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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust


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und uns darin behaglich und verwöhnt fühlen, beginnen wir ganz von selbst, anhänglich zu werden, und schlagen menschliche Wurzeln.

      Was Frau Bontemps anlangt, so sprach Swann, glaube ich, wohl deshalb so eindringlich von ihr, weil ihm der Gedanke nicht unangenehm war, meine Eltern erfahren zu lassen, daß seine Frau von ihr Besuch empfing. In Wahrheit reizten bei uns zu Hause die Namen der Personen, die Frau Swann nach und nach kennen lernte, die Neugier mehr, als daß sie Bewunderung erregt hätten. Als in diesem Zusammenhang der Name der Frau Trombert genannt wurde, sagte meine Mutter:

      »Ah, da hat sie einen neuen Rekruten, der wird ihr andere zuführen.«

      Und als vergliche sie die etwas summarische, rasche, heftige Art, mit der Frau Swann ihre Beziehungen sich erobere, mit Kolonialkriegen, fügte Mama hinzu: »Jetzt, da die Trombert unterworfen sind, werden die Nachbarstämme sich ohne Zögern ergeben.«

      Wenn sie Frau Swann auf der Straße gesehn hatte, sagte sie zu Hause:

      »Ich habe Frau Swann auf dem Kriegspfad getroffen, sie muß wieder einmal auf einen ertragreichen Vorstoß gegen die Massekutos, Singhalesen oder Trombert ausgezogen sein.«

      Und von allen neuerschienenen Personen, die ich in diesem etwas zusammengewürfelten, künstlichen Kreise sah, in den sie oft ziemlich mühsam und aus sehr verschiedenen Gegenden hereingeholt waren, erriet sie sofort die Herkunft und sprach von ihnen wie von teuer erkauften Trophäen. »Erbeutet auf einer Expedition bei dem und dem«, pflegte sie zu sagen.

      Daß Frau Swann auch Frau Cottard, eine nicht gerade elegante Bourgeoise, heranzuziehen vorteilhaft fand, wunderte meinen Vater. »Ich muß bekennen, daß ich es trotz der hohen Stellung des Professors nicht begreife«, meinte er. Die Mutter hingegen begriff es sehr gut; sie wußte, es macht einer Frau nur halbe Freude, in ein neues, von ihrem früheren verschiedenes Milieu einzudringen, wenn sie nicht ihre ehemaligen Beziehungen von den verhältnismäßig glänzenderen unterrichten kann, die jene ersetzt haben. Dazu bedarf es eines Zeugen, den man in die neue, köstliche Welt eindringen läßt wie ein brummendes, flüchtiges Insekt in eine Blume, damit er dann bei andern Besuchen von ungefähr – so hofft man wenigstens – die Nachricht ausstreut, den heimlichen Keim zu Neid und Bewunderung. Frau Cottard war für diese Rolle wie geschaffen, sie gehörte zu der Kategorie von Gästen, welche Mama, die von ihres Vaters Geistesart Einiges geerbt hatte, »Fremder, verkünde in Sparta!« nannte. Nebenbei gesagt hatte Frau Swann – von einem andern Grunde abgesehen, den man erst viele Jahre später erfuhr –, wenn sie diese wohlwollende, zurückhaltende, bescheidene Freundin berief, nicht zu befürchten, sie führe zu ihren glänzenden »Jours« einen Verräter oder Konkurrenten bei sich ein. Sie wußte, wieviel bürgerliche Blumenkelche diese fleißige Arbeitsbiene, wenn sie, mit Reiherfeder und Visitenkartentäschchen bewaffnet, ausging, an einem einzigen Nachmittag besuchen konnte. Sie kannte ihre Verbreitungsfähigkeit und, fußend auf Wahrscheinlichkeitsberechnung, besaß sie Gründe, anzunehmen, daß wohl schon zwei Tage später ein oder der andere Stammgast der Verdurin erfahren werde, daß der Stadtkommandant von Paris seine Karte bei ihr abgegeben habe, oder daß Herr Verdurin selbst erzählt bekäme, Herr Le Hault de Pressagny, der Präsident des Rennklubs, habe sie und Swann zur Gala des Königs Theodosius mitgenommen; sie vermutete, die Verdurin würden nur von diesen beiden für sie schmeichelhaften Ereignissen erfahren. In dieser Beziehung beschränkt sich unser Ahnen und Streben auf wenige Möglichkeiten: kann doch unsere Einbildungskraft nicht alle Formen des Ruhmes gleichzeitig erfassen, wenn wir sie auch – im großen ganzen – alle zugleich erhoffen.

