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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust


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mit Savonarola. Sie ist genau das Porträt Savonarolas von Fra Bartolomeo.« Diese Manier Swanns, Ähnlichkeiten auf Gemälden zu entdecken, ließ sich verteidigen; denn selbst das, was wir individuellen Ausdruck nennen, ist – mit Trauer merkt man es, wenn man liebt und gern an die einzige Wirklichkeit des Individuums glauben möchte – etwas Allgemeines und in verschiedenen Epochen anzutreffen. Aber wenn man auf Swann hörte, so war das Gefolge der heiligen drei Könige, das schon so anachronistisch wirkt, da Benozzo Gozzoli die Mediceer darin eingeführt hat, noch viel anachronistischer, denn es enthielt die Porträts einer Menge Menschen, die nicht Zeitgenossen von Gozzoli, sondern von Swann, das heißt, nicht nur fünfzehn Jahrhunderte nach Christi Geburt anzusetzen waren, sondern noch weitere vier nach dem Maler selbst. Nach Swann fehlte in diesem Gefolge kein einziger markanter Pariser. Es ging zu wie in jenem Akt eines Stückes von Sardou, in dem aus Freundschaft für den Autor und die erste Darstellerin, und auch, weil das Mode war, alle Pariser Berühmtheiten, bekannte Ärzte, Politiker, Advokaten, jeder einen Abend, um sich zu amüsieren, als Statisten auf die Bühne kamen. »Aber was für ein Zusammenhang besteht zwischen ihr und dem Jardin d'Acclimatation?« »Ein sehr großer.« »Wie? Sie glauben, daß sie einen himmelblauen Hintern hat wie die Affen?« »Charles, Sie sind von einer Unschicklichkeit ...! Nein, ich dachte an das Wort, das ihr der Singhalese gesagt hat. Erzählen Sie es ihm, es ist wirklich ein klassisches Wort.« »Es ist idiotisch. Sie wissen, daß Frau Blatin mit allen Leuten ein Gespräch anknüpft mit einer Miene, die sie für liebenswürdig hält, die aber eigentlich eher gönnerhaft ist.« »Was unsere lieben Nachbarn an der Themse patronising nennen«, unterbrach Odette. »Letzthin ist sie in den Jardin d'Acclimatation gegangen, wo es Schwarze zu sehen gab, Singhalesen, hat, glaub ich, meine Frau gesagt, die in Ethnographie viel stärker als ich ist.« »Charles, mokier dich nicht.« »Ich mokiere mich durchaus nicht. Also, sie wandte sich an einen dieser Schwarzen und sagte: Guten Tag, Negro!« »Das ist ja weiter nicht schlimm.« »Jedenfalls gefiel diese Bezeichnung dem Schwarzen nicht. – »Ich Negro«, sagte er zornig zu Frau Blatin, »aber du Kamel!« – »Das find ich sehr komisch! Ich liebe die Geschichte! Ist das nicht klassisch? Man sieht ganz deutlich die alte Blatin: »Ich Negro, aber du Kamel!« Ich bekundete dringendes Verlangen, zu den Singhalesen zu gehen, von denen einer Frau Blatin Kamel genannt hatte. Sie interessierten mich durchaus nicht, aber ich dachte mir, wir würden auf dem Hin- und Rückwege durch die Akazienallee kommen, in welcher ich Frau Swann so sehr bewundert hatte, und vielleicht würde Coquelins Freund, der Mulatte, vor dem ich mich nie hatte zeigen können, wenn ich Frau Swann grüßte, an ihrer Seite mich auf dem Vordersitz einer »Viktoria« sehen.

      Während der paar Minuten, in denen Gilberte sich zum Ausgehen fertig machte und nicht bei uns im Salon war, gefielen sich Herr und Frau Swann darin, mir die ungewöhnlichen Tugenden ihrer Tochter zu entdecken. Und alles, was ich beobachtete, schien ihre Worte zu bestätigen: ich bemerkte, daß sie, wie ihre Mutter mir erzählt hatte, nicht nur für ihre Freundinnen, sondern auch für die Dienstboten und für die Armen lange vorher überlegte zarte Aufmerksamkeiten hatte, großes Verlangen, zu erfreuen, Furcht, Unzufriedenheit zu erregen, und das verriet sich in Kleinigkeiten, bei denen sie sich oft sehr abquälte. Sie hatte für unsere Händlerin in den Champs-Élysées eine Handarbeit gemacht und ging im Schnee aus, um sie ihr selbst ohne einen Tag Aufschub zu bringen. »Sie machen sich keinen Begriff, was für ein gutes Herz sie hat, denn sie verbirgt es«, sagte ihr Vater. So jung sie war, machte sie einen viel verständigeren Eindruck als ihre Eltern. Wenn Swann von den großen Beziehungen seiner Frau redete, wandte Gilberte schweigend, aber ohne Ausdruck des Tadels, den Kopf ab; denn gegen ihren Vater schien ihr nicht die leiseste Kritik am Platze. Als ich einmal von Fräulein Vinteuil sprach, sagte sie:

      »Niemals werde ich sie kennen lernen aus einem einfachen Grund: sie war häßlich zu ihrem Vater, sagt man, sie machte ihm Kummer. So etwas können Sie so wenig begreifen wie ich, nicht wahr? Sie möchten doch Ihren Papa nicht überleben, ich meinen auch nicht. Wie könnte man jemals jemand vergessen, den man immer geliebt hat.« Und als sie einmal besonders zärtlich zu Swann war, und ich sie darauf aufmerksam machte, nachdem er fort war, da sagte sie: »Ja, der arme Papa. In diesen Tagen ist der Todestag seines Vaters. Sie können sich vorstellen, was er da durchmacht, Sie verstehen das, darin empfinden Sie wie ich. Ich gebe mir also Mühe, weniger ungezogen zu sein als gewöhnlich.« »Aber er findet Sie nicht ungezogen, er findet Sie vollkommen.« »Armer Papa, er ist eben zu gut.«

