Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.
daß wir die Geliebte wiedersehen sollen, in wenig angenehme Erregung versetzen. Was man jetzt tagtäglich hinausschiebt, ist nicht der Abschluß der unerträglichen Bangigkeit, an der die Trennung schuld ist, sondern der gefürchtete Wiederbeginn der Aufregungen ohne allen Ausweg. Wie sehr zieht man doch einer solchen Zusammenkunft den Zustand gefügiger Erinnerung vor, die man nach Belieben durch Träumereien ergänzen kann, in denen sie, die uns in Wirklichkeit nicht liebt, wenn wir ganz allein sind, uns Liebeserklärungen macht; ja diese Erinnerung, die man schließlich durch allmähliches Beimischen von viel Ersehntem beliebig süß machen kann, zieht man der aufgeschobenen Zwiesprach vor, bei der man es mit einem Wesen zu tun bekäme, dem man nicht mehr beliebig die ersehnten Worte diktieren, von dem man vielmehr neue Kälte, unerwartete Heftigkeit stoßen könnte. Wir alle wissen, wenn wir nicht mehr lieben, daß Vergessen und selbst leises Erinnern nicht so viel Leid verursachen als unglückliche Liebe. Die ruhevolle Süße eines solchen vorweggenommenen Vergessens zog ich, ohne mir das einzugestehen, anderen Möglichkeiten vor.
Übrigens wird das Peinliche einer solchen Kur physischer Loslösung und Isolierung aus einem andern Grunde immer geringer: diese Kur schwächt, bevor sie von ihr heilt, die fixe Idee, die man Liebe nennt. Meine Liebe war noch so stark, daß ich Wert darauf legte, mein ganzes Ansehen in Gilbertes Augen wiederzuerobern; das mußte nach meiner Meinung durch freiwillige Trennung fortschreitend wachsen, und jeder der stillen, traurigen Tage, in denen ich sie nicht sah, war, wie sie so, einer nach dem andern, kamen, ohne Unterbrechung, ohne Verjährung (es sei denn, daß ein Störenfried sich einmischte) kein verlorener, vielmehr ein gewonnener Tag. Nutzlos gewonnen vielleicht, denn bald würde ich geheilt erklärt werden können. Resignation ist eine Abart der Gewohnheit, die gewissen Kräften erlaubt, ins Unendliche zu wachsen. Und die meinen, so schwach sie an jenem ersten Abend meines Zwistes mit Gilberte im Ertragen des Kummers waren, hatten seither unberechenbare Stärke erreicht. Allein die Tendenz alles Bestehenden, fortzubestehen, wird bisweilen durch plötzliche Impulse unterbrochen, denen wir um so skrupelloser uns überlassen, als wir ja wissen, wieviel Tage, Monate wir entbehren konnten und es noch können werden. Oft, wenn die Börse unserer Ersparnisse beinah voll ist, leert man sie mit einemmal; oft, wenn man sich schon an eine Kur gewöhnt hat, unterbricht man sie, ohne ihr Resultat abzuwarten. Als mir Frau Swann eines Tages wieder die üblichen Worte sagte, wie sehr sich Gilberte freuen würde, mich zu sehen, und mir das Glück, dessen ich mich schon seit langer Zeit beraubte, in Reichweite hielt, überwältigte mich die Vorstellung, noch sei es möglich, dies Glück zu genießen; ich konnte kaum den nächsten Tag erwarten; ich war entschlossen, Gilberte vor dem Essen zu überraschen.
Was mir half, mich einen ganzen Tag zu gedulden, war ein Plan. Von dem Augenblick an, da alles vergessen, da ich mit Gilberte ausgesöhnt war, wollte ich sie nur noch als Liebhaber sehen. Alle Tage sollte sie von mir die schönsten Blumen erhalten, die es gab. Untersagte mir Frau Swann, obwohl sie nicht das Recht hatte, allzu streng als Mutter zu sein, die täglichen Blumensendungen, so würde ich kostbarere und seltenere Geschenke ausfindig machen. Meine Eltern gaben mir nicht genug Geld, um teure Dinge zu kaufen. Da fiel mir ein großes Gefäß aus altchinesischem Porzellan ein, das ich von der Tante Léonie hatte. Täglich prophezeite meine Mutter, Françoise werde kommen und verkünden: ›Das Ding ist aus dem Leim gegangen‹, und es werde nichts davon übrig bleiben. War es unter diesen Umständen nicht vernünftiger, es zu verkaufen, um damit alle Freuden zu erkaufen, die ich Gilberte machen wollte? Mir schien, ich könne wohl dreitausend Franken dafür bekommen. Ich ließ es einwickeln. Tägliche Gewohnheit hatte mich gehindert, das Gefäß jemals anzusehen; mich davon trennen gab zum mindesten den Vorteil, daß ich seine Bekanntschaft machte. Ich nahm es mit auf meinen Weg zu den Swann, gab dem Kutscher ihre Adresse und ließ ihn durch die Champs-Élysées an der Ecke vorbeifahren, wo der Laden eines großen Chinahändlers lag, den mein Vater kannte. Zu meiner Verwunderung bot er mir für das Gefäß nicht tausend, sondern sofort zehntausend Franken. Entzückt nahm ich die Scheine: nun konnte ich ein ganzes Jahr Gilberte täglich mit Rosen und Flieder überhäufen. Als ich wieder eingestiegen war, fuhr der Kutscher, statt der gewohnten Strecke, da die Swann in der Nähe des Bois wohnten, die Avenue des Champs-Élysées hinunter. Er hatte schon die Ecke der rue de Berri passiert, da glaubte ich in der Dämmerung, ganz nah bei dem Hause der Swann, doch in entgegengesetzter Richtung sich entfernend, Gilberte zu erkennen. Sie ging langsam, aber munter schreitend, neben einem jungen Mann, mit dem sie plauderte und dessen Gesicht ich nicht unterscheiden konnte. Ich erhob mich im Wagen und wollte halten lassen, dann zauderte ich. Die Spaziergänger waren schon ein Stück entfernt. Die beiden zarten Parallelen, die ihr langsamer Gang zeichnete, verwischten sich schon im Elyseischen Dunkel. Bald kam ich vor Gilbertes Haus. Ich wurde von Frau Swann empfangen. »Oh, sie wird trostlos sein,« sagte die, »ich weiß nicht, wie es kommt, daß sie nicht da ist. Ihr war vorhin bei einem Kursus so heiß geworden. Sie hat mir gesagt, sie wolle noch ein wenig mit einer ihrer Freundinnen Luft schöpfen gehen.« »Ich glaube, ich habe sie auf der Avenue des Champs-Élysées bemerkt.« »Ich kann mir nicht denken, daß sie es war. Auf alle Fälle sagen Sie es nicht ihrem Vater, er sieht es nicht gern, daß sie zu so später Stunde ausgeht. Good evening.« Ich ging fort, ließ den Kutscher denselben Weg zurück nehmen, fand aber die beiden Spaziergänger nicht mehr. Wo waren sie gewesen? Was hatten sie sich des Abends so Vertrauliches zu sagen?
