Die schönsten Heimatromane von Ludwig Ganghofer. Ludwig GanghoferЧитать онлайн книгу.
Teil ganz fremd gewesen, als treue Freunde für das Leben. Daraus möge sich jeder die Lehre ziehen, daß man eine Hilfe, wo man kann, auch immer leisten muß.
Wer hartherzig ist, schadet nur sich selbst. Wie leicht kann es ihm geschehen, daß er selbst in Not kommt, und wie würde es ihm dann ergehen, wenn andere Menschen ebenso hartherzig wären wie er selbst! Ist es denn nicht die schönste Freude, einem Hülfsbedürftigen beizuspringen? › Regina crede mihi
‹, so sagt schon der lateinische Dichter, › res est succurrere lapsis
‹, wahrlich, eine königliche Sache ist es, die Gestürzten wieder aufzurichten!«
Längst hatte Lo zu Ende gelesen, und noch immer blickte sie träumend auf die kleinen, mit steifer Sorgfalt gemalten Buchstaben. Da trat Mazegger in den Garten. »Guten Abend, Fräulein!« Die Erregung zerbrach ihm die Stimme. Er stellte Gewehr und Bergstock an die Hüttenwand, nahm den Hut ab und ging langsam auf den Tisch zu. Scheu, zwischen Hoffnung und Zweifel, hingen seine heißen Augen an dem Gesicht des Mädchens.
Betroffen hatte Lo das Heft geschlossen und erhob sich.
»Mazegger? Was suchen Sie bei mir?«
»Ein gutes Wort. Und Hilfe.«
Sie schwieg.
Den Hut zwischen den Fäusten zerknüllend, stieß er mühsam hervor: »Sie sind die Heilige fürs ganze Dorf und Tal. Jeder kommt zu Ihnen und nie umsonst. Ihre Herzensgüte ist ein Brunnen für jeden armen und durstigen Menschen. Und ich? Bin ich nicht auch ein Mensch? Dazu noch einer von den ganz elenden! Mir ist zumut wie einem, der sich in einer schiechen Wand verstiegen hat. Jeder Weg hat ein End. Und tief geht's hinunter. Da steht er und schreit. Und wenn er schon merkt: jetzt muß ich fallen – da hofft er noch allweil auf die gute Hand, die ihm helfen könnt!« Er sprach nicht weiter.
»Kommen Sie, Mazegger«, sagte Lo mit tiefem Ernst. Sie rückte in die Bank und bot ihm den Platz an ihrer Seite an. »Sagen Sie, was Sie mir sagen müssen. Hier sind wir allein. Mein Bruder ist drunten am See, sonst ist niemand in der Nähe.«
Wie eine Flamme schlug es über das Gesicht des Jägers. Eine Hoffnung war erwacht in ihm, und er stammelte: »Fräulein? Sie sind mir also nicht mehr bös?«
»Böse? Weshalb?«
»Wegen neulich?«
»Nein.
»Ich hab's auch bereut.« Mazegger hielt ihren Blick nicht aus und senkte die Augen. »Daß man von Ihnen ein gutes Wörtl in Güt erwartet, das hätt ich wissen müssen. Wie ein jähzorniger Bub hab ich mich benommen. Verzeihen Sie mir's, Fräulein?«
»Ja, Mazegger!« sagte sie freundlich, als hätte dieses Wort sie selbst von einem Alp erlöst.
Zögernd schob er den Hut auf den Tisch und setzte sich auf die Ecke der Bank.
»Sprechen Sie, Mazegger! Was macht Ihr Leben elend?«
»Daß Sie das verstehen, dazu müßt ich Ihnen viel erzählen. Darf ich?«
»Ja!«
Jedes Wort mußte er sich abringen, während er von seiner Heimat sprach, von aller Bitterkeit seiner Jugend. Als er sah, mit welcher Teilnahme Lo auf ihn hörte, schien es, als wäre eine Fessel in seiner Brust gesprungen, und in heißer Erregung floß ihm die Sprache von den Lippen.
