Reise durchs Baltikum nach Russland und Sibirien 1829. Alexander von HumboldtЧитать онлайн книгу.
dann erklärt, wenn der menschenrechtliche Anteil gesehen wird, der seine Physikalische Geographie zu einer Waffe formte, die gegen Unterdrückung, Sklaverei und Hochmut gerichtet war.
Urteile über Humboldt wurden und werden noch bis heute vordergründig mit Publikationen begründet, die nur deshalb für die Interpretation Übergewicht gewannen, weil sie zugänglich sind. So ist sein »Kosmos« gewiss sein bekanntestes, und die »Ansichten der Natur« sind sein volkstümlichstes Buch. Er selbst stellte allerdings sein amerikanisches Reisewerk höher. Noch wichtiger für eine Bewertung ist die Erkenntnis der drei Forschungsprogramme des jungen Humboldt als der »Triebräder« in Goethes Sinn, gerade weil sie vorwärts zwangen, auch nach Erprobung in fernen Ländern verlangten, weil sie nicht von heute auf morgen erfüllt werden konnten, weil über sie zunächst überhaupt nichts publiziert werden konnte. Diese Programme, die den Nährboden der Physikalischen Geographie gebildet haben, waren das Entscheidende. Die Publikationen Alexanders bis 1799 sind bei aller Würdigung auch ihres Wertes demgegenüber vordergründig. Sie wurden als Gelegenheitsarbeiten veröffentlicht, weil sie sich publizieren ließen. In ihnen hat der vielfältig suchende und experimentierende Humboldt Ziele kurzfristig verfolgt, gleichsam erprobt, ob er ihnen auch in der Zukunft folgen könnte. Mit ihnen hat er sich bekannt gemacht und bestätigt, in ihnen wollte er auch Spuren hinterlassen, die an ihn erinnern sollten für den Fall seines Todes während einer Forschungsreise. Zwei Bücher hat er damals von einem Freund und seinem Bruder nach vorhandenen Aufzeichnungen zusammenstellen lassen – ein Vorgang, der auch nur für eins seiner Forschungsprogramme undenkbar ist. Nie lässt sich aus diesen zeitgebundenen Gelegenheitsarbeiten eine die Zeiten überdauernde Leistung erweisen.
Nach seiner Heimkehr aus Amerika dachte Humboldt immer wieder an Reiseziele in Asien. Die Voraussetzung für ein volles Verständnis dieser Pläne und der Russland- und Sibirien-Reise von 1829 haben wir nun gewonnen.
CHARAKTERZÜGE DER RUSSLAND- UND
SIBIRIEN-REISE A. V. HUMBOLDTS
Jedem Leser, der dieses Buch aufschlägt, ist gewiss bewusst, dass Humboldt aufgrund seiner Expedition in die Tropen Amerikas 1799 bis 1804 der maßgebende Forschungsreisende seiner Zeit wurde. Die ideale Erfüllung des reisegeschichtlichen Dreiklangs ließ ihn zum allgemein bewunderten Vorbild werden, wie wir bereits gesehen haben. Dies alles wurde zusammengehalten von der führenden geographischen Konzeption der Zeit, die auch kartographisch kongenial verwirklicht worden ist, der Idee einer Physikalischen Geographie. Gerade als Forschungsreisender und Geograph schuf Humboldt das Paradigma (= Vorbild oder Muster), das sich aus notwendigen Gründen erst in unserer Zeit abschwächte. Doch haben ihm die in die Gegenwart hineinwirkenden Geographen Hermann Lautensach (1886–1971), Carl Troll (1899–1975) und die unter uns weilenden Herbert Louis, Herbert Wilhelmy, Albert Kolb, Julius Büdel und Martin Schwind noch entsprechen dürfen.
Viel weniger bekannt als die klassische Amerika-Expedition ist Humboldts russisch-sibirische Forschungsreise vom 12. April bis 15. Dezember 1829. Sie wurde in ihrem Wert nicht nur unterschätzt, sondern regelrecht herabgestuft, obwohl sie zu einer besonders hochstehenden geographisch-physikalischen Auswertung vor allem im »Central-Asien«-Werk geführt hat (s. S. 174). Gerade hier vermisste die Kulturwelt allerdings den persönlichen Reisebericht, den Humboldt leider nicht geschrieben hat. Er hatte diese Aufgabe seinem Mitreisenden, dem Berliner Mineralogen Gustav Rose, anvertraut, und diesem fehlte einfach die literarische Gewandtheit, mehr zu geben als ein mineralogisches Itinerar. Humboldt hat den Wert der Reiseliteratur wie wenige gekannt und z.B. immer wieder auf die bezaubernden Berichte seines »Lehrers und Freundes« Georg Forster hingewiesen. Waren diese Schilderungen noch Bücher vom Menschen, so zog Humboldt erstmals die Natur selbst breiter und zugleich wissenschaftlich begründet in die geographische Perspektive, ohne indessen den Menschen, seine Wirtschaft, seine Sklaverei, seinen Wohlstand, seine Not und seine Unterdrückung zu übersehen.
