchtigkeit und übersah das Gedrückte in seinem Wesen.
Die Mutter blickte tiefer in Ulrichs Seele. Als er an einem Regensonntag gelangweilt in der Stube saß, fragte sie: »Warum langst du denn nie mehr zu deinen Gymnasialbüchern? Du könntest doch für dich selber manches daraus lernen!« »Ich habe sie auf der Esse verbrannt,« erwiderte er finster. Da wußte sie, wie es um ihn stand. Sie lächelte ihm aber zu: »So furchtbar traurig solltest du nun doch nicht sein. Wie sind der Vater und ich deiner Hilfe froh! Wenn wir schon fast nicht wissen, woher das Geld nehmen, haben wir doch den Plan, daß er zur Heilung seines Hustens etliche Wochen in die Berge gehen soll. Das dürfen wir nur wagen, weil du dich so tapfer in die Stränge stellst!«
Und als der Vater dann verreiste, lief das Geschäft auch ohne ihn. –
Im Hochsommer überraschte Gerold von Jaberg den Schmied mit seinem Besuch. »Jung Siegfried war ein stolzer Knab'!« rief er dem Freunde zu, der vom Feuer der Esse umsprüht, von Qualm und Dampf umwirbelt vor einem Steinbecken stand, in dem er ein paar weißglühende Eisen kühlte. »Ich kann dir die Hand nicht reichen,« erwiderte Ulrich, »aber in einer Viertelstunde bin ich zu deiner Verfügung.« Er warf sich in den Sonntagsstaat und versäumte Gerold zu Ehren ein paar Stunden der Arbeit. Sie schwärmten hinaus nach den drei einsamen Föhren der Grenze und dem Heidenbühl und blickten von dort miteinander ins Hochgebirge, das Gipfel an Gipfel, Haupt an Haupt, ein geheimnisvoll leuchtender Silberkranz im fernen Süden stand.
Gerold erzählte ihm, daß sein Vater nun tatsächlich nach Dänemark und er selber in die Gegend von Lübeck übersiedeln werde und sie schon morgen abzureisen gedächten. In einem ländlichen Gasthaus hielten die Freunde Einkehr, und so lieb nun dieser letzte Besuch Gerolds gedacht war, merkte Ulrich doch, wie die Augen des jungen, schönheitssinnigen Edelmannes verlegen und mißbilligend auf seinen Werkhänden ruhten, auf den vom Feuer und kalten Wasser herrührenden Rissen, aus denen sich der Ruß auch mit Seife und Bürste nicht entfernen ließ. Er war zu stolz, sich zu entschuldigen, wurde aber über den Blicken Gerolds selber verlegen und fühlte, wie ihre Wege nicht nur nach den äußeren Schicksalen, sondern auch nach der seelischen Entwicklung auseinanderliefen: der seine hinein in die derbe Arbeit, derjenige Gerolds in die geistige Verfeinerung. Fast still legten sie den Weg ins Städtchen zurück.
So kam, von keinem gewollt, das Ende der schönen Knabenfreundschaft, und ein paar Briefe, die sie später noch wechselten, waren nur der Ausklang der gemeinsamen Jahre.
4
Ulrich vergaß nie, daß er Gymnasiast gewesen war, und die Mitgesellen, gegen die er allmählich freundlicher wurde, achteten seine Bildung, Thomas namentlich. Der nun zu einem alten Männchen verschrumpfte Hagestolz hatte in jungen Jahren so viel von deutschen und österreichischen Landen gesehen, daß er eine Menge Mundarten durcheinander sprach. Sogar hinüber nach England in die Fabrikstädte Manchester und Birmingham war er gekommen und zwei Jahre in Paris in einer Werkstatt für chirurgische Instrumente tätig gewesen. Wie wenn er dem Meisterssohn Trost bringen sollte, erzählte er ihm oft von den Aufenthalten in der weiten Welt und ließ dabei den halbverlorenen Blick in wiedererwachtem jugendlichem Glanz aufleuchten. Ulrich merkte aus den Reden des Alten wohl, daß es etwas ganz besonders Schönes um die Wanderjahre eines Handwerksburschen sein müsse. Auf die Zeit, da er selber Länder und Völker sehen würde, freute er sich tiefinnerlich, und der Gedanke daran leuchtete über dem Beruf, den er hatte unfreiwillig ergreifen müssen, wie ein Stern, der einen nächtlichen Wanderer hinein ins Morgenrot führt.
Der Vater war aus den Bergen zurückgekehrt, braungesengt von der Sonne und in guter Gesundheit. Am Abend umjubelte ihn die Kinderschar, und am Morgen ging er kräftig ans Werk. In die Wiedersehensfreude aber mischten sich bald die sorgenvollen Gespräche der Eltern, wie das Geld, das der Genesungsaufenthalt gekostet hatte, ersetzt und auf Martini der Zins für eine Schuld bezahlt werden solle, die von altersher auf dem Haus lastete.
In großer Verlegenheit richtete der Vater einen Brief an Hans Bütschi, einen durch eine Fuhrhalterei reich gewordenen Verwandten in Zürich, und betraute den Sohn mit der Aufgabe, ihm das Darlehensgesuch zu überbringen.
Für Ulrich ein saurer Gang durch den trüben Vorwintermorgen! Doch nahm ihn der derbe Fuhrhalter freundlich auf, gab ihm, nachdem er den Brief durchgelesen hatte, ohne Zögern den gewünschten Betrag, sagte ihm einiges Artige über seinen Wuchs und seine Erscheinung, zeigte ihm den Stall voll starker Zugpferde und hielt ihn zum Mittagessen fest. Ulrich wurde um ihn heimisch und freute sich schon, seines heiklen Auftrages so leicht ledig geworden zu sein. Bei Tisch aber machte die sonst ansprechende Frau, die von dem Darlehen erfahren haben mochte, ein böses Gesicht. Vielleicht glaubte der Mann ihr ein Zugeständnis schuldig zu sein, denn er wandte nun das Blatt und führte anzügliche Redensarten über den Meister