      Übrigens hatte Frau Swann nur in der sogenannten »offiziellen« Gesellschaft Resultate erzielt. Die eleganten Frauen gingen nicht zu ihr. Sie wurden nicht etwa durch die Gegenwart republikanischer Notabeln verscheucht. Zur Zeit meiner frühen Kindheit war allerdings nur, wer zur konservativen Gesellschaft gehörte, mondän, und in einem angesehenen Salon hätte man keinen Republikaner empfangen können. Die Menschen, die in einem solchen Milieu lebten, bildeten sich ein, das gesellschaftliche Gesetz, nie einen Opportunisten zu empfangen, geschweige denn einen abscheulichen Radikalen, sei von ewiger Dauer wie Öllampen und Pferdeomnibusse. Aber wie ein Kaleidoskop placiert die Gesellschaft nacheinander die Elemente, die man für unbeweglich hielt, auf immer neue Art und bildet immer andere Figuren. Ich hatte meine erste Kommunion noch nicht, und schon begegneten Damen der konservativen Gesellschaft bei einem Besuch zu ihrem großen Erstaunen einer eleganten Jüdin. Diese Neuordnung des Kaleidoskops beruht auf einem Vorgang, den ein Philosoph einen Kriterienwechsel nennen würde. Die Dreyfusaffäre führte wieder einen neuen herbei. Das war zu einer Zeit, der meine ersten Besuche bei Frau Swann vorangingen; und aufs neue kehrte das Kaleidoskop seine kleinen, farbigen Rauten um. Alles, was jüdisch war, kam nach unten, die eleganten Damen sogar; obskure Nationalisten traten an ihre Stelle. Der glänzendste Salon von Paris war der eines ultrakatholischen österreichischen Fürsten. Wäre statt der Dreyfusaffäre ein Krieg mit Deutschland ausgebrochen, so hätte sich das Kaleidoskop in anderer Richtung gedreht. Die Juden hätten sich zum allgemeinen Erstaunen als Patrioten gezeigt und ihre Stellung behalten, und niemand hätte mehr zu dem österreichischen Fürsten gehen noch zugeben mögen, daß er früher zu ihm gegangen sei. Das hindert nicht, daß jedesmal, wenn die Gesellschaft für Augenblicke stabil ist, ihre Mitglieder sich einbilden, es könne nie anders werden, so wie sie die Anfänge des Telephons miterlebt haben und doch nicht an den Aeroplan glauben wollen. Die Feuilletonphilosophen beschimpfen die gerade vergangene Periode, nicht nur die Art Vergnügen, denen man in ihr nachging (die erscheinen ihnen als äußerste Korruption), sondern auch die Werke der Künstler und Philosophen, die in ihren Augen keinen Wert mehr haben, als wären sie unlöslich mit den jeweiligen Formen mondäner Frivolität verknüpft. Das einzige, was sich nie verändert, ist der Anschein, es habe sich »in Frankreich was geändert«. Zur Zeit, als ich zu Frau Swann ging, war die Dreyfusaffäre noch nicht zum Ausbruch gekommen, und bestimmte, hochgestellte Juden waren sehr mächtig. Keiner mehr als Sir Rufus Israels, dessen Frau, Lady Israels, eine Tante von Swann war. Sie hatte persönlich nicht so elegante Freundschaften wie ihr Neffe; und er liebte diese Tante nicht und hatte den Verkehr mit ihr nie sehr gepflegt, obwohl er wahrscheinlich ihr Erbe sein würde. Aber sie war von Swanns Verwandten die einzige, die über seine gesellschaftliche Stellung Bescheid wußte, die andern blieben in dieser Beziehung immer so unwissend, wie wir lange es waren. Wenn in einer Familie ein Mitglied in die hohe Gesellschaft auswandert – was ihm ein einzigartiges Phänomen scheint, bis er zehn Jahre später feststellt, daß das gleiche auf andere Art und aus andern Gründen von mehr als einem jungen Menschen, mit dem er zusammen aufwuchs, erreicht worden war –, beschreibt er um sich eine Schattenzone, eine terra incognita bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich sichtbar für die, die sie bewohnen, aber eitel Nacht und Nichts für die, welche nicht in sie eindringen und an ihr entlang streifen, ohne aus unmittelbarer Nähe ihr Vorhandensein zu vermuten. Da kein Nachrichtenbureau Swanns Kusinen über die Leute unterrichtete, mit denen er verkehrte, so erzählte man sich bei Familiendiners mit herablassendem Lächeln (wohlbemerkt noch vor Swanns abscheulicher Heirat), man habe den Sonntag »löblich« verwandt und den Vetter Charles besucht, den man für etwas neidisch, für den typischen armen Verwandten hielt und mit geistreicher Anspielung auf Balzacs Cousine Bette den »Cousin Bête« nannte. Lady Rufus Israels wußte nur zu gut, wer die Leute waren, die Swann eine Freundschaft bezeugten, auf die sie eifersüchtig war. Die Familie ihres Gatten, die annähernd so hoch stand wie die Rothschilds, führte seit mehreren Generationen die Geschäfte der Prinzen von Orléans. Lady Israels war ungewöhnlich reich und verfügte über großen Einfluß; den hatte sie angewandt, damit niemand aus ihrer Bekanntschaft Odette empfange. Nur eine war ihr heimlich ungehorsam gewesen: die Gräfin Marsantes. Da hatte es das Unglück gewollt, daß Odette gerade bei Frau von Marsantes zu Besuch war, als fast gleichzeitig Lady Israels eintrat. Frau von Marsantes stand auf Kohlen. Feig wie Leute, die gleichwohl sich alles herausnehmen könnten, richtete sie nicht ein einziges Mal das Wort an Odette, und diese verlor den Mut, ihren Einfall in eine Gesellschaft fortzusetzen, die sowieso nicht nach ihrem Geschmack war. Mit ihrem völligen Mangel an Interesse für das Faubourg Saint-Germain blieb Odette weiter die ungebildete Kokotte und unterschied sich dadurch von den Bourgeois, die in allen Teilen der Genealogie beschlagen sind und mit der Lektüre alter Memoiren ihren Durst nach aristokratischen Beziehungen stillen, welche das wirkliche Leben ihnen nicht liefert. Swann anderseits blieb gewiß weiter der Liebhaber,


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