Es war eine trübe Kinderzeit, von der Mazegger zu erzählen hatte. Und als er in das Alter kam, in dem die Knaben schon mit einer Zukunft zu rechnen beginnen, war vor seinen Füßen die Brücke niedergebrochen, die ihn hätte hinübertragen können zu einem freundlichen Leben. Seine Mutter, Carmè Luzzotti, war die Tochter eines italienischen Bahnarbeiters in einem Dorfe bei Trient. Als junges Mädel verlor sie die Eltern und wurde von einer Schwelle zur anderen gestoßen, bis sie ein Winkelchen im Haus des deutschen Lehrers fand. Der erbarmte sich der Verwaisten – weil sie jung und hübsch war. Zuerst diente sie bei ihm als Magd; dann nahm er sie zur Frau. Es war kein Glück in dieser Ehe; die beiden Menschen waren so verschieden voneinander wie ihre Sprache – und die Sprache, das war es auch, was immer zwischen ihnen lag wie eine Mauer. Damals begann, wie überall, auch in dem Südtiroler Dorf der nationale Hader. Von der Straße und aus der Gemeindestube schlich er sich in die Familien ein, auch in das Haus des Lehrers. Als Frau eines Deutschen blieb Carmè Mazegger die Italienerin mit ihrem »Wällisch«, das ihr eigener Sohn nicht reden sollte. Der sollte sprechen wie sein Vater, der ihm alles erlaubte, nur um ihn vom Herzen der Mutter wegzureißen. Dieser Hader ging immer über den Kopf des Knaben hin und her, und als er in die Jahre kam, um die häßlichen Worte zu verstehen, war es ihm selber lieb, daß man ihn fortschickte von daheim, nach Innsbruck auf die Gewerbeschule, mit vierzehn Jahren. In Innsbruck gefiel es ihm, da konnte er war sehen vom Leben und lernte Menschen kennen, die es gut haben in der Welt. Das weckte den Ehrgeiz in ihm. »Auch aus mir soll etwas werden, was Rechtes und Tüchtiges.« Aber vor lauter Wünschen kam er nicht recht zum Lernen. Am liebsten wäre er schon mit sechzehn Jahren gewesen, was andere, wenn sie Glück haben, mit dreißig werden. Und dann kam dieses Unglück zu Hause. Die italienische Schule wurde eröffnet und bald darauf die deutsche geschlossen. Das überlebte sein Vater nicht – er ging ins Wasser. Und die Mutter? Die wartete knapp ein halbes Jahr, und dann nahm sie einen anderen, einen, der ihre Sprache redete und mit dem sie sich verstand.
»Mit dem ist sie fortgegangen. Ob sie noch lebt oder ob sie schon gestorben ist, das weiß ich nicht. Mich hat eine Schwester meines Vaters ins Haus genommen, deren Mann in Leutasch draußen ein kleines Gütl hat. Die Schule habe ich aufgeben müssen. Und alles dazu! Leben und Glück!« Mazegger fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn. »Das Brot der Verwandten essen? Schlechteres kann über einen nicht kommen in der Welt. Da hab ich zuletzt noch froh sein müssen, daß ich den Posten als Jäger gefunden hab. Jetzt hab ich mein Auskommen, aber keine Ruh in mir! Allweil muß ich denken, was aus mir hätt werden können. Aber ich mein, es wär noch allweil nicht zu spät für mich. Das hab ich nie so fest geglaubt wie jetzt.« Seine Augen brannten, und seine Stimme wurde heiser. »Nur müßt ich wen haben, für den ich's tu. Das tät mich treiben, allweil höher hinauf, bis ich droben steh, wo ich sagen könnt: jetzt verdien ich mein Glück und kann's vergelten! Daß ich das fertig brächt? Ich glaub's von mir! Ich glaub's! Und Sie? Sagen Sie mir, daß Sie es auch glauben! Sagen Sie mir das, und alles bring ich fertig!«
Sie vermochte nicht gleich zu sprechen. Es schien ihr weh zu tun, daß sie ein Ja nicht sagen konnte, nicht sagen durfte. Sie sah in ihm nicht den Menschen mit dem leeren Wort von der eigenen Kraft, die nur eines winkenden Lohnes bedarf, um ein Wunder zu vollbringen. Was sie sah in ihm, war sein in die Irre geratenes Leben und war das Kind, das nie an der Brust einer Mutter sein Haupt geborgen hatte. Das Erbarmen redete aus ihrem Blick, als sie endlich Worte fand. Doch während sie ihm Mut einredete, ihn mahnte, sein Leben ruhiger zu betrachten und dankbar auch den bescheidenen Gewinn zu genießen, statt sich die Freude an ihm durch den Vergleich mit dem glücklicheren Los der anderen zu vergällen – während dieser Worte schien Mazegger nur zu sehen, nicht zu hören. Seine Augen erweiterten sich mit fieberhaftem Glanz, aus dem der Durst seiner Leidenschaft und zugleich ein Staunen sprach, als hätte er das Mädchen, nach dem seine Sinne zitterten, noch nie so schön gesehen wie in dieser Stunde. Solch einem Blick begegneten ihre Augen. Sie erhob sich erschrocken, so bleich, als hätte sie einen Schimpf erlitten, gegen den sie wehrlos war – als Weib.
Verstört sah Mazegger zu ihr auf. »Viel haben Sie geredet, Fräulein! Schier weiß ich selber nimmer, was es war. Aber ich hab genug verstanden.« Sein Mund verzerrte sich. »Was einer nicht hat, das kann er nicht geben.« Mit heiserem Lachen erhob er sich. »Wenn der Brunnen Ihrer Güt auch laufen tät wie ein Wetterbach – aber Lieb hergeben, wo man Lieb nicht hat?« Langsam trat er auf sie zu. »Kann man das? Oder kann's so kommen, daß man muß?«
Sie wich nicht zurück vor ihm. Aber als sie seine Augen sah, die wir mit Fäusten nach ihr griffen, rann es ihr doch mit kalter Angst durch die Glieder. Sie schrie den Namen des Bruders.
Mazegger lachte.
Mit dem Laut, den die Furcht ihr ausgepreßt, hatte sie die verlorene Ruhe wiedergefunden. »Zu sagen hab ich Ihnen nichts mehr. Aber ich hab noch eine Bitte an Sie, eine letzte.«