Der Gott, der uns nicht passt. Tobias WolffЧитать онлайн книгу.
Dies wird bestätigt durch das Ende der Fluterzählung in Gen 8,21f, „wo JHWH seinen Vernichtungsbeschluss durch einen Akt der Barmherzigkeit zurücknimmt und damit den Fortbestand der Erde und ihrer grundlegenden Lebensrhythmen zusichert – obwohl die Schuld des Menschen unverändert weiterbesteht.“111 Diese Herzenswandlung Gottes aus Mitleid und Liebe begegnet auch bei Hosea 11,1–11. Israel, so Vers 7, hat sich nicht geändert (vgl. Gen 8,21), aber Gott (Vers 8 nehpach alaj libbi)112. Der Stimmungswandel Gottes von 6,5 zu 8,21 kann erklärt werden mit den nach der Flut geänderten Bedingungen (Noahbund als Bestandsgarantie des Lebens). Die Menschheit nach der Flut ist nicht besser als zuvor, nur wird Gott von nun an den jeweils einzelnen Täter zur Rechenschaft ziehen, nicht mehr das Kollektiv. Auch der religionsgeschichtliche Vergleich unterstützt diese Deutung: Im Gilgámesch-Epos wird der für die Flut verantwortliche Gott Enlil kritisiert:
Ea öffnet seinen Mund und spricht, er sagt zu Enlil, dem Helden, Du, der Weise unter den Göttern, der Held, wie nur konnte es geschehen, dass du keinen guten Rat erteiltest, sondern die Sintflut sandtest? Nur dem, er selbst eine Sünde beging, laste seine Schuld an! Nur dem, der eines Fehlers sich schuldig machte, laste seinen Fehler an!113
Das ist auch der Tenor des biblischen Berichts: Nicht mehr soll das Menschengeschlecht kollektiv bestraft werden. Nun soll mithilfe eines Rechtssystems das individuelle Fehlverhalten geahndet werden (vgl. Gen 9,6).114
» Gott reagiert im Gericht …
„Ich werde wegwischen …“ Gott ist nicht launisch, nicht gemütskrank oder grausam. Er sieht, dass der Mensch in seiner Freiheit dabei ist, die Hölle auf Erden zu schaffen, ein Leben in Gewalttat und Bosheit. Der gesamte Einflussbereich des Menschen ist infiziert, ist verdorben. Das Übel kann nicht mehr geheilt und rückgängig gemacht werden. Gott bewahrt das Leben auf die einzig mögliche Art: indem er den einzig „exemplarisch“ Gerechten bewahrt. Und so gibt es in diesem düsteren Gemälde einen hellen Schein.
» … und im Heil
„Aber Noah fand Gunst in den Augen des Herrn“! Was ist das für ein Mensch, der dem Gericht entkam? Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen war Noah ein rechtschaffener, durch und durch redlicher Mann, der in enger Verbindung mit Gott lebte. Die Augen Gottes, die zu Beginn all das Böse sahen, sehen mit Barmherzigkeit und Gunst auf den, der mit Gott lebt, der ihn sucht.
Vers 9:
Noah war ein gerechter Mann (isch zadiq)
und vollkommen (tamim) unter seinen Zeitgenossen;
Mit Gott wandelte (hithallech) Noah
Drei Dinge werden von Noah ausgesagt:
1. Er war „gerecht“, wie viele im AT. Zadiq begegnet 206-mal im AT, vor allem im Psalter und in den Sprüchen. Oft in Kontrast zum „Frevler, Bösewicht“ (Ps 1). Besonders von Menschen, die das Gesetz halten.
2. Er war „ganz, vollkommen“, eine schon seltenere Charakterisierung. Die Wortwurzel bedeutet „Ganzheit, Vollständigkeit“. Ein Fachwort für fehlerfreie Opfertiere (Lev 1,3 u. a.), das allein Gott dargebracht werden darf. Der tamim enthält sich allen Unrechts (Hes 28,15) und wandelt in Gottes Geboten (Ps 119,1). Beispiele sind Hiob und Abraham (Gen 17,1).
3. „… mit Gott wandelte Noah“. Das lesen wir nur noch von Henoch (Gen 5,24 wajjithallech chanoch et-ha’elohim)! In Noahs Fall steht Gott betont an erster Stelle (Gen 6,9 et-ha’elohim hithallech-noach).
Das heißt: Noahs Charakterisierung ist steigernd angelegt: gerecht – wie viele im AT > vollkommen – wie einige wenige > wandelte mit Gott – wie nur noch Henoch. Noah lebte zwischen zwei Zeitaltern, vor und nach der Flut, gewissermaßen zwischen zwei „Generationen“ (der hebr. Text Gen 6,9 hat den Plural „Generationen“ bedorotaw). In beiden war er der beispielhaft Gerechte! Und so lesen wir ganz am Ende des Flutberichtes etwas Merkwürdiges: Und Noah baute Jahwe einen Altar (Gen 8,20). Das erste Bauwerk, das in der „Neuen Welt“ errichtet wurde, war ein Altar für Jahwe, den Herrn über Leben und Tod! Nach der Krise, angesichts von Chaos und Schlamm, bevor er an ein Dach über dem Kopf denkt, betet dieser Noah Gott an. Folglich ist eben dies das Elementare für ihn, dass der Kontakt und das Zwiegespräch mit Gott nicht abreißen; folglich muss zuerst dieses Fundament gelegt sein, auf dem aller Aufbau und alles weitere Leben gegründet sein sollen.115
Und nun? Der Verweis auf die überwiegend vielen „hellen“ Momente im AT macht die „dunklen“ Seiten des Buches nicht erträglicher oder besser. Man kann diese Frage nicht durch Anhäufung andersartiger Berichte klären. Die Antwort darauf liegt nicht in unserem Wissen über Gott, sondern in unserer Haltung vor Gott. Es ist eine Frage der Beziehung, nicht der Erkenntnis. Noah lebte in dieser Beziehung mit seinem Gott. Daher konnte er Altäre bauen anstelle religionskritische Bücher zu schreiben.
Leben und Tod, Frieden und Gewalt – diese ungleichen Paare werden die Welt begleiten, solange sie besteht. Die Bibel verursacht sie nicht, sie zeugt nur von ihnen. Es ändert nichts, diese dunklen Seiten aus dem Buch herauszureißen. Wir haben Gott nicht zu kritisieren, wenn seine Wege uns nicht gefallen. Auch in ihnen ist er uns nahe (Ps 23,4; Ps 27,1). Viele Menschen vertreten heute die Position aus Hiob 2,9: Lästere Gott und stirb! Unsere Antwort darauf sollte mit Vers 10 lauten: Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?
Noah und Hiob zeigen exemplarisch: Wir finden Vorbilder nicht nur im NT, sondern in besonderer Weise auch im AT. Das ist die Schrift, die von Jesus zeugt (Joh 5,39). Wer „Mose“ glauben kann, glaubt auch Jesu Wort (Joh 5,46f). Gottes Wort redet auch heute noch zu jedem, der hören will. Wenn immer wir das Alte Testament lesen, sollten wir es in der Haltung tun, die Pfarrer Wilhelm Busch auszeichnete:
Wenn ich die Bibel aufschlage, dann geht es mir so, wie es mir erging, als ich im Feld Telephonist war. Da hatten wir einen sehr unansehnlichen, mitgenommenen Apparat. Nun hatte ich eines Tages mühsam die Verbindung hergestellt aus der Feuerstellung mit dem Regimentsstab und wartete auf den Befehl des Kommandeurs. Da kommt einer daher und sagt: „Was hast denn du für einen Apparat. Der ist ja jämmerlich. Der ist einer deutschen Armee unwürdig!“ Ich erwiderte nur: „Halt den Mund! Ich habe jetzt keine Zeit, auf dich zu hören. Ich muss hören, was am anderen Ende der Leitung gesagt wird.“ So ist es, wenn ich das Alte Testament aufschlage. Da muss ich hören, was am andern Ende gesagt wird. Da redet nämlich Gott.116
9 Literaturverzeichnis
» Zum Thema „Gewalt“:
Auel, Hans-Helmar: Der rätselhafte Gott. Gottesdienste zu unbequemen Bibeltexten. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2010.
Baumgart, Norbert Clemens. Nitsche, Martin (Hg.), Gewalt im Spiegel alttestamentlicher Texte (Erfurter Theologische Schriften 43). Würzburg: Echter Verlag, 2012.
Becker-Spörl, Silvia: Krieg, Gewalt und die Rede von Gott im Deboralied (Ri 5). In: Ein Gott der Gewalt? Bibel und Kirche. 51. Jahrgang, 3. Quartal, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1996, S. 101–106.
Bodendorfer, Gerhard: Erfahrung und Verständnis von Gewalt im Judentum. In: Hempelmann, Reinhard/Kandel, Johannes (Hg.): Religion und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotentiale in den Weltreligionen. Göttingen: V&R unipress, 2006, S. 195–225.
Busch, Wilhelm „Was tun wir mit dem Alten Testament?“ In: Währisch, Hans (Hg.), Verkündigung im Angriff. Wuppertal: Aussaat Verlag 1968, S. 41–47.
Cowles, C.S. et alii: Four Views on God and Canaan Genocide. Grand Rapids: 2003.
Die deutschen Bischöfe. Gerechter Friede (Hirtenschreiben. 66), 4. Aufl., Bonn 2013. http://www.dbk-shop.de/media/files_public/qxjkjjqep/DBK_1166.pdf (Stand 2.4. 2015).
Ebach, Jürgen: Nicht den Frieden, sondern das Schwert!? Drängende Fragen an Texte, die von Gewalt sprechen. Vortrag München: 2010, Quelle: http://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/wp-content/uploads/Ebach-OEKT2010_Gewalt.pdf (Stand 2.4.2015).
Ders., Nicht nur „der liebe Gott“. Das Problem des Bösen