Gesammelte Werke. Джек ЛондонЧитать онлайн книгу.
hatte ihren Entschluss gefasst. Die Stadt war kein Ort für sie und Billy, kein Ort für Leute, die sich liebten, oder für kleine Kinder. Deshalb gab es nur einen Ausweg. Sie mussten Oakland verlassen. Nur die Dummen blieben und beugten sich dem Schicksal. Aber sie und Billy waren nicht dumm. Sie wollten sich nicht beugen. Sie wollten fortwandern und dem Schicksal die Stirn bieten. Wohin, wusste sie nicht. Aber das kam schon. Die Welt war groß. Jenseits der Berge, die die Stadt umgaben, hinter dem Goldenen Tor fanden sie schon, was sie suchten. In einem hatte der Junge unrecht gehabt. Sie war nicht an Oakland gebunden, wenn sie auch verheiratet war. Die Welt stand ihr und Billy offen, wie sie den wandernden Geschlechtern vor ihr offen gestanden hatte. Überall blieben nur die Dummen zurück, wenn das Geschlecht auswanderte. Die Starken zogen weiter. Und sie und Billy gehörten zu den Starken. Sie wollten fortgehen, über die braunen Contra-Costa-Berge oder zum Goldenen Tor hinaus.
An dem Tage, ehe Billy aus dem Gefängnis entlassen werden sollte, traf Saxon ihre letzten bescheidenen Vorbereitungen für seinen Empfang. Sie hatte kein Geld, und wenn sie nicht entschlossen gewesen wäre, Billy nicht mehr auf diese Art zu kränken, so würde sie sich zehn Cent von Maggie Donahue geliehen haben, um mit der Fähre nach San Franzisko zu fahren und einige ihrer feinen Dinge zu verkaufen. Aber sie hatte doch jedenfalls Bratkartoffeln und gesalzenen Fisch im Hause, und nachmittags ging sie bei Ebbe hinaus und sammelte Muscheln zur Suppe. Sie las auch Treibholz auf, und es war neun Uhr abends, als sie mit einer Last Brennholz auf dem Rücken, einem kurzschaftigen Spaten in der einen und einem Eimer mit Muscheln in der anderen Hand aus den Sümpfen heimkam. An der Ecke wählte sie die dunklere Straßenseite und eilte über den erleuchteten Kreis, um nicht von der Nachbarschaft gesehen zu werden. Aber eine Frau kam ihr entgegen, sah sie hastig forschend an und blieb dann stehen. Es war Mary.
»Mein Gott, Saxon!« rief sie. »Steht es so schlimm?«
Saxon sah ihre alte Freundin forschend an, und im selben Augenblick sah sie die ganze Tragödie vor sich. Mary war schlanker, wenn ihre Wangen auch mehr Farbe hatten – eine Farbe, über die Saxon ihre Zweifel hatte. Marys kluge Augen waren schöner und größer – zu groß und fieberhaft klar, zu rastlos. Sie war gut gekleidet – zu gut, und sie war offenbar sehr nervös. Sie wandte furchtsam den Kopf, um in das Dunkel hinter sich zu spähen.
»Mein Gott!« sagte Saxon kaum hörbar. »Und du –« Sie presste die Lippen zusammen und fuhr dann fort: »Willst du nicht mit mir kommen?«
»Wenn du dich schämst, dich mit mir sehen zu lassen –« brach es aus Mary heraus, der der Zorn offenbar ebenso schnell kam wie früher.
