Island. Marie KrugerЧитать онлайн книгу.
im Alltag zum Beispiel im Fremdsprachenunterricht in der Schule, bei Auswanderungswellen und Essgewohnheiten genauso wie im Stadtbild Reykjavíks.
Mit Velkominn heim! – »Willkommen zu Hause!« werden am Flughafen in Keflavík Isländer oder all jene begrüßt, die Isländisch verstehen. Ich habe diesen Satz schon aus dem Mund der Frau am Bankschalter vernommen, aber auch von einem Zollbeamten gehört. Zudem prangt er auf einem Plakat, an dem man auf dem Weg zum Gepäckband vorbeikommt, und an der Parkplatzausfahrt. Es genügt offenbar, dass ich isländisch spreche, um »zu Hause« willkommen geheißen zu werden, denn sowohl der Bankangestellten als auch dem Zollbeamten musste klar sein, dass ich keine gebürtige Isländerin bin. Als Schachlegende Bobby Fischer 2005 die isländische Staatsbürgerschaft annahm und aus Japan, wo ihm die Abschiebung in die USA drohte, nach Island kam, wurde seine Ankunft live im isländischen Fernsehen übertragen – unter der Überschrift: »Velkominn heim!« Was aber macht einen Isländer neben Staatsbürgerschaft und Sprachkenntnissen zu einem Isländer? Die Wertvorstellungen und identitätsstiftenden Momente stehen im Mittelpunkt des zweiten Kapitels, wo es unter anderem um den Umgang der Isländer mit »ihren« Texten, Natur und Technik, aber auch Freiheit, Geld und Besitz geht. Inwieweit Haifisch, Trachten, Sagas, Milchtüten, Pferde, die Jagd, Schwimmbäder, der Präsident, britische Trawler, Autofahren, Leuchttürme und Kredite ein Heimatgefühl stiften, wird hier erzählt.
Der rote Faden im dritten Kapitel ist die Genealogie. Mit »Wessen Tochter bist du?« bzw. »Wessen Sohn bist du?« fragt man auf Isländisch nach dem Nachnamen und landet schnell bei den urisländischen Themen »Abstammung« und »verwandtschaftliche Verhältnisse«. Schon die ältesten überlieferten Texte handeln davon und somit von den Menschen. Im dritten Kapitel geht es also um »die Isländer«, ihre Namen, ihre Helden, die Frauen sowie ihre Einstellungen zu Verwandtschaft, Familie, Privatsphäre und Tod.
Auch wenn Isländisch und Deutsch derselben Sprachfamilie angehören, sind die Möglichkeiten zur Übersetzung hin und wieder begrenzt. Ich versuche mein Bestes, die spezifischen Bezeichnungen entweder zu übertragen oder zu erklären, glaube aber auch, dass man manchmal dem isländischen Wort ansehen kann, was es meint. Deshalb wird es ab und zu isländische Bezeichnungen geben, wobei es zu Abweichungen zwischen beiden Sprachen kommen kann, was den Artikel angeht. So ist Buch auf Isländisch weiblich und Gemeinde sächlich, weshalb es im Folgenden die Landnámabók und das Ásatrúarfélag heißt.
Das Nachwort ist der Versuch einer Bestandsaufnahme im Jahr 2020. Es baut, wie alle anderen Kapitel auch, auf persönlichen Eindrücken, Interpretationen und Erfahrungen auf und erhebt nicht den Anspruch, allgemeingültig zu sein. In Wirklichkeit gibt es so viele Islandporträts, wie es Islandbesucher gibt. Außerdem liegt es in der Natur der Sache, dass nie alles erzählt werden kann, denn Island ist ja ein Hot Spot an Überraschungen.
Zwischen den Kontinenten
Europäische Pioniere unter amerikanischem Schutz
Geografisch ist Island ein sehr junges Land, das sich fortlaufend verändert und neu entsteht. Als vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier von der Erde verschwanden, gab es Island noch nicht. Wo nordamerikanische und eurasische Platte auseinanderdriften, gibt es einen sogenannten Mantel-Plume – einen ständigen Strom magmatischen Materials, das hin und wieder als Lava die Erdoberfläche erreicht. Der jüngste Teil Islands ist die Insel Surtsey, die südwestlich des Festlandes liegt und 1963 vor den Augen der Weltöffentlichkeit entstand. Sie ist heute Sperrgebiet und nur für Forscher geöffnet. Im Grunde ist der Alltag in Island also ein permanenter Tanz auf dem Vulkan. Dessen sind sich alle bewusst und entsprechend ruhig laufen die Reaktionen bei Vulkanausbrüchen ab. Als sich 1973 eines Nachts mitten auf der dicht besiedelten Hauptinsel der Westmännerinseln eine Erdspalte öffnet und Lavafontänen in die Luft schießen, verlassen etwa 4000 Menschen ruhig und geordnet ihre Heimat, ohne zu wissen, ob und wann sie zurückkehren würden. Ähnlich gelassen sind die Reaktionen, als zu Beginn des Jahres 2010 der Vulkan unter dem Eyjafjalla-Gletscher ausbricht und zumindest die Bauernhöfe an seinem Fuße bedroht. In zahlreichen Fernsehinterviews schildern die Anwohner, dass sie vorerst bleiben wollten, schließlich könne ein Ausbruch genauso plötzlich enden, wie er begonnen habe.
