Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.
gar nicht, daß es unser eigenes Gefühl ist, was da zurückkehrt. Alle Stunden des ersten Januar schlugen, ohne daß Gilbertes Brief kam. Und da ich infolge der Postüberfüllung um Neujahr einige verspätete oder verzögerte Glückwünsche erst am dritten und vierten Januar bekam, hatte ich noch Hoffnung, wenn auch weniger und weniger. In den folgenden Tagen weinte ich viel. Ich war eben doch nicht so aufrichtig gewesen, wie ich glaubte, als ich auf Gilberte verzichtete, und hatte meine Hoffnung auf den Neujahrsbrief von ihr behalten. Da ich sie schwinden sah, bevor ich Zeit hatte, mit einer neuen mich zu versehen, litt ich wie ein Kranker, der seine Morphiumphiole geleert hat, ohne eine zweite zur Hand zu haben. Aber vielleicht hatte – und diese beiden Erklärungen schließen einander nicht aus, denn ein einzelnes Gefühl ist bisweilen aus entgegengesetzten entstanden – vielleicht hatte die Hoffnung auf einen Brief von Gilberte ihr Bild mir näher gebracht, die Erregungen wiedererweckt, die ehedem die Erwartung, bei ihr zu sein, ihr Anblick, ihre Art, mich zu behandeln, in mir wachriefen. Die unmittelbare Möglichkeit einer Versöhnung hatte den Zustand unterdrückt, von dessen Ungeheuerlichkeit wir uns keine Rechenschaft geben – die Resignation. Die Neurastheniker glauben denen nicht, die ihnen versichern, daß sie sich nach und nach beruhigen werden, wenn sie zu Bette bleiben, ohne Briefe zu empfangen und Zeitungen zu lesen. Sie bilden sich ein, dies Regime werde ihre Nervosität nur verschlimmern. Ebenso glauben die Liebenden, da sie ihn aus entgegengesetztem Zustand heraus betrachten und nie zu erproben begonnen haben, nicht an die wohltätige Macht des Verzichtes.
Wegen heftigen Herzklopfens ließ man mich weniger Kaffein nehmen, da hörte es auf. Und ich fragte mich, ob Kaffein nicht an dem Angstzustand mit schuld sei, den ich durchgemacht hatte, als ich mich mit Gilberte beinah entzweite. Bisher schrieb ich ihn, so oft er wiederkam, meinem Schmerz zu, Gilberte nicht mehr zu sehen oder mich der Gefahr aussetzen zu müssen, sie wieder in übler Laune zu finden. Wenn aber dies Medikament die Leiden mit veranlaßt hatte, die dann meine Phantasie falsch interpretierte (und das wäre nichts Außergewöhnliches, da trotz größter seelischer Qualen Liebende die gewohnte Körpernähe der Geliebten nicht entbehren können), so tat es das in der Art des Liebestranks, der noch lange, nachdem er getrunken, Tristan weiter an Isolde fesselte. Die physische Besserung, welche die Verminderung der Kaffeinration beinah unmittelbar bei mir bewirkte, hielt die Weiterentwicklung des Grames nicht auf, den das Einnehmen des Giftes, wenn nicht geschaffen, so doch verschärft hatte.
Allein, als die Mitte des Monats Januar näher kam, meine Hoffnungen auf den Neujahrsbrief enttäuscht und der ergänzende Schmerz, der diese Enttäuschung begleitete, erst einmal beruhigt war, da fing mein Kummer von vor dem Feste wieder an. Es machte ihn vielleicht noch quälender, daß ich selbst unbewußt und absichtlich, unbarmherzig und geduldig an ihm arbeitete. Das Einzige, daran ich hing, meine Beziehungen zu Gilberte –, ich selbst mühte mich ab, sie unmöglich zu machen, und schuf nach und nach durch die verlängerte Trennung von meiner Freundin zwar nicht ihre Gleichgültigkeit, aber, was schließlich auf dasselbe hinauskommen mußte, meine eigene. Das war ein langer, grausamer Selbstmord des Ich in mir, das Gilberte liebte; eifrig arbeitete ich an ihm mit Beharrlichkeit und hellsichtigem Blick nicht nur für das, was ich jetzt tat, auch für das, was in Zukunft daraus entstehen würde; ich wußte, in absehbarer Zeit würde ich Gilberte nicht mehr lieben, aber dann würde es ihr leid tun und sie dürfte Versuche machen, mich zu sehen, und die wären dann ebenso erfolglos wie die jetzigen, nicht weil ich sie zu sehr, sondern weil ich dann sicher eine andere Frau lieben werde und mir von den Stunden, in denen ich diese begehrte und erwartete, kein Teilchen abzusondern bliebe für Gilberte, die mir dann nichts mehr wäre. Und jetzt, da ich entschlossen war, sie nicht mehr zu sehen, es sei denn, daß sie mich ausdrücklich um eine Auseinandersetzung bäte und mir eine vollständige Liebeserklärung machte, worauf doch nicht zu rechnen war, – jetzt, da ich Gilberte schon verloren hatte und mehr liebte, mehr fühlte, was sie mir alles war, als im vorigen Jahre, in dem ich alle meine Nachmittage nach Belieben mit ihr verbrachte und meinte, nichts bedrohe unsere Freundschaft, – jetzt war mir der Gedanke, ich werde eines Tages dieselben Gefühle für eine andere hegen, tief verhaßt, denn dieser Gedanke entriß mir außer Gilberte auch noch meine Liebe und mein Leid. Meine Liebe, mein Leid, die mich weinend versuchen