Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.
hatte in seinem Zimmer – statt der schönen Photographien, die man jetzt von seiner Frau machte und auf denen man an demselben rätselhaften Siegerausdruck, gleichviel in welchem Kleid und Hut, die stolze Silhouette und das triumphierende Gesicht erkannte – eine kleine Daguerréotypie, primitiv altertümlich, aus der Zeit vor dem neuen Typus, in der noch nichts von Odettes inzwischen gefundener Jugend und Schönheit war. Doch sei es, daß er einer ganz anderen Auffassung treu geblieben oder auf sie zurückgekommen war. Swann genoß ohne Zweifel in dieser jungen, hageren Frau mit den nachdenklichen Augen, den matten Zügen, der zwischen Bewegung und Starrheit hangenden Haltung eine eher botticellihafte Anmut. In der Tat liebte er es immer noch, in seiner Frau einen Botticelli zu sehen. Odette aber suchte, statt es hervorzuheben, den Ausgleich und sie verbarg, was dem Künstler vielleicht ihr »Charakter« war, jedoch ihr selbst nicht gefiel und für eine Frau fehlerhaft vorkam; sie wollte nichts von diesem Maler wissen. Swann besaß eine wunderbare blau-rosa orientalische Schärpe, die er gekauft hatte, weil sie genau die der Jungfrau im Magnificat war. Die wollte Frau Swann nicht tragen. Nur einmal ließ sie sich von ihrem Mann eine Robe, ganz übersät mit Maßliebchen, Kornblumen, Vergißmeinnicht und Glockenblumen bestellen, und zwar nach der Primavera. Manchmal abends, wenn sie müde war, machte er mich leise darauf aufmerksam, wie sie nichtsahnend ihren nachdenklichen Händen die gelöste, etwas gequälte Bewegung der Jungfrau gab, welche die Feder in das Tintenfaß taucht, das ihr der Engel reicht, und im Begriff ist, ins heilige Buch zu schreiben, in dem das Wort Magnificat schon eingezeichnet steht. Dann fügte er immer hinzu: »Sagen Sie es ihr nur nicht; wenn sie es wüßte, würde sie es sofort anders machen.«
Außer in solchen Momenten unwillkürlichen Nachgebens, in denen Swann den melancholischen Botticellirhythmus wiederzufinden suchte, zeichnete jetzt Odettes Körper eine einzige Silhouette, die ganz von einer Linie umrissen war; die hatte, um nur der natürlichen Kontur zu folgen, den unebenen Weg, die künstlichen Einbuchtungen und Vorsprünge, das Zickzack und Durcheinander früherer Moden aufgegeben, die immerhin da, wo die Anatomie sich in irrige unnütze Umwege diesseits und jenseits des idealen Umrisses verlor, mit einem kühnen Zug die Verstöße der Natur zu berichtigen und Schwächen des Fleisches und der Stoffe auf eine gute Strecke auszugleichen verstanden. Die eingelegten Kissen, der »Strapontin« der abscheulichen »Tournure« waren verschwunden ebenso wie die Miederschöße, die über den Rock vorsprangen und, von Fischbein gesteift, so lange Zeit Odette einen falschen Bauch vorgelagert, ihr das Ansehen gegeben hatten, sie sei aus verschiedenartigen Stücken zusammengesetzt, die keine Individualität verband. Die Senkrechte der Fransen und die Kurve der Rüschen hatten der Biegung eines Körpers Platz gemacht, der Seide wogen ließ, wie die Sirene die Welle schlägt, und dem Perkai menschlichen Ausdruck verlieh, jetzt, da er sich, eine organisch lebendige Form, von langem Chaos und der Nebelhülle entthronter Moden befreit hatte. Von einigen dieser Moden aber wünschte und verstand Frau Swann eine Spur zu bewahren mitten unter den neuen, die sie ersetzten. Ging ich des Abends, wenn ich nicht arbeiten konnte und mich versichert hatte, daß Gilberte mit Freundinnen im Theater war, auf gut Glück zu ihren Eltern, so fand ich oft Frau Swann in einem eleganten Deshabillé, dessen Rock – mit seinen schönen düstern, dunkelroten oder orangenen Tönen, die, weil sie aus der Mode waren, auf Besonderes hinzudeuten schienen – schräg überquert war von einer durchbrochenen, breiten Rampe schwarzer Spitze, die an Volants von früher gemahnte. Wenn sie mich an einem Frühlingstage, da es noch kalt war, in der Zeit vor meinem Zwist mit ihrer Tochter, in den Jardin d' Acclimatation mitgenommen hatte, sah unter ihrem Jakett, das sie beim Gehen ein wenig offen trug, der gezahnte »Dépassant« ihres Chemisetts wie der undeutlich sichtbare Aufschlag einer – nicht vorhandenen – Weste aus, wie sie sie noch vor einigen Jahren getragen (sie hatte leicht gezahnten Rand daran geliebt); und ihre Krawatte – es war das »Schottisch«, dem sie treu geblieben, dessen Töne sie aber etwas milderte (das Rot in Rosa, das Blau in Lila), so daß sie fast wirkten wie gewisse taubengraue Tafte der letzten Saison – hatte sie so unter dem Kinn geschlungen, daß man nicht sehen konnte, wo sie befestigt war, und unwillkürlich an die großen Hutbänder denken mußte, welche man nicht mehr trug. Wenn sie nur noch ein wenig »durchhalten« konnte, würden die jungen Leute, die ihre Toiletten zu verstehen trachteten, sagen: »Nicht wahr, Frau Swann, das ist eine ganze Epoche?« Wie in einem schönen Stil, der verschiedene, durch heimliche Tradition gefestigte Formen übereinanderlagert, ließen in der Toilette von Frau Swann unbestimmte Erinnerungen an Westchen, Schnallen, manchmal sogar die ferne Anspielung an ein »saute en barque« oder ein »suivez-moi jeune homme«, unter konkreter Form die fragmentarische Ähnlichkeit mit anderen früheren geistern, die man nicht von Schneiderin und Modistin tatsächlich verfertigt fand, an die man aber unablässig dennoch denken mußte. Daher war um Frau Swann eine Vornehmheit – vielleicht, weil das Nutzlose dieses Staates einem mehr als nur utilitarischen Zweck zu entsprechen schien; lag das nun an der bewahrten Spur vergangener Jahre oder an einer besonderen, kleidgewordenen Individualität dieser Frau, die ihren verschiedensten Trachten eine Familienähnlichkeit verlieh? Man fühlte, sie zog sich nicht nur für die Bequemlichkeit und den Schmuck ihres Körpers an; sie war von ihrer Kleidung umgeben wie von dem zart vergeistigten Gepränge einer Zivilisation.
