Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.
die Stühle rings um den Tisch in Unordnung und meinte: »Wir sehen ja aus wie eine Hochzeitsgesellschaft; mein Gott, die Dienstboten sind doch zu dumm.«
Sie knabberte, seitwärts auf einem xförmigen schrägstehenden Stuhl sitzend. Es war, als könne sie soviel Petits fours haben, wie sie wolle, ohne ihre Mutter um Erlaubnis bitten zu müssen, und wenn Frau Swann, deren ›Jour‹ gewöhnlich mit Gilbertes Vespergesellschaften zusammenfiel, gerade einen Besuch hinausbegleitet hatte und dann einen Augenblick eilig eintrat, bald in blauen Samt, bald in eine schwarze Satinrobe mit weißen Spitzen gekleidet, sagte sie mit verwunderter Miene:
»Das sieht gut aus, was ihr da eßt; ich bekomme Hunger, wenn ich euch Cake essen sehe.«
»Wir laden dich ein, Mama«, sagte Gilberte dann.
»Aber nicht doch, mein Schatz, was würde mein Besuch sagen? Ich habe noch Frau Trombert da, Frau Cottard und Frau Bontemps, du weißt, unsere liebe Frau Bontemps macht keine sehr kurzen Besuche, und sie ist eben erst gekommen. Was werden all die guten Leute sagen, wenn sie mich nicht wiederkommen sehen? Wenn niemand mehr erscheint, komme ich her, mit euch zu schwatzen (das macht mir viel mehr Spaß), sobald meine Gäste erst weg sind. Ich glaube, ich habe ein wenig Ruhe verdient, ich habe fünfundvierzig Besuche gehabt, und von den fünfundvierzig haben zweiundvierzig über das Bild von Gérôme gesprochen! Aber kommen Sie doch in diesen Tagen, Ihren Tee bei Gilberte zu nehmen«, wandte sie sich jetzt an mich, »sie wird ihn machen, wie Sie ihn lieben, so wie Sie ihn in Ihrem kleinen ›Studio‹ nehmen.« Und damit war sie schon unterwegs zu ihren Besuchen. Sie hatte zu mir gesprochen, als ob das, was ich in dieser geheimnisvollen Welt suchte, etwas so Selbstverständliches sei wie meine Gewohnheiten (zum Beispiel die, Tee zu nehmen, als ob ich je welchen genommen hätte; und was das ›Studio‹ betraf, war ich mir gar nicht sicher, ob ich eines habe oder nicht). »Wann kommen Sie? Morgen? Man wird Ihnen Toasts machen so gut wie bei Colombin. Nein? Sie sind gräßlich!«
Seit sie einen Salon hatte, nahm sie die Manieren von Frau Verdurin an, ihren schmollend despotischen Ton. Von Toasts wußte ich ebensowenig wie von Colombin; dies letzte Versprechen hatte daher meiner Verlockung nichts hinzuzufügen. Es mag seltsam erscheinen, weil der Ausdruck ganz geläufig ist und jetzt vielleicht sogar in Combray gebraucht wird; ich aber verstand im ersten Augenblick nicht, von wem Frau Swann sprach, als ich sie unsere alte »nurse« loben hörte. Ich konnte nicht englisch. Aber bald begriff ich, daß ›nurse‹ Françoise bezeichnete. In den Champs-Élysées hatte ich solche Angst gehabt, Françoise könne einen peinlichen Eindruck machen, und nun erfuhr ich von Frau Swann, daß alles, was Gilberte von meiner ›nurse‹ erzählte, ihr und dem Gatten Sympathie für mich eingeflößt habe. »Man merkt, sie ist Ihnen ergeben, sie ist ausgezeichnet.« (Alsbald änderte ich meine Meinung über Françoise gänzlich. Eine Erzieherin in Regenmantel und Federhut zu haben, schien mir nun nicht mehr so nötig.) Schließlich entnahm ich ein paar Worten, die Frau Swann sich über Frau Blatin entschlüpfen ließ – sie erkannte ihre wohlwollende Gesinnung an, fürchtete aber ihre Besuche –, daß persönliche Beziehungen zu dieser Dame mir nicht so nützlich hätten werden können, wie ich geglaubt, und bei den Swann mein Ansehen durchaus nicht erhöht hätten.