»Nein, nein«, protestierte Saxon. »Es sind nur das Treibholz und die Muscheln. Ich will nicht, dass die Nachbarn das sehen. Komm.«
»Nein, ich kann nicht, Saxon. Ich möchte gern, aber ich kann nicht. Ich muss mit dem nächsten Zug nach San Franzisko zurück. Ich habe hier gewartet. Ich klopfte an deine Küchentür, aber es war überall dunkel. Billy sitzt immer noch, nicht wahr?«
»Ja, aber morgen kommt er heraus.«
»Ich las es in den Zeitungen«, sagte Mary und sah sich hastig um. »Ich war in Stockton, als es geschah.« Ein fast drohender Klang kam in ihre Stimme. »Du tadelst mich doch nicht deshalb, nicht wahr? Ich konnte nicht in die Plätterei zurück, nachdem ich verheiratet gewesen war. Ich war der Arbeit so überdrüssig. Ich war ganz herunter und bin ja auch eigentlich nie viel wert gewesen. Und wenn du wüsstest, wie ich die Plätterei hasste, ehe ich heiratete. Es ist eine dreckige Welt. Das glaubst du vielleicht nicht? Saxon, ich schwöre dir, dass du nicht ein Hundertstel von all den dreckigen Dingen ahnst, die es in der Welt gibt. Ach, ich wünschte, ich wäre tot – ich wünschte, ich wäre tot und weg von allem. Sag – nein, ich kann jetzt nicht! Ich höre den Zug bei Adeline pfeifen. Ich muss laufen, um mitzukommen. Aber ich komme –«
»Na, wirds bald?« ertönte plötzlich eine Männerstimme hinter ihnen.
Der Redende, der sieh bisher im Hintergrund gehalten, tauchte jetzt aus dem Dunkel auf. Er war kein Arbeiter, das sah Saxon gleich. Aber trotz seiner guten Kleidung stand er im Urteil der Welt doch weit tiefer als ein Arbeiter.
»Ich komme, warte nur eine Sekunde«, sagte Mary beruhigend.
Und aus dem Klang ihrer Stimme erkannte Saxon, dass sie den Mann fürchtete, der lichtscheu an der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit stand.
Mary wandte sich zu ihr.
»Ich muss gehen, lebe wohl!« sagte sie und tastete nach etwas, das sie in ihrem Handschuh hatte. Dann ergriff sie die Hand, die Saxon frei hatte, und Saxon fühlte, wie eine kleine warme Münze hereingesteckt wurde. Sie versuchte, Widerstand zu leisten, die andere zu zwingen, sie zurückzunehmen.
»Nein, nein«, flehte Mary. »Um unserer alten Freundschaft willen. Du kannst vielleicht auch einmal etwas für mich tun. Ich komme bald wieder. Lebewohl!«
Plötzlich umschlang sie Saxon und presste laut schluchzend ihr Gesicht an ihre Brust. Dann riss sie sich los, trat einen Schritt zurück und starrte in heftiger Bewegung Saxon an.
»Na, mach jetzt, mach jetzt«, ertönte die Stimme des Mannes gebieterisch aus dem Dunkel.
»Ach, Saxon«, schluchzte Mary, und im nächsten Augenblick war sie verschwunden.
Als Saxon ins Zimmer trat und die Lampe anzündete, sah sie das Geldstück. Es waren fünf Dollar – für sie ein Vermögen. Da dachte sie an Mary und den Mann, vor dem sie sich fürchtete. Das war wieder ein dunkler Punkt im Strafregister von Oakland. Auch Mary gehörte zu denen, die es vernichtet hatte. Sie lebten durchschnittlich nur fünf Jahre, hatte Saxon irgendwo gehört. Sie sah das Geldstück an und warf es in die Aufwasch. Als sie sich daran machte, die Muscheln zu säubern, hörte sie es in das Ablaufrohr klirren.
Es war der Gedanke an Billy, der Saxon am nächsten Morgen veranlasste, unter die Aufwasch zu kriechen, den Verschluss abzuschrauben und das Fünfdollarstück herauszufischen. Man bekam nicht gut zu essen in den Gefängnissen, und der Gedanke, Billy nach dreißigtägiger Gefangenenkost Muscheln und trockenes Brot vorzusetzen, war zu schrecklich. Sie wusste, dass er gern Butter auf dem Brot hatte, dicke Butter, und dass er gute, dicke Scheiben gebratenes Rindfleisch liebte, und dass er Kaffee liebte und ihn in großen Mengen trinken konnte.
Es war nach neun, als Billy kam, und sie hatte sich zu seinem Empfang ihre beste Hausbluse angezogen. Sie hielt nach ihm Ausschau, als er langsam herankam, und sie wäre ihm entgegengelaufen, hätte nicht eine kleine Schar von Nachbarkindern drüben auf der Straße ihm nachgestarrt. Aber die Tür öffnete sich, ehe er die Hand auf den Türgriff legte, und als er drinnen war, schloss er die Tür, indem er seinen Rücken dagegenstemmte, denn seine Arme hatten genug zu tun,