Wenn Gilberte, die ihre Tees zwar gewöhnlich am Empfangstage ihrer Mutter gab, einmal sicher abwesend war und ich zum Jour von Frau Swann gehen konnte, fand ich sie in einer schönen Robe aus Taft oder Faille, Samt oder Crêpe de Chine, Satin oder Seide, aber nicht leicht anliegend wie die Déshabillés, die sie gewöhnlich zu Hause trug, sondern angetan wie zum Ausgehen, wodurch an solchen Nachmittagen ihre Muße munter und bewegt geriet. Der kühne einfache Zuschnitt war ihrem Wuchs und ihren Bewegungen angepaßt, deren mit den Tagen wechselnde Farbe in den Ärmeln zu wohnen schien: im blauen Samt lag plötzliche Entschiedenheit, im weißen Taft leichte Laune; und eine letzte distinguierte Zurückhaltung in der Art, den Arm auszustrecken, kleidete sich, um sichtbar zu werden, in schwarzen Crêpe de Chine, der wie das Lächeln großer Opfer glänzte. Zugleich aber fügte diesen lebhaften Roben die Häufung der ›Garnituren‹ ohne praktischen Nutzen, ohne sichtbaren Sinn, etwas Uneigennütziges, Nachdenkliches, Verstecktes hinzu, das zu der Melancholie stimmte, die Frau Swann zumindest immer in den Schatten um die Augen und in den Fingergliedern behielt. Unter dem Überfluß der Glücksreifen aus Saphir, der vierblätterigen Kleeblätter aus Email, der silbernen Medaillen, goldenen Medaillons, Amulette aus Türkis, Ketten aus Rubin und Topaskügelchen, gab es in dem Kleide selbst hier und da ein farbiges Dessin, das auf einem Einsatzstück seine frühere Existenz fortführte, eine Reihe kleiner Satinknöpfe, die nichts knöpften und nicht aufgeknöpft werden konnten, eine Litze, die mit der diskreten Genauigkeit einer zarten Aufforderung zu erfreuen suchte, und das alles sah, wie auch die Juwelen, so aus – sonst hätte es ja keine Rechtfertigung gehabt –, als habe es Absichten zu verraten, Neigungen zu verbürgen, Bekenntnisse zurückzuhalten, einem Aberglauben zu entsprechen, Erinnerung an eine Heilung, ein Gelübde, eine Liebe oder Vielliebchenwette zu bewahren. Und bisweilen gab im blauen Samt der Ansatz zu einem Henri II-Schlitz, eine leichte Bauschung der Ärmel nahe den Schultern, die an die ›Hammelkeulen‹ von 1830, oder unter dem Rock, die an die Louis-XV-paniers erinnerte, dem Kleid den leisen Anschein eines ›Kostüms‹, unterlegte dem gegenwärtigen Leben eine ununterscheidbare Reminiszenz an Vergangenes und vermischte mit der Persönlichkeit von Frau Swann den Reiz historischer Heldinnen oder Romanfiguren. Wenn ich auf Sport zu sprechen kam, sagte sie: »Ich spiele nicht Golf, wie mehrere meiner Freundinnen. Ich hätte keine Entschuldigung wie sie, im Sweater zu sein.«
Hatte sie gerade einen Besuch hinausbegleitet oder eine Kuchenschüssel ergriffen, um einem andern sie anzubieten, nahm mich Frau Swann im Vorübergehen mitten im allgemeinen Treiben eine Sekunde beiseite und sagte: »Ich bin eigens von Gilberte beauftragt, Sie für übermorgen zum Frühstück zu bitten. Da ich nicht sicher war, Sie heute zu sehen, wollte ich Ihnen schon schreiben.« Ich setzte meinen Widerstand fort. Und er kostete mich weniger und weniger Mühe; denn so sehr wir das Gift, das uns wehtut, lieben, – hat es uns seit geraumer Zeit ein Zwang entzogen, so können wir uns nicht enthalten, der Ruhe, die wir schon nicht mehr kannten, der Abwesenheit von Aufregung und Leid einigen Wert beizumessen. Ist man nicht ganz aufrichtig, wenn man sagt, man wolle die nie wiedersehen, die man liebt, so ist man's wohl auch nicht, wenn man sagt, man wolle sie wiedersehen. Allerdings kann man ihre Abwesenheit nur ertragen, indem man auf die Kürze ihrer Dauer rechnet und an den Tag des Wiederfindens denkt, andererseits aber sind uns