      Ihre Eltern beschränkten sich nicht darauf, die Tugenden Gilbertes vor mir zu loben – dieser Gilberte, die mir schon, bevor ich sie überhaupt gesehen, vor einer Kirche in einer Landschaft der Isle-de-France erschien, und dann, Anstoß nicht mehr der Träume, sondern des Erinnerns, immer für mich vor der Rotdornhecke auf dem Hügelweg stand, den ich einschlug, wenn ich nach Méséglise zu ging. – Als ich Frau Swann aus Neugier auf die Vorliebe eines Mädchens im schlecht gespielten, beiläufigen Ton eines Freundes des Hauses fragte, welche von ihren Kameraden Gilberte am liebsten habe, antwortete Frau Swann:

      »Aber Sie müssen doch tiefer in die Geheimnisse meiner Tochter eingeweiht sein, Sie, der große Günstling, der große Crack, wie die Engländer sagen.«

      Wenn sich bei einem so vollkommenen Zusammentreffen die Wirklichkeit dem anpaßt, was wir solange geträumt haben, verbirgt sie es uns ganz, vermischt sich mit ihm, wie zu zwei gleich großen übereinandergelegten Figuren, die nur noch eine bilden; wir aber möchten im Gegenteil das Besondere an unserer Freude betonen und allem Einzelnen, das wir ersehnen in dem Augenblick, da es erreicht ist, – um seiner Wirklichkeit sicherer zu sein – den Zauber seiner Unberührbarkeit wahren. Der Gedanke kann den alten Zustand nicht wiederherstellen; um ihn mit dem neuen zu konfrontieren, hat er nicht Spielraum mehr. Die Erfahrung, die wir gemacht haben, die Erinnerung an die ersten unerhofften Minuten, die Worte, die wir gehört, sind nun einmal da und versperren unserem Bewußtsein den Zutritt, sie beherrschen die Ausgänge unserer Erinnerung noch mehr als die unserer Einbildungskraft, sie wirken noch stärker auf unsere Vergangenheit zurück (die wir nicht mehr anzuschauen die Macht haben, ohne jene einzubeziehen) als auf die freibleibende Form unserer Zukunft. Jahrelang hatte ich glauben können: zu Frau Swann zu kommen, das sei ein wesenloses Hirngespinst, das sich mir nie verwirklichen würde; nachdem ich aber eine Viertelstunde bei ihr zugebracht hatte, war die Zeit, in der ich sie noch nicht kannte, zum Hirngespinst geworden und wesenlos wie eine Möglichkeit, welche durch die Verwirklichung einer anderen Möglichkeit zunichte gemacht wird. Wie hätte ich jetzt noch von dem Eßzimmer als von einer unfaßbaren Stätte träumen können, da doch in meinem Geiste sich nichts regen konnte, ohne den unablenkbaren Strahlen zu begegnen, die bis ins Unendliche zurück, bis in meine fernste Vergangenheit der Hummer à l'américaine entsandte, den ich gerade gegessen hatte. Und Swann mochte in seiner eigenen Erfahrung einen analogen Vorgang beobachtet haben: denn die Wohnung, in der er mich empfing, war anzusehen als die Stätte, in der sich zweierlei vermischte und zusammentraf: die ideale Wohnung, die meine Phantasie erzeugt hatte, und jene andere, welche Swanns eifersüchtige Liebe, ebenso erfinderisch wie meine Träume, ihm oft ausgemalt hatte, Odettes und seine gemeinsame Wohnung, die ihm als etwas so Unerreichbares erschienen war an jenem Abend, als Odette ihn und Forcheville mitgenommen hatte, eine Orangeade bei ihr zu trinken; das war nun aufgesogen von der Wirklichkeit, in der das Eßzimmer lag, in dem wir jetzt frühstückten; daß er in diesem unerhofften Paradies einmal zu seinem und Odettes gemeinsamen Butler sagen würde: »Ist die gnädige Frau fertig?«, das hatte er sich einst nicht ohne Herzklopfen vorstellen können; jetzt hörte ich ihn dieselben Worte in einer Mischung von leichter Ungeduld und befriedigter Eitelkeit aussprechen. Ebensowenig wie vermutlich Swann war ich imstande, mir mein Glück bewußt zu machen, und als einmal Gilberte selbst ausrief: »Wer hätte gedacht, das kleine Mädchen, das Sie Barlauf spielen sahen, ohne zu ihm zu sprechen, würde einmal Ihre große Freundin werden, zu der Sie alle Tage kommen, wenn Sie Lust haben!« – da sprach sie von einer Veränderung, die ich von außen her konstatieren mußte, innerlich aber nicht erlebte, denn sie trennte zwei Zustände, die ich nicht gleichzeitig denken konnte, ohne daß sie aufhörten, unterschieden zu sein.

      Und doch mochte diese Wohnung, die Swann so leidenschaftlich ersehnt hatte, für ihn einige Süße behalten, wenn ich auf ihn von mir schließen durfte, für den sie nicht alles Geheimnisvolle verloren hatte. Den besondern Schimmer, von dem ich lange Zeit hindurch das Leben der Swann umflossen glaubte, verdrängte ich nicht völlig aus ihrem Haus, als ich eindrang;


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