Diese Abgeklärtheit in Hinblick auf natürliche Gegebenheiten wird sich schon bei den allerersten Siedlern gefunden haben, die in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts von Nordeuropa aus die Reise wagten, um auf einem Flecken Land zu siedeln, der ihnen auf den ersten Blick sehr unwirtlich erschienen sein muss. Im Angesicht der Gletscher war dann auch die Namensgebung naheliegend: Eisland – Island. Dies in Kauf zu nehmen und nicht zu wissen, ob und wie Ackerbau, Viehzucht und Jagd glücken könnten, zeugt von einem stoischen Optimismus und gewissen Leichtsinn – Eigenschaften, die auch die Investmentbanker an den Tag gelegt haben, die 2008 entscheidend zum Zusammenbruch der Isländischen Krone beigetragen haben.
Entgegen der etablierten Meinung, die Besiedlung Islands sei hauptsächlich von Norwegen aus geschehen, zeigen neueste genetische Untersuchungen, dass ein Großteil der Siedler von den keltischen Orkneys, Hebriden und Shetlandinseln gekommen sein muss. Mitten in Reykjavík findet sich eine interessante Ausstellung, die die Besiedlung Islands mithilfe eines an Ort und Stelle gefundenen Siedlungsrests erklärt und greifbar macht. Die Isländer können bei der Suche nach ihrem Ursprung nicht auf Völkerwanderung und Stammesgeschichte zurückblicken. Umso bemühter sind sie, ihr Jahr null zu finden, das lange bei ungefähr 874 vermutet wurde – einer Zeit also, zu der das lateinische Alphabet kaum etabliert war. Die Zeitangabe stammt aus der Landnámabók (»Buch von der Landnahme«), einer schriftlichen Quelle aus dem 13. Jahrhundert, und muss kritisch bewertet werden. Deshalb trägt die Ausstellung auch den Titel Reykjavík 871 ± 2, denn die gefundenen Siedlungsreste stammen aus dem Zeitraum zwischen 869 und 873, was wiederum nicht bedeutet, dass nicht schon vor 869 in Island gesiedelt wurde.
Archäologische Funde und deren Untersuchung wiegen bei der Suche nach dem Ursprung heute schwerer als das Vertrauen auf die schriftliche Überlieferung, die für Island enorm identitätsstiftend gewirkt hat. Aus keinem anderen europäischen Land sind so viele mittelalterliche Quellen – noch dazu in der eigenen Sprache – überliefert. Deshalb treffen in Reykjavík 871 ± 2 drei Komponenten aufeinander, die für das Selbstverständnis der Isländer entscheidend sind: Abstammung, mittelalterliche Schriftkultur und Vertrauen in technologische Entwicklungen.
Warum die ersten Siedler ihre Heimat verlassen haben, wird nach wie vor viel diskutiert. Fest steht, dass sie über gewissen Reichtum verfügt haben müssen. In Nordeuropa nahmen die Auseinandersetzungen zwischen immer stärkeren Bauern und König Harald Schönhaar zu, der in Norwegen ein Steuer- und Lehnsystem einführte, dem sich einige mächtige Männer nicht beugen wollten. Außerdem wuchs die Bevölkerung im 9. Jahrhundert in Nordeuropa sprunghaft an. Da zu dieser Zeit technische Fortschritte im Schiffbau erzielt wurden, eröffnete sich die Möglichkeit zur Seereise, von der die Wikinger Gebrauch machten, als sie von etwa 800 bis 1050 Gebiete in Schottland, Irland, Frankreich, England sowie Osteuropa und später auch in Südeuropa besetzten. Dabei kamen sie auch immer weiter nach Norden und siedelten erst auf den Färöer Inseln zwischen Norwegen und Island und schließlich in Island selbst. Um das Jahr 900 erreicht der Strom der Aussiedler seinen Höhepunkt, und mit einiger Sicherheit ist davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt etwa 20 000 Menschen in Island lebten. Insofern muss die Besiedlung Islands auch als typisches Phänomen einer Ära gesehen werden, die den Namen Wikingerzeitalter trägt.
So ist es nicht erstaunlich, dass die Isländer gern auf die Wikinger als ihre Vorfahren verweisen, doch ist dies wohl nur die halbe Wahrheit. Genetische Untersuchungen zeigen, dass zwar das Gros der männlichen Siedler aus dem skandinavischen, der Großteil der Frauen jedoch aus dem keltischen Raum kam. Das legt die Vermutung nahe, die Siedler hätten auf ihrer Überfahrt nach Island keltische Sklavinnen an Bord genommen oder aber zuerst keltisches Land erobert und/oder dort gesiedelt, bevor sie weiter nach Norden fuhren. Island musste zudem – im Gegensatz zu Irland und England – weder erobert noch später verteidigt werden, da es ja menschenleer war. Dennoch wird das Stereotyp des Wikingers gern bemüht, wenn die Isländer bei Spielen ihrer Fußball- oder Handballnationalmannschaft nicht