ließen, genau zu erfassen, was an Gilberte war; und diese Gefühle gehörten doch, wie ich mir eingestehen mußte, nicht ihr speziell an und sollten früher oder später der oder jener anderen Frau zufallen. So ist man denn – das dachte ich wenigstens damals – immer abgetrennt von den anderen Wesen; wenn man liebt, fühlt man, daß diese Liebe nicht den Namen dieser Wesen trägt, in Zukunft neu entstehen kann und auch in der Vergangenheit für eine andere und nicht gerade für diese da hätte entstehen können. Und wenn man in Zeiten, in denen man nicht liebt, philosophisch seinen Nutzen zieht aus dem widerspruchsvollen Wesen der Liebe, so hat man eben die Liebe, von der man leichthin redet, nicht erlebt, man kennt sie nicht, die Erkenntnis auf diesem Gebiet ist intermittierend und überlebt die tatsächliche Gegenwart des Gefühls nicht. Von dieser Zukunft, in der ich sie nicht mehr lieben würde (mein Schmerz half mir sie zu erraten, wenn sie meine Phantasie auch noch nicht deutlich vorstellen konnte), hätte ich Gilberte noch warnen können, es wäre noch Zeit gewesen, ihr zu sagen, daß diese Zukunft sich nach und nach gestalten würde und, wo nicht dicht bevorstehend, so doch unvermeidlich sei, wenn nicht sie selbst, Gilberte, mir zu Hilfe käme und meine künftige Gleichgültigkeit im Keim erstickte. Wie oft war ich nicht drauf und dran, Gilberte zu schreiben oder hinzugehen und ihr zu sagen: ›Hüten Sie sich, mein Entschluß ist gefaßt: Der Schritt, den ich tue, ist mein letzter Schritt. Ich sehe Sie zum letztenmal. Bald werde ich Sie nicht mehr lieben.‹ Wozu? Mit welchem Rechte hätte ich Gilberte eine Gleichgültigkeit vorgeworfen, die ich selbst, ohne mich deshalb schuldig zu fühlen, für alles bekundete, was nicht Gilberte war? Das letztemal! Mir schien das etwas Ungeheures, weil ich Gilberte liebte. Ihr hätte es ohne Zweifel nur soviel Eindruck gemacht wie die Briefe, in denen Freunde bitten, uns einen letzten Besuch machen zu dürfen, ehe sie außer Landes gehen, einen Besuch, den wir ihnen, wie lästigen Frauen, die uns lieben, abschlagen, weil wir Vergnügungen vorhaben. Die Zeit, über die wir jeden Tag verfügen, ist elastisch; die Leidenschaften, die wir fühlen, dehnen sie aus, die, welche wir einflößen, ziehen sie zusammen, und die Gewohnheit gleicht aus.
Ich hätte gut reden gehabt zu Gilberte, sie hätte mich nicht verstanden. Wir bilden uns, wenn wir sprechen, immer ein, daß unsere Ohren, unser Geist hören. Meine Worte wären abgelenkt zu Gilberte gekommen, als hätten sie auf dem Wege zu meiner Freundin den bewegten Schleier eines Kataraktes durchqueren müssen, unkenntlich wären sie gewesen, hätten lächerlich geklungen und gar keinen Sinn mehr gehabt. Die Wahrheit, die man in Worte legt, bahnt sich ihren Weg nicht direkt, ist nicht begabt mit unwiderstehlicher Evidenz. Es muß geraume Zeit vergehen, ehe sich eine Wahrheit gleicher Ordnung in ihnen bilden kann, Dann wird der politische Gegner, der trotz aller Erörterungen und Beweise den Anhänger der von ihm bekämpften Doktrin für einen Verräter hielt, selbst die verabscheute Überzeugung teilen, der jetzt jener, der sie erfolglos zu verbreiten versuchte, nicht mehr anhängt. Das Meisterwerk, das den Bewunderern, die es vorlasen, selbst die Beweise seiner Vorzüglichkeit zu geben schien und den Zuhörern nur ein wirres oder unbedeutendes Bild gab, wird von diesen als Meisterwerk verkündet werden, zu spät für den Urheber, der es nicht mehr erfährt. Ebenso können in der Liebe die Schranken trotz aller Mühe nicht von außen her und nicht von dem durchbrochen werden, den sie zur Verzweiflung bringen; wenn er sich nicht mehr um sie kümmert, werden diese vordem vergeblich angegriffenen Schranken plötzlich durch einen Vorgang im Innern derer, die nicht liebte, ohne Nutzen fallen. Hätte ich Gilberte meine zukünftige Gleichgültigkeit und das Mittel, sie zu verhüten, angekündigt, sie hätte aus diesem Schritt gefolgert, daß meine Liebe zu ihr, mein Bedürfnis nach ihr noch größer seien, als sie geglaubt, und dadurch wäre ihr Überdruß, mich zu sehen, gewachsen. Sie konnte ja doch auch nicht so gut wie ich, den die Liebe durch eine Reihe gegensätzlicher Geisteszustände führte und ihm dadurch die Zukunft ahnen half, das Ende eben dieser Liebe vorhersehen. Gleichwohl hätte ich die Warnung schriftlich oder mündlich an Gilberte gerichtet, wenn Zeit genug vergangen gewesen wäre, und sie mir so zunächst wohl weniger unentbehrlich gemacht, aber ihr doch auch gezeigt, daß sie mir nicht unentbehrlich war. Unglücklicherweise sprachen ihr gewisse Leute aus guter oder schlechter Absicht von mir in einer Weise, daß sie glauben mußte, es geschähe auf meine Bitte. Jedesmal, wenn ich erfuhr, daß Cottard, meine eigene Mutter oder gar Herr von Norpois durch ungeschickte Worte mein ganzes