Ich kam verzweifelt nach Hause mit meinen zehntausend Franken, die es mir ermöglichen sollten, Gilberte lauter kleine Freuden zu machen, dieser Gilberte, die ich jetzt bestimmt nicht mehr wiedersehen wollte. Der Aufenthalt bei dem Chinahändler hatte mir wohlgetan: er machte mir die Hoffnung, daß ich meine Freundin nie anders als mit mir zufrieden und voll Dankbarkeit gegen mich sehen werde. Aber wäre dieser Aufenthalt nicht gewesen, wäre der Wagen nicht durch die Champs-Élysées gefahren, so hätte ich Gilberte und jenen jungen Mann nicht getroffen. So trägt ein und dieselbe Tatsache auseinanderstrebende Zweige, das Unglück, das sie erzeugt, macht das Glück, das sie verursacht hat, zunichte. Mir war das Gegenteil von dem geschehen, was sich so häufig zuträgt: man begehrt eine Freude, und das materielle Mittel fehlt, sie sich zu verschaffen. »Es ist traurig,« sagt Labruyère, »ohne ein großes Vermögen zu lieben.« Dann bleibt einem nichts übrig, als zu versuchen, die Begierde nach der Freude nach und nach abzutun. Ich hingegen hatte das materielle Mittel gewonnen, zugleich aber war mir, wenn nicht durch eine logische Folge, so doch immerhin durch eine zufällige Konsequenz des ersten Gelingens, die Freude abhanden gekommen. Es scheint, nebenbei gesagt, daß sie das immer tut. Gewöhnlich allerdings nicht gerade an demselben Abend, an welchem wir erworben haben, was sie möglich macht. Meistens fahren wir noch eine Weile fort, uns zu bemühen und zu hoffen. Aber das Glück kann nie zustande kommen. Sind die hindernden Umstände überwunden, so überträgt Natur den Kampf von außen nach innen und läßt unser Herz sich allmählich hinreichend ändern, um es anderes begehren zu lassen, als was es besitzen soll. Und wenn der Umschwung so rasch war, daß unser Herz nicht Zeit hatte, sich zu ändern, verzweifelt die Natur noch nicht, uns zu besiegen, wenn schon in einer langsameren, einer subtileren, doch nicht minder wirksamen Art. Dann wird uns in der letzten Sekunde der Besitz des Glückes entrissen, oder besser noch, diesem Besitze selbst wird in teuflischer List von der Natur auferlegt, das Glück zu zerstören. Ist ihr alles entgangen, was im Bereich der Tatsachen und des Lebens lag, so schafft die Natur ein letztes Glückshindernis, die psychologische Unmöglichkeit. Das Phänomen des Glückes vollzieht sich nicht oder gibt bittersten Rückwirkungen Raum.
Ich verschloß die zehntausend Franken. Aber sie dienten mir zu nichts mehr. Ich gab sie übrigens noch schneller aus, als wenn ich Gilberte jedem Tag Blumen geschickt hätte, denn wenn es Abend wurde, war ich so unglücklich, daß ich nicht zu Hause bleiben konnte und weinen ging in den Armen von Frauen, die ich nicht liebte. Gilberte irgend eine Freude zu bereiten, wünschte ich jetzt nicht mehr; jetzt in ihr Haus zurückzukehren, hätte mir nur wehgetan. Ja sogar Gilberte wiederzusehen, was mir noch tags vorher so köstlich gewesen wäre, hätte mir jetzt nicht mehr genügt. Ich wäre die ganze Zeit, die ich nicht bei ihr zugebracht hätte, in Unruhe gewesen. So kommt es, daß eine Frau durch jedes neue Leid, das sie uns antut, oft ohne es zu wissen, ihre Macht über uns, aber auch unsere Forderungen an sie vermehrt. Durch den Schmerz, den sie uns zufügt, umgarnt uns die Frau mehr und mehr, verdoppelt unsere Ketten, doch auch die, mit denen wir sie bis dahin fesseln zu können glaubten, so daß wir uns ruhig fühlten. Am Tage vorher hätte ich mich noch, wenn ich nicht zu fürchten brauchte, Gilberte