Trotz der pflichtschuldigen Dankbarkeit einem spanischen König gegenüber, der ihm die Amerika-Reise gewährte, hat er in seinen Berichten weder an Anerkennung noch an Kritik gespart. Seine russische Reise war ebenso politisches Ereignis wie die amerikanische, nur dass Humboldt diesmal weit mehr die Hände gebunden waren, wie wir noch sehen werden. Wenn er auf eine echte literarische Chance verzichtete und große Erwartungen einer internationalen Leserschicht nicht erfüllte, so sind politische Hintergründe dafür verantwortlich gewesen, die er diesmal nicht umgehen konnte. Er durfte diesmal nicht kritisieren und wollte dennoch die Wahrheit nicht verleugnen. So musste er schweigen.
Reiseliteratur war im 18. und im 19. Jahrhundert in ihren besten Stücken Literatur der Freiheit und der Befreiung – oder sie wurde zum Zerrspiegel der Wahrheit. Das zaristische Russland war ein Land starrer Klassentrennung, kannte ein kastenartiges Beamtensystem, leibeigene Bauern und nach Sibirien Verbannte. Dies war Humboldt wohl bewusst. Als Staatsbürger und Kammerherr Friedrich Wilhelm III. von Preußen, der in dieser Reise einen erfreulichen Akt zur Stärkung der Freundschaft mit Russland erblickte, wurde ihm die kritische Feder regelrecht aus der Hand genommen; denn das russische und das preußische Herrscherhaus waren nahe verwandt. Humboldt musste notwendigerweise auf den eigenständigen Bericht verzichten, musste jeden Gedanken daran aufgeben und bat stattdessen einen Reisegefährten um eine Darstellung, die dann leider noch eintöniger und langweiliger geschrieben wurde, als er es erwartet haben mochte.
A. V. HUMBOLDTS SCHWIERIGER WEG
NACH RUSSLAND UND SIBIRIEN
Es ließe sich nun vermuten, dass Humboldt seine russische Reise von 1829 auf Knall und Fall angetreten und insofern auch der wichtigen reisegeschichtlichen Kategorie der Vorbereitung, deren Beobachtung wir vom Forschungsreisenden nun einmal verlangen müssen, nicht entsprochen habe. Das ist überhaupt nicht der Fall.
1. Ein Kommilitone der Freiberger Bergakademie, der Russe Wladimir Jurevic Sojmonov, hatte Alexander 1793 in einem Schreiben gefragt, ob es wohl jemals möglich sein werde, ihn in Sibirien, wohin er von Deutschland gehen wolle, zu besuchen. In einem der wenigen dekuvrierenden Briefe, die der junge Humboldt schrieb, enthüllte er seinem Freund, er habe drei Jahre an eine solche Reiserichtung gedacht. Es beherrsche ihn der Ehrgeiz, am Fortschritt der Naturgeschichte zu arbeiten. Er ergreife jede Gelegenheit, die Welt zu sehen. In der Erforschung der Natur kämen ihm an Ausdauer wenige gleich. Er denke an eine Reisemöglichkeit, die sich in 20 Jahren ergeben könnte »nach Sibirien, in den Taurus, zum Kaukasus« – dann sollte Sojmonov seinen alten Freund nicht vergessen. Er bereite sich »unermüdlich auf ein großes Ziel vor«, das er nicht nannte. Es waren die Tropen der Neuen Welt. Er wolle die Natur im Großen sehen und betonte seine materielle Bedürfnislosigkeit. Er sah seine zukünftige Reise gegründet auf die mächtige Familie oder die Karriere seines Freundes.
Dieser Brief, den der Oberbergmeister v. Humboldt am 11. Juli 1793 aus Goldkronach geschrieben hat, spricht vermutlich erstmals von einer sibirischen Reise, die einer Expedition in die Neue Welt folgen sollte.
Die Änderungen, die dieser Plan erfahren hat, seien kurz verdeutlicht:
2. 1801, während seiner Amerika-Reise, äußerte Humboldt einmal, er werde von Mexiko aus über die Philippinen, Surate, Bassora und Palästina nach Frankreich zurückkehren. So hätte seine amerikanische Reise in eine asiatisch-nahöstliche ausmünden können.
A. v. Humboldts Reiseroute
3. Während seines Kordilleren-Aufenthalts plante er 1801/02 eine innerasiatische Reise zum Vergleich der Anden mit dem Kunlun.
4. Schon bald nach der Rückkehr aus Amerika im August 1804 ließ Humboldt den Verleger Cotta wissen, er werde nach Beendigung seines amerikanischen Reisewerks eine neue Expedition antreten. Da Alexander mehrfach im preußischen Auftrag diplomatische Missionen ausführte und den Zeitaufwand für sein amerikanisches Reisewerk zunächst erheblich unterschätzte, werden mehrere innere Gründe der Verzögerung einer neuen Expedition von Anfang an deutlich.
5. In einem Brief an D. L. G. Karsten sprach Humboldt 1805 von einer Reise