Die bedeutendsten Staatsmänner. Isabella AckerlЧитать онлайн книгу.
Vorsitzender der SPD, wohl auch um die innerparteiliche Opposition zu beruhigen. Zu seinem Nachfolger Helmut Schmidt pflegte er ein äußerst loyales Verhältnis, sympathisierte aber gleichzeitig mit dem linken Flügel der Partei, etwa in der Frage der Nachrüstung oder des Ausstiegs aus der Atomenergie. Nicht verhindern konnte er, dass die Grünen weiter Zulauf erhielten und ab 1983 im Bundestag vertreten waren.
1976 übernahm Willy Brandt den Vorsitz in der Sozialistischen Internationale, ein Jahr später präsidierte er auf Vorschlag des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers Robert McNamara eine Nord-Süd-Kommission, die Vorschläge zugunsten der Dritten Welt ausarbeiten sollte. Dadurch stieg Brandts Ansehen in der ganzen Welt.
Brandt war ein überzeugter Europäer, der stets für eine Erweiterung eintrat, vor allem die Beteiligung Großbritanniens an der Europäischen Wirtschaftsunion war ihm ein Herzensanliegen. Es erfüllte ihn mit Stolz, nach 1979 dem ersten direkt gewählten Europäischen Parlament anzugehören.
In den 1980er-Jahren reiste er viel, auch im Auftrag der Sozialistischen Internationale. 1984 besuchte er Kuba und Fidel Castro, traf sich mit Deng Xiaoping und Michail Gorbatschow. 1990/1991 versuchte er vergeblich, den Ausbruch des Golf-Krieges zu verhindern.
Einen privaten Neuanfang machte Brandt 1983, als er in dritter Ehe die Historikerin und Publizistin Brigitte Seebacher heiratete. Von 1941 bis 1948 war er mit Carlotta Thorkildsen verheiratet gewesen, aus dieser Ehe stammte eine Tochter. Aus seiner zweiten Ehe mit der verwitweten Rut Bergaust waren drei Söhne hervorgegangen.
Eine persönliche Genugtuung bedeuteten dem Altkanzler die Ereignisse des Jahres 1989. Schon im Spätsommer dieses Jahres hatte er gemeint, dass die Politik der »kleinen Schritte« überholt wäre und die Deutschen selbstverständlich zusammengehörten. Am 10. November erklärte er in Berlin angesichts des Falles der Mauer: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.«
1990 wiederholte er seine Reise nach Erfurt: Diesmal fuhr er in ein freies Land. Im selben Jahr wurde er nach den Wahlen Alterspräsident des deutschen Bundestages und nahm dort die Gelegenheit wahr, seinen Parteigenossen die Leviten zu lesen, vor allem in Richtung Oskar Lafontaine. Er ließ keinen Zweifel daran, dass es für ein geeintes Deutschland nur einen Regierungssitz geben könne, nämlich Berlin.
Brandts Leben umfasst das 20. Jahrhundert in all seinen politischen Höhen und Tiefen, als aktiver Politiker war er Kalter Krieger und Entspannungspolitiker, er war ein Mann, dem vieles glückte, der Entwicklungen intuitiv erfasste und seine Politik danach ausrichtete – nicht der große Theoretiker, der langfristige Konzepte verfolgte, sondern ein Politiker, der auch seinen Emotionen nachgab. Es war ihm vergönnt, einen wichtigen Beitrag zur Aushöhlung des kommunistischen Systems zu leisten, aber auch zur Aussöhnung der kritischen Jugend mit dem Deutschland der 70er- und 80er-Jahre.
Wirtschaft und Inneres waren nicht seine Politikfelder, seine Leidenschaft galt der Außenpolitik, eine Leidenschaft, die er mit seinem Freund, dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, teilte. Brandt war ein Mann der großen symbolischen Gesten, der einprägsamen Statements, wie: »Wir wollen mehr Demokratie wagen.« Das behielten die Menschen im Gedächtnis. Brandt engagierte sich, offerierte seinen Wählern Visionen, für die man sich begeistern konnte, auch wenn die Realität oft nachhinkte. Er war ein politischer Pragmatiker, der sich zu John F. Kennedys Grundsatz der »compassion« bekannte, wie er Kennedy überhaupt in vielem kopierte.
Werke (Auswahl)
Krieg in Norwegen (1942)
Norwegens Freiheitskampf 1940–1945 (1948)
Mein Weg nach Berlin (1960)
Begegnungen mit Kennedy (1964)
Friedenspolitik in Europa (1968)
Notizen zum Fall G.