Hatte ich schon begonnen, zitternd vor Ehrfurcht und Freude, das feenhafte Gebiet zu durchforschen, das mir wider Erwarten seine bisher verschlossenen Zugänge öffnete, so tat ich dies doch nur als Freund Gilbertes. Das Königreich, in dem ich empfangen wurde, lag aber selbst in einem noch geheimnisvolleren, in welchem Swann und seine Frau ihr übernatürliches Leben führten; dahin richteten sie ihre Schritte, nachdem sie mir die Hand gedrückt, wenn sie zu gleicher Zeit mit mir in entgegengesetzter Richtung das Vorzimmer durchquerten. Bald aber drang ich auch ins Herz des Heiligtums vor. Zum Beispiel, wenn Gilberte nicht da war und Herr oder Frau Swann sich im Hause befanden. Sie hatten gefragt, wer geläutet habe, und als sie erfuhren, ich sei es, mich bitten lassen, ein wenig zu ihnen zu kommen; sie wünschten, daß ich in diesem oder jenem Sinne, zu einem oder dem andern Zweck meinen Einfluß auf ihre Tochter ausübe. Da dachte ich an den beredten, ausführlichen Brief, den ich unlängst an Swann geschrieben, auf den er nicht zu antworten geruht hatte; und es erschien mir wunderbar, wie sehr Geist, Urteilskraft und Herz unfähig sind, die geringste Umstimmung zu vollziehen, eine einzige der Schwierigkeiten zu beheben, die dann das Leben, ohne daß man auch nur merkt, wie es das anstellt, so leicht auflöst. Meine neue Stellung als Freund Gilbertes, begabt mit einem ausgezeichneten Einfluß auf sie, ließ mich jetzt Vergünstigungen genießen, als hätte ich in einem Gymnasium, in dem ich immer der erste wäre, einen Königssohn zum Kameraden und verdankte diesem Zufall intimen Zutritt zum Palast und Audienzen im Thronsaal. Mit unendlichem Wohlwollen, als wäre er nicht überhäuft mit glorreichen Beschäftigungen, ließ mich Swann in seine Bibliothek eintreten und dort eine Stunde lang, stammelnd und schweigsam vor Schüchternheit, dann wieder einmal Mut in einem Anlauf fassend, auf Wendungen antworten, von denen ich in meiner Aufregung kein Wort verstand; er zeigte mir Kunstgegenstände und Bücher, die, wie er annahm, mich interessieren könnten, und ich war von vornherein sicher, daß sie an Schönheit alles überträfen, was der Louvre und die Nationalbibliothek besitzen; sie anzusehen aber war ich nicht imstande. In solchen Augenblicken hätte mir sein Butler geradezu eine Freude mit der Aufforderung bereitet, ihm meine Uhr, meine Krawattennadel und meine Schuhe auszuliefern und ein Schriftstück zu unterzeichnen, das ihn zu meinem Erben einsetzte; wie die schöne volkstümliche Redensart es ausdrückt, deren Urheber man so wenig kennt wie den der berühmtesten Epen, und die doch gleich ihnen, trotz Wolffs Theorie, sicher einen gehabt hat – einen der erfinderischen, bescheidenen Geister, die man alljährlich treffen kann und die trotz ihrer köstlichen Einfälle unbekannt bleiben –, wie jene Redensart sagt, ›ich wußte nicht mehr, was ich tat.‹ Höchstens wunderte ich mich, wenn der Besuch länger dauerte, zu welchem Nichts an greifbaren Resultaten, welchem Mangel an glücklichen Lösungen die Stunden führten, die ich in der verzauberten Stätte verlebte. Aber meine Enttäuschung rührte weder von der Unvollkommenheit der gezeigten Meisterwerke her noch von meiner Unfähigkeit, auch nur einen zerstreuten Blick auf sie zu richten. Denn nicht die Schönheit, die den Dingen innewohnte, machte es mir zum Wunder, in Swanns Kabinett zu sein, sondern daß sie verwachsen waren – und wären sie auch noch so häßlich gewesen – mit dem besondern, traurig wollüstigen Gefühl, das seit so vielen Jahren ich in diesem Kabinett lokalisierte, und das ihm noch anhaftete. So spielte auch die Fülle von Spiegeln, silbernen Bürsten, Altären des heiligen Antonius von Padua, geschnitzt und gemalt von den größten Künstlern, ihren Freunden, keine Rolle in dem Gefühl meiner Unwürdigkeit und ihres königlichen Wohlwollens, das mir kam, wenn Frau Swann mich einen Augenblick in ihrem Zimmer empfing, wo drei schöne, Ehrfurcht gebietende Geschöpfe, ihre erste, ihre zweite und ihre dritte Zofe, lächelnd wunderbare Toiletten zurechtlegten; dahin wandte ich mich, wenn der Lakai in kurzen Hosen die Weisung aussprach, daß die gnädige Frau mich zu sprechen wünsche, und wandelte die Biegungen des schmalen Korridors, der ganz durchduftet war von kostbaren Essenzen, die unablässig aus dem Ankleidezimmer ihre wohlriechenden Ausdünstungen weithin verströmten.
Als Frau Swann zu ihren Besuchen zurückgekehrt war, hörten wir sie noch eine Weile sprechen und lachen, denn schon vor zwei Personen hob sie die Stimme, als gelte es, der ganzen ›Kompagnie‹ die Stirn zu bieten, und ließ ihre Worte los, wie sie es so oft in dem ›kleinen Clan‹ bei der ›Patronne‹ beobachtet hatte, wenn diese ›die Unterhaltung dirigierte‹. Ausdrücke, die wir frisch von andern übernommen haben, gebrauchen wir, wenigstens eine Zeitlang, besonders gern: so wählte Frau Swann bald die, welche sie den distinguierten Leuten abgelauscht hatte, mit denen ihr Gatte sie unvermeidlich bekannt machen mußte, bald gewöhnlichere aus ihrem früheren Freundeskreis und suchte sie in alle Geschichten einfließen zu lassen, die sie nach einer Gewohnheit, welche aus dem ›kleinen Clan‹ stammte, zu erzählen pflegte. Hinterdrein sagte sie gern: »Diese Geschichte liebe ich sehr«, oder »Sie müssen gestehen, diese Geschichte ist nicht uneben!« eine Wendung, die sie durch ihren Gatten von den Guermantes hatte, welche sie gar nicht kannte.
Als Frau Swann das Eßzimmer verlassen hatte, ließ sich ihr Gatte, der gerade nach Hause kam, bei uns sehen. »Weißt du, ob deine Mutter allein ist, Gilberte?«
»Nein, sie hat noch Besuch, Papa.«
»Wie? Noch um sieben Uhr? Das ist ja schrecklich. Die arme Frau muß ganz erschöpft sein.