Der Gott, der uns nicht passt. Tobias WolffЧитать онлайн книгу.
der ursprünglichen Bewohner (Gen 15,16; Ex 34,13–16; Lev 18,25; Dtn 9,5; 20,18 u. a. m.). David Lamb, Professor für Altes Testament in Hatfield, Pennsylvania, geht sogar so weit, hier ein Beispiel für Gottes langmütigen Charakter zu sehen. Schon in Gen 15,16 wurde festgestellt, dass „das Maß der Schuld“ der Bewohner Kanaans „noch nicht voll war“. Obwohl sie schon Jahrhunderte früher Strafe verdient hätten, wartete Gott, der „langsam zum Zorn“ ist, ab und ließ den Menschen Zeit zur Umkehr.43 Dies führt uns zum zweiten Einwand hinsichtlich des Zornes Gottes.
In den ersten Kapiteln der Bibel, im Buch Genesis wird nirgends vom Zorn Gottes geredet, doch das ändert sich sehr deutlich im restlichen AT (auch im Neuen Testament gehört die Warnung vor Gottes Zorn (Joh 3, 36; Röm 1,18; 12, 19; Eph 5,6) zu den Glaubensinhalten. Das Jüngste Gericht wird unter anderem als „Tag des Zorns“ (Röm 2,5) beschrieben. Der Offenbarung des Johannes zufolge steht eine letzte Stunde großen Zornes Gottes noch aus (Offb 14,19; 19,15).
Das Widerstreben gegen Gottes Führung, die Mißachtung seiner Gebote, der Abfall zu anderen Göttern führt den Z[orn] G[ottes] gegen sein Volk herauf (Num 11, 1; 12, 9; Dtn 1, 34 ff.; 32,16; Ri 2, 13 ff.; Ex 32; 1Sam 15) … Trotzdem tritt der Z. nie als gleichberechtigter Wesenszug Gottes neben Heiligkeit, Liebe und Macht. Die Gewißheit, daß das Erbarmen immer wieder über den Z. hinweggreift (Ex 20, 5 f.; 2Sam 12, 13; 24, 16; Jes 40, 2; 51, 22), … daß Jahwe nicht nachträgt (Jes 57, 16; Mi 7, 18; Ps 103,8 ff.), sondern in Langmut zuwartet und warnt (Ex 34, 6 f.; Num 14, 18; Jes 48, 1), vor allem aber die Ausblicke auf eine die Zeit des Z.es abschließende Heilszeit lassen die Begrenztheit des Z.es gegenüber dem göttlichen Heilswillen stärker hervortreten und bahnen den Weg zu einer Heilsgewißheit, die den Z. als das Mittel zur Heilsbeschaffung positiv zu würdigen wagt.44
In Jes 54,7 wird der kurze Zorn Gottes und seine lange Gnade mit der abschließenden Gottesrede der Sintflutgeschichte verglichen. Die Wut Gottes wird in einem Bild mit dem Aufwallen der Wasser gesehen, die aber letztlich der immerwährenden Güte Gottes weichen müssen:
Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen werde ich dich sammeln. Im aufwallenden Zorn habe ich einen Augenblick mein Angesicht vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade werde ich mich über dich erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser. Wie die Tage Noahs gilt mir dies, als ich schwor, daß die Wasser Noahs die Erde nicht mehr überfluten sollten, so habe ich geschworen, daß ich dir nicht mehr zürnen noch dich bedrohen werde. Denn die Berge mögen weichen und die Hügel wanken, aber meine Gnade wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Bedeutsam ist, dass der Gott des AT gerade nicht durch seinen Zorn definiert wird, sondern dadurch, dass er „langsam zum Zorn“ (hebr. erech apajim) ist! Diese Beschreibung Gottes findet sich quer durch alle Gattungen und Abschnitte des AT, in historischen (2 Mose 34,6; Neh 9,17), prophetischen (Joel 2,13; Jona 4,2) und poetischen Texten (Ps 86,15; 103,8). Die Langmütigkeit Gottes „gehört so sehr zu Jahwes Charakter, dass er sie sogar in seinen Namen einschließt“45:
Und Jahwe ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Jahwe, Jahwe, mitfühlender und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und reich an Güte und Treue, der Gnade bewahrt an Tausenden (von Generationen), der Schuld, Vergehen und Sünde vergibt, aber keineswegs ungestraft lässt, sondern die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und vierten Generation. (Ex 34,6f)
Grundaussage des AT ist demnach, dass Gott gnädig und barmherzig ist. Dieses „Herzstück alttestamentlichen Gottesglaubens fokussiert wie in einem Brennglas dunkle und helle Seiten von Gottes Wesen: In der Verbindung von begrenztem Gericht und unendlichem Erbarmen deckt dieser Text das Wesen des Israelgottes in einer Weise auf, wie es im Alten Testament nie mehr überboten oder korrigiert wird. Zu Recht kann darin ein ‚Schlüssel‘ des Alten Testaments gesehen werden.“46 Das alttestamentliche Konzept der Affekte unterscheidet sich, wie Johannes Schnocks ausführt, deutlich von dem griechisch-abendländischen:
Im letztgenannten herrscht die sog. Behältermetapher („er ist voll von Zorn/Hass/Liebe“). Der Mensch ist gleichsam angefüllt wie ein Gefäß und hat die Aufgabe, diese Emotionen in seinem Inneren unter Kontrolle zu bringen. Im AT findet sich diese Behältermetapher so gut wie nicht. Gefühle kommen hier von außen an den Menschen heran. Es gibt objektive äußere Gründe für sie, man kann sich ihnen nicht wirklich entziehen. Dafür helfen äußere Normen (vgl. 2Sam 13,12 „so was tut man nicht in Israel“). Ps 78,58f: „Sie erbitterten ihn mit ihrem Kult auf den Höhen und reizten seine Eifersucht mit ihren Götzen. Als Gott es sah, war er voll Grimm und sagte sich los von Israel“: Wichtig ist hier, dass klare Gründe angegeben werden, die den Emotionsausbruch Gottes als angemessen erklären. Es ist gerade nicht die Rede davon, dass Gott seinen Zorn erst beherrscht habe, dann aber „explodiert“ sei. Sondern das Hören führte unmittelbar zur Reaktion des Zorns. Daraus folgt für das biblische Gottesbild, dass die Rede vom „Gotteszorn“ zwar für den Menschen bedrohliche Widerfahrnisse – wie Kriege, Katastrophen, Erdbeben etc – theologisch erklären hilft, als dunkle Gotteserfahrung. Aber es ist dabei gerade nicht ausgesagt, dass Gott willkürlich handelt. Gott hat immer, wenn auch für den Menschen z. T. verborgen, Gründe für sein Handeln (vgl. Offb 16).47
4 Kritik erlaubt … im Gebet
Es scheint eine Eigenschaft des modernen Menschen zu sein, sein Gottesbild, wenn er denn an Gott glaubt, entsprechend eigener Wünsche und Vorstellungen zu modifizieren. Texte, die nicht in dieses Bild passen, werden uminterpretiert bzw. der darin beschriebene Gott kritisiert.
Der Mensch hat ... heute eher den Eindruck, dass Gott gerechtfertigt werden müsse, als dass der Mensch selber vor und durch Gott ... ein Gerechtfertigter werden müsse“.48
Klaus-Stefan Krieger moniert die „überhebliche Souveränität, mit der wir uns heute gerne über die Texte stellen und ihren Inhalten moralische Zensuren erteilen“. Was wäre, wenn wir nicht „gut situierte Mitteleuropäer“ wären, sondern Verfolgte und Unterdrückte, zum Beispiel „Christen im Südsudan“, und fragt: „Wie würden wir handeln?“49 Während der moderne Mensch Gott für die Probleme der Welt verantwortlich zu machen und ihn zu kritisieren pflegt, gibt es für den biblischen Beter diese Option nicht. Selbst der vermeintlich von Gott Verlassene (Ps 22) und der, welcher Gott als Feind empfindet, kann nicht von ihm lassen. So etwa im dunkelsten Lied, Psalm 88, dessen letztes Wort „Finsternis“ ist: „Es geht um die Hoffnung auf den rettenden Gott … Von dieser Hoffnung will er … nicht lassen. Auch wenn alles dagegen spricht“.50 Und Johannes Schnocks kommentiert: „Das Gebet dieses Psalms selbst ist die stärkste Bestätigung, dass das Ich sich noch nicht vom Gott seines Glaubens verabschiedet hat, sondern geradezu trotzig an dem festhält, den es als Feind erlebt“.51
Dass der Mensch das Recht habe, Gott zu hinterfragen, unterstützt die Bibel offenbar nicht:
• Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR. Denn wie der Himmel höher ist als die Erde, so sind meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. (Jes 55,8f)
• Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege … (Röm 11,33)
• Du wirst nun zu mir sagen: Warum tadelt er noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden? Ja freilich, o Mensch, wer bist du, der du das Wort nimmst gegen Gott? Wird etwa das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich so gemacht? (Röm 9,19f)
Der wichtigste Text, der sich mit der Frage nach einem gerechten Gott angesichts von Leid auseinandersetzt, ist die Weisheitliche Lehrschrift des Hiob, eines frommen Herdenbesitzers, der vermutlich im Nordwesten der arabischen Halbinsel lebte, also kein Israelit war. Hiob hatte drei Freunde, die wie allgemein üblich an der Formel festhielten, dass jedes Unheil eine Ursache hat (Tun-Ergehen). Konsequent suchten sie daher – weil Gott nicht ohne Grund strafe – fieberhaft nach einer verborgenen Sünde oder Schuld des Hiob (manchen Haltungen einzelner christlicher Gruppierungen nicht unähnlich). Die Alternative wäre, an der Gerechtigkeit Gottes zu zerbrechen, wie es beinahe (Ps 73,2) dem Beter des 73. Psalms passiert wäre. Viele Lösungsmöglichkeiten gibt es nicht. Und diese werden ausführlicher im Buch Hiob als