Über den Tag hinaus (Erinnerungen 1974)
Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975 (1976)
Links und Frei. Mein Weg 1930–1950 (1982)
Der organisierte Wahnsinn. Wettrüsten und Welthunger (1985)
Erinnerungen (1989)
ARISTIDE BRIAND
Aristide Briand, der erste Staatsmann, der den Gedanken einer europäische Union aufgegriffen hatte, wurde als Sohn des Besitzers einer Hafenkneipe mit dem Namen »Croix Verte« in Nantes geboren. Er zeichnete sich als Schüler nicht durch hervorstechenden Fleiß aus, aber seine schnelle Auffassungsgabe und sein brillantes Gedächtnis ließen ihn für ein Studium geeignet erscheinen, mit dem er mit 16 Jahren im Lycée in Nantes begann. Dort lernte er den Schriftsteller Jules Verne kennen, der seine brillante Auffassungsgabe hoch schätzte und ihn in seinem Roman »Zwei Jahre Ferien« als Vorbild für seine Hauptfigur Briant nahm, einen Anführer von Jugendlichen, der sich durch Intelligenz und Wagemut auszeichnet.
1883 begann Briand in Paris als Werkstudent Jura zu studieren und ließ sich nach seinem Examen in Saint-Nazaire als Anwalt nieder. 1892 musste er die Stadt wegen eines Skandals – er war mit einer verheirateten Frau in einer angeblich strafbaren Situation erwischt und vor Gericht gestellt worden – verlassen und ging nach Paris. Das Urteil gegen ihn wurde jedoch vom Kassationsgerichtshof aufgehoben.
In der französischen Hauptstadt schrieb er für das antiklerikale Journal »La Lanterne« und für die linken Zeitschriften »Le Peuple« und »Petite République«, doch es war die Politik, die ihn faszinierte und für die er sich begeisterte. Sein großes Vorbild wurde der Gewerkschaftsführer Fernand Pelloutier, der als »Theoretiker des Generalstreiks« bezeichnet wurde. Briand profilierte sich als glänzender Redner bei sozialistischen Versammlungen, er machte sich einen Namen als Teilnehmer bei Kongressen. Der Parteidisziplin wollte er sich allerdings nicht unterwerfen, dazu war er ein zu unabhängiger Geist und auch kein tief überzeugter Marxist. Dreimal, nämlich 1889, 1893 und 1898, versuchte er bei den Wahlen einen Parlamentssitz zu gewinnen, doch jedes Mal vergeblich.
Als sich die verschiedenen sozialistischen Gruppen Frankreichs auf Drängen der Internationale in einer Partei einigten, gehörte er mit Jean Jaurès, mit dem er 1904 die Zeitschrift »L’Humanité« gründete, zu den Mitinitiatoren. Doch bald beschritt er einen anderen Weg, der ihn in die Führungsschicht der bürgerlichen Dritten Republik führen sollte.
1901 wurde er als Vertreter des Departements Loire zum Mitglied der französischen Nationalversammlung gewählt und fand in der Volksvertretung das für ihn ideale Forum, um seine Vorstellungen zu artikulieren. Er wurde ein glänzender Vertreter des parlamentarischen Diskurses.
Seine erste große Aufgabe war die Erstellung eines Berichts über eine Gesetzesvorlage zur Trennung von Staat und Kirche. Von konsequenten liberalen Vorstellungen beseelt, ging er an diesen Auftrag heran, weder die religiösen Gefühle der Bevölkerung noch die Freiheit der Kultusausübung sollten angetastet werden. Es gelang ihm, sowohl die Rechten als auch die Linken zu beschwichtigen. Damals nannte ihn sein Kollege in der Kammer, Maurice Barrès, ein »Monstrum an Elastizität«. Seine Stärken waren ein hoch entwickeltes diplomatisches Geschick und seine überzeugende Bereitschaft zum Interessensausgleich. Elfmal wurde er in der Folge zum Präsidenten der Kammer gewählt.
1906 wurde Briand erstmals ins Kabinett berufen, und zwar als Kultusminister, wo er bei der Handhabung des von ihm nachhaltig beeinflussten Gesetzes der Trennung von Staat und Kirche getreu seinen liberalen Vorstellungen handelte. In den folgenden Jahren wurde Briand 26-mal mit einem Regierungsamt betraut, 15-mal leitete er das auswärtige Ressort, elfmal stand er als Ministerpräsident an der Spitze des Kabinetts.
In den Kriegsjahren 1915 bis 1917 Ministerpräsident, forderte er als Kriegsziele Frankreichs die Annexion des Rheinlandes und des Saargebietes. Noch bis zur Londoner Konferenz von 1921, die sich mit den deutschen Reparationszahlungen befasste, hielt er an den Bestimmungen des Versailler Vertrages fest. Ein Jahr später wollte er eine Verständigungspolitik (rapprochement) mit Deutschland einleiten, doch Alexandre Millerand, damals